Die Illustration eines wohlbegründeten Kirchenaustritts

Burkhard Müllers "Kritik des Christentums" zieht keinen "Schlussstrich", gibt aber den Glaubenden zu denken

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mose war 40 Tage auf dem Berg, Jesus 40 Tage in der Wüste und Burkhard Müller legt 40 Thesen zum Christentum vor, mit denen er einen "Schlussstrich" unter eine fast 2000 Jahre alte religiöse Bewegung ziehen will, der sich jeder dritte lebende Mensch mehr oder weniger zugehörig fühlt. Einerseits ist es wohl etwas eitel, der Öffentlichkeit die Gründe für die Abkehr vom Glauben mitzuteilen, aber andererseits ist Burkhard Müller endlich mal jemand, der nicht "wegen der Steuer" aus der Kirche austritt. Man spürt in jedem Satz, dass sich der Verfasser aus tiefster Überzeugung vom Christentum abgewendet hat und mit der tiefschürfenden Analyse der vermeintlichen Grundfehler christlicher Überzeugung ernst genommen werden möchte. Aber auch nicht zu ernst, denn für eine theologische Auseinandersetzung fehlt ihm dann doch die Zeit und auch die Lust, wie er freimütig bekennt. Mit den gut situierten Theologen von der Uni zu streiten, lehnt er jedenfalls ab. Schade!

Ausgangspunkt der Kritik des Verfassers ist die Verwunderung über den christlichen Glauben und die Frage, warum Christen trotz gegenteiliger Glaubensinhalte zumeist wenig erlöst und fröhlich wirken. Abgesehen davon, dass sich Freude unterschiedlich zeigen kann, nicht nur in lautem, sicht- und hörbaren Jubel, sei die Frage erlaubt, ob die Verwunderung angesichts einer solchen extrovertierten Verzückung nicht noch eine viel größere wäre. Der Verfasser verkennt, dass auch wenn das Heil in potentia im Menschen angelegt ist und sogar als Erwartungshaltung seine Religiosität prägen kann, es sich nicht als Erfahrung aktualisiert, weil es eben noch nicht so weit ist. Selbst Jesus erscheint als der Trauernde, der Wütende, der Verlassene, der Verzweifelte. Kurz vor seinem Tod zeigt er - obwohl er doch um dessen Heilsnotwendigkeit weiß - allzumenschliche Gefühle, die in den Augenblick gehören. Warum sollten Christen also eine unmenschliche Dauerfreude ausstrahlen? Auch wenn die Freude - im Gegensatz zur Lust - das bestimmende Lebensgefühl des Christen sein sollte, ist sie manchmal von Ängsten und Sorgen verschüttet.

Müller rügt sodann den Schritt vom irdischen "Sozialnutzen" des Dekalogs hin zum - seiner Ansicht nach berechnenden - Transzendenzbezug des Evangeliums-Ethos' ("Im Neuen Testament ist die sittliche Forderung ausnahmslos an die Verheißung gebunden." - "[...] eine unbelohnte Sittlichkeit ist dem Neuen Testament unvorstellbar."). Ist am Ende das christliche Ethos nichts Edles, sondern eine Kalkulation, die das Glück des himmlischen Lohns zu maximieren sucht? Das widerspricht der christlichen Vorstellung von der menschlichen Natur, in der Glücksstreben und Gebotstreue zusammenfallen, weil der Christ in der Gebotserfüllung zugleich die Maximierung seines Glücks erkennt, da die Gebote von dem kommen, der ihn selig macht: von Gott. In dieser Einsicht wirkt der Christ zuerst (unabhängig von der Belohnung) durch die Liebe, die er von Gott zu erhalten glaubt. Er muss sich dabei auch an die Gebote halten, wenn er keinen Vorteil daraus zieht (das Gleichnis der Arbeiter im Weinberg weist in diese Richtung). Wer nicht zuerst aus Liebe zu Gott, sondern primär des Lohnes wegen Gutes tut, handelt im Rahmen der christlichen Ethik nicht moralisch. Haupt- und Nebenmotivation als handlungsleitende Ursachen werden vom Verfasser verdreht.

Der wichtigste Begriff der christlichen Ethik ist also die Liebe. Diesem Konzept nimmt sich Müller denn auch intensiv an, um festzustellen, dass man ein spontanes Gefühl für die oder den Einen nicht zu einer Tugend in Bezug auf den Umgang mit allen Menschen machen könne. Hier sei der Leserin und dem Leser empfohlen, die jüngste Enzyklika Papst Benedikts XVI. (Deus caritas est, 2005) vergleichend hinzuzuziehen, um den Missverständnissen des Verfassers auf die Spur zu kommen, der offenbar Liebe nur als Eros beziehungsweise Amor versteht und die Agape und Caritas ausklammert. Doch Liebe ist beides: Eros, die aufsteigende Liebe, und Agape, die absteigende Liebe. Der christliche Eros - als Gefühl - richtet sich in der Tat nur auf das Eine als das zu bevorzugende Besondere (nämlich auf Gott), die Agape - als Tugend - auf alle, die hinter Gott stehen als seine geschöpflichen Abbilder, die Menschen. So ist "Liebe Deinen Nächsten" als universalistisch zu verstehende Mahnung (und nicht als "Befehl") zu verstehen, soweit sie eben die Agape beziehungsweise Caritas meint, die Barmherzigkeit.

Schließlich widmet sich Müller dem "innersten Kern des christlichen Glaubens", der Auferstehung. Hier wird deutlich: Man kann mit den Geheimnissen des Glaubens nicht umgehen wie mit Indizien in einem Kriminalfall. Das Christentum ist kein Puzzle, dessen Einzelteile ein stimmiges Bild ergeben, sondern es beinhaltet Rätsel und Paradoxien, die der Mensch nicht auflösen kann. Warum Gott die Welt erschaffen hat und seinen Sohn auf die Erde entsendet, kann sich letztlich nur dem erweisen, der schon voraussetzt, was er erfahren will: das soteriologische Prinzip des Bundes von Gott und Mensch. Für einen Nicht-Gläubigen muss dieser Zirkel jedoch inakzeptabel sein.

Der Verfasser hat Recht: Es ist unbegreiflich, was die Evangelien über die Tage nach der Hinrichtung Jesu berichten. Ostern kann man nicht verstehen, die Botschaft von der Auferstehung schreit nach einer natürlichen Erklärung. Der Christ behilft sich mit der Keule "Für Gott ist alles möglich", dem christlichen Philosophen hilft Tertulian: Credo quia absurdum est. Müller jedoch legt den Maßstab menschlicher Reflexion auf Kausalitäten und Plausibilitäten an, den er auch der Kirche anzulegen unterstellt. Sie habe den Umschlag vom "geschichtlichen Individuum" im Diesseits durch die "hypergeschichtliche Ewigkeit" des Jenseits in den Tod "verlegt" und zu diesem Zweck "die Unsterblichkeit der Seele eingeführt". Jesu Tod und Auferstehung sei der "Präzedenzfall" gewesen, wo der "Bruch von Geschichte und Erlösung sich nicht ganz so säuberlich vollzogen hat, sondern die Erlösung noch ein wenig in die geschichtliche Welt hinübergelappt ist", was der Kirche Chance und Herausforderung zugleich sei: "Es muß um jeden Preis die Auferstehung Christi als ein historisches Faktum beglaubigt werden."

Dafür schreckt die junge Gemeinde vor nichts zurück: Fakten werden verdreht, Zeugen werden erfunden und der von Müller unterstellte Diebstahl des Leichnams Jesu durch seine Jünger wird als Gerücht der Juden verschleiert - fertig ist die Legende! Man mag davon halten, was man will - auch Müllers Deutung ist dogmatisch -, gänzlich verfehlt ist dann aber Müllers direkter Schluss von der Auferstehung Jesu auf den Glauben an die eigene Auferstehung ("Stutzig macht vor allem, daß dieser einzige Fall, wo die verklärte Leiche sichtbar noch ein kleines Weilchen - ein längerer Urlaub, vierzig Tage - im Lichte der Geschichte gewandelt ist, die Gewißheit geben soll, daß alle (gläubigen) Menschen dereinst ebenso über ihren geschichtlichen Tod triumphieren werden [...]", Hervorhebung im Original), ohne dabei die zahlreichen Bibelworte zu berücksichtigen, die demjenigen, der die Nachfolge Jesu antritt, das gleiche Können, Wissen und Erfahren sowie die gleiche Vollendung in Aussicht stellen. Nur die Verbindung dieser Verheißung mit der (bisher) einzigen Auferstehung als geglaubte historische Begebenheit gibt dem Christen die besagte Gewissheit.

Es ist zwar nicht nötig, mit wissenschaftlicher Akribie an die offenen Fragen heranzugehen, was Müller auch, wie bereits erwähnt, aus Zeitgründen ablehnt, und es klingt grundsätzlich erst mal ganz gut, wenn der Verfasser sich zum Ende der Abhandlung gegen Kritik insoweit immunisiert, als dass er "eventuelle sachliche Mängel von vornherein für heilbar" erklärt - das muss man sich merken! -, aber einige kritikwürdige Mängel, die direkt mit theologischen Sachfragen in Verbindung stehen, sind dann doch augenfällig; hier seien nur die beiden genannt, die am sinnentstellendsten scheinen. 1. Der Gottesname wird allein tautologisch ("Ich bin der ich bin", nach Ex 3, 14) verstanden. Ausgeblendet wird der Gott, der in Kontakt tritt, der sich als Begleiter erweist, der zur Seite steht, der "Ich bin da" (Einheitsübersetzung) und der "Ich werde sein" (Luther). So bleibt Gott unnahbar und Müllers Bekenntnis in dieser Logik absolut folgerichtig: "So groß ist meine Scheu vor dem in meiner Seele verborgenen Seligen, dem Gott, daß ich mich ihm nicht einmal verehrend und hoffend zu nähern wage, sondern es für die einzige angemessene, das heißt fromme Verhaltensweise erachte, mich von ihm so weit zu halten nicht wie ein Heide, sondern wie ein Tier." Dies ist aber falsch, weil der Gott der Bibel den Kontakt sucht und Hilfe anbietet. 2. Die Menschwerdung Christi wird untheologisch depotenziert auf eine Rettungsoption Gottes, die nicht - hic et nunc - funktioniert hat. Müller verlangt zur Bestätigung des guten göttlichen Willens und seiner Offenbarungsbereitschaft stellvertretend für den zweifelnden Menschen nach größeren Zeichen ("Warum aber hat Gott sich in der Geschichte nicht deutlicher erklärt und ihr sein Zeichen nicht unmissverständlicher aufgeprägt als in diesem Tapetentürlein zur Transzendenz, dessen Kontur sich ganz im umliegenden flachen Muster der Tapete zu verlieren droht?"), was die Frage aufwirft, welches Zeichen denn hinreichend zur Beseitigung des Zweifels wäre. Hier verkennt der Verfasser, dass es ja gerade das Wesen des Glaubens ist, nichts mit absoluter Bestimmtheit zu wissen und sich auf ein Wagnis einzulassen. Und wenn der Verfasser fragt: "Wenn Gott in die geschichtliche Welt eingreifen und dadurch in ihr eine von ihr absolut verschiedene Qualität zur Wirksamkeit bringen wollte, warum dann hat er bei den Mitteln zur Durchführung seiner Absicht so sehr geknausert?", dann hört sich das reichlich vermessen an. Solche Fragen richtet das Volk zu Recht an schlampige staatliche Behörden, die dazu bestellt sind und aus Steuermitteln gerade dafür bezahlt werden, nicht zu schlampen. Aber der Mensch richtet diese Frage - so verständlich sie ist - unberechtigter Weise an Gott.

Wir haben keine Ansprüche an Gott, Gott gibt es nicht, er ist. Die Rechtfertigung Gottes vor der Vernunft des Menschen, von Epikur erstmals formuliert, von Leibniz auf die Spitze getrieben und von Voltaire verspottet, kann nicht gelingen, weil eben jene menschliche Vernunft als Reflexionsfläche zu klein ist (Kant). Gottes Verhalten und Verhältnis zum Menschen bleibt eine Frage des Glaubens, die nicht für eine verstandesmäßige Analyse reformuliert werden kann, wie der Verfasser dies tut.

Dennoch legt Burkhard Müller insgesamt ein unterhaltsames Buch vor, dessen poetisch-metaphorischer Stil in seinem spöttischen Duktus manchmal etwas oberflächlich erscheint, was - ebenso wie die Tatsache, dass der Verfasser auf einen wissenschaftlichen Apparat verzichtet - die Grundaussagen angreifbar macht. Doch Müller will plastisch und verständlich schreiben und die Leserinnen und Leser nicht mit Fachjargon verschrecken, was ihm auch gut gelingt. Unangenehm ist jedoch, dass der Verfasser an einigen Stellen mit Hypothesen arbeitet, die die eigene Argumentation auf unlautere Weise stützen ("Gesetzt den Fall, es tauchten irgendwo neue Qumran-Rollen oder ähnliches auf, aus denen zweifelsfrei hervorginge, dass Jesus von Nazareth nicht unter Pontius Pilatus gekreuzigt wurde, sondern beispielsweise im Alter von 60 Jahren in einem Essener-Kloster starb, oder noch nicht einmal das, sondern bloß daß er den Tod statt unter Pontius Pilatus unter Herodes Tetrachos fand - was wird dann aus dem Credo?" [Hervorhebung vom Rezensenten]). Ja, was dann? - Das ist leider ein Niveau, auf dem eine Diskussion schwer fällt, denn unter bestimmten Prämissen kann alles gelten und eine Verteidigung wird unmöglich.

Das Motto aus dem Faust - "Man muß dran glauben." - hat der Verfasser für sein Buch unterdessen gut gewählt, zeigt sich doch, dass der Glaube allein den passenden Schlüssel bereit hält, um das Geheimnis göttlicher Offenbarung zu erschließen. Dass dieses "Geheimnis des Glaubens" den Verfasser stört, und mit ihm viele, die sich nach einer vollständigen Durchdringung aller Welträtsel mit Hilfe der Kraft menschlichen Denkens sehnen, ist klar und verständlich. Und es ist nur konsequent, dass sie sich vom Glauben angesichts dieses immanenten Geheimnisses abwenden. Allein: Ein wirklich überzeugender Schlussstrich sieht anders aus.


Titelbild

Burkhard Müller: Schlussstrich. Kritik des Christentums.
zu Klampen Verlag, Springe 2006.
87 Seiten, 9,80 EUR.
ISBN-10: 3934920411

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