Versteckte Leben
Arno Schmidts "Nobodaddy's Kinder" in einer Neuauflage
Von André Schwarz
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseUnmittelbar bricht sich der Zweite Weltkrieg nur einmal seine Bahn: In der alptraumhaft-apokalyptischen, aber fiktiven Schilderung des alliierten Luftangriffes auf die Eibia-Munitionswerke in Arno Schmidts "Aus dem Leben eines Fauns" (1953). Die Gräuel des Nationalsozialismus finden sich in jenem Kurzroman ansonsten eher auf eine seltsame Weise ausgeblendet - zumindest auf den ersten Blick.
Die Ablehnung des Naziregimes und die Verachtung alles Militärischen schlägt sich bei dem Protagonisten - dem kleinen Beamten Heinrich Düring - eher in Desinteresse als in Widerstand nieder. "Mein Sohn prüfte mit wilder Freude seinen extralangen HJ-Dolch, was fallen will, das soll man auch noch stoßen", lautet einer seiner lakonischen Kommentare, und der Tod des Sohnes ruft bei ihm eher Ärger als Trauer hervor. Die Frau fällt dagegen aus allen Wolken und verflucht den "Führer". "Ich:", beteuert stattdessen Düring, "fühlte nichts! Man dürfte das ja eigentlich Niemanden sagen; aber Paul war mir ferner als ein Fremder".
Der Angestellte zieht sich zurück in eine Art innere Immigration. Der Wunsch nach einem Leben außerhalb der menschlichen Gesellschaft bestimmt die Sehnsucht des Ich-Erzählers. Das Leben um ihn herum aber nimmt Düring als leere und zunehmend unbedeutende Fassade wahr. Das 'richtige Leben' spielt sich für ihn nur in der Lektüre, im Durchforsten alter Unterlagen und schließlich in einer einsamen Waldhütte ab, die ein französischer Fahnenflüchtiger um 1800 errichtet hatte. Düring entdeckt und bestimmt sie zu seinem Zufluchtsort. Er selbst stilisiert sich mehr und mehr zum Deserteur, ist aber nicht nur auf der Flucht vor dem Militär, sondern auf der Flucht aus dem Leben schlechthin. Seine Welt bricht zusammen, als er die Hütte nach einer Nacht mit seiner jungen Geliebten, mit der er nach dem Bombenangriff in den Wald geflohen war, niederbrennen muss, um seine Entdeckung zu vermeiden.
Diese Flucht aus der menschlichen Gesellschaft ist auch konstituierend für die beiden anderen Teile der Trilogie "Nobodaddy's Kinder". In beiden Fällen, in "Brands Haide" und in "Schwarze Spiegel" (beide 1951), sind die Protagonisten Überlebende einer Katastrophe. Der Flüchtling Schmidt in "Brands Haide", gerade aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, versucht sich neu im Leben einzurichten, seine Existenz zu sichern und dem alltäglichen Mangel die Stirn zu bieten. Er verliebt sich in Lore, zeigt sich aber nur kurz erschüttert, als diese ihn zugunsten eines reichen Mannes in Mexiko verlässt und auswandert.
Er ist zwar nicht mit Düring gleichzusetzen, aber ein Geistesverwandter ist er zweifelsohne. Der Beamte wird in "Brand's Haide" zum Schriftsteller, aber sonst ändert sich wenig. Auch er findet seine Erfüllung im Elfenbeinturm der Literatur, arbeitet geradezu besessen an seiner Fouqué-Biografie (die der reale Autor Arno Schmidt selbst geschrieben hat). Auch er zeigt ein erstaunliches Desinteresse an seiner Umwelt: Schon kurz nach der dramatischen Verabschiedung von Lore scheint seine einzige Sorge eine neue Schreibfeder zu sein, die er dringend erwerben muss - der Faun als buchhalterischer Pedant.
Ein gänzlicher - wenn auch hier nicht ganz freiwilliger - Rückzug aus der Gesellschaft prägt Schmidts Dystopie "Schwarze Spiegel". Der Erzähler schweift durch eine menschenleere, nach einem Atomkrieg verwaiste Welt, die ohne Eingriffe des Menschen wieder zu einer idealisierten, reinen Natur wird, die Spuren der Zivilisation hinter sich lässt und zum Urzustand zurückstrebt. Der Verlust der Mitmenschen wird von diesem Protagonisten überhaupt nicht groß betrauert. Vielmehr ergeht er sich in philosophisch-künstlerischen Betrachtungen, schüttet Spott über von ihm abgelehnte Schriftsteller aus (der polemische "Brief" an Klopstock - "Anbei den Messias zurück" - sucht seinesgleichen) und stellt fest: "- ach, es war doch gut, daß alle weg waren."
In seiner selbst errichteten Hütte baut er sich eine Bibliothek auf und führt Tagebuch. Auch hier gibt es eine Begegnung mit einer Frau, eine kurze Zeit lebt er mit ihr zusammen, die sich anbahnende Idylle wird durch den Abschied jedoch wieder jäh unterbrochen - und die Zeit der Trauer hält sich abermals in Grenzen.
Drei Leben, die erstaunliche Ähnlichkeiten haben, in denen sich aber die zunächst in "Das Leben eines Fauns" und "Brand's Haide" vermutete Verdrängung des Nationalsozialismus bei genauerem Hinsehen mehr und mehr als unvollständig erweist. Immer wird der historische Hintergrund sichtbar und steht als Subtext unter den lautstark vorgetragenen Selbstilisierungen, die das Leben der Protagonisten kennzeichnen. So sehr sie die Flucht aus der Gesellschaft versuchen, so unaufhaltsam werden sie von ihr, zumindest in Teilen, wieder eingeholt.
Die Suhrkamp-Neuausgabe der drei erstmals 1963 im Rowohlt Verlag unter dem Titel "Nobodaddy's Kinder" versammelten Romane wartet darüber hinaus mit einen Nachwort von Ulrich Treichel auf, das für den Schmidt-Neuling durchaus erhellend sein kann und einige nicht unwichtige Ideen und Denkanstöße vereint. Für die Schmidt-Fangemeinde hingegen, deren es zahllose Vertreter gibt, bringt das Nachwort nur wenig Neues.
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