Liebesarten-Projekt
Irene Disches erfrischender und berührender Erzählband "Loves - Lieben" ist ein bunter Reigen über ein altes Gefühl
Von Bernhard Walcher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Gefühl ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst und unzählige Male in allen nur erdenklichen Varianten beschrieben, nein: gepriesen und verdammt, verherrlicht und verteufelt worden: die Liebe. Von Ovid ("omnia vincit amor") über Paulus ("Für jetzt bleiben Glaube, Liebe, Hoffnung - am höchsten aber steht die Liebe") bis hin zu Thomas Mann ("Die Krankheit zum Tode") hat die Liebe die Dichter wie die Theologen und Gelehrten inspiriert, umgetrieben und gebannt, wie es keine andere menschliche Empfindung je vermocht hätte, denn die Liebe ist 'All-umfassend'.
Von dieser Vielfalt der Liebe handeln auch die Geschichten der 1953 in New York geborenen und heute in Berlin und in den USA lebenden Irene Dische. Nach ihrem fulminanten Romanerfolg "Großmama packt aus" (2005), in dem sie mit erfrischendem erzählerischen Raffinement die ebenso tiefsinnige wie tragikomische Geschichte ihrer jüdischen Familie von der Flucht aus Deutschland bis zum schwierigen Neuanfang in Amerika erzählt, widmet sich die Autorin nun der vielleicht amerikanischsten aller Erzählgattungen, der Kurzgeschichte, wenngleich es sich hier nicht durchweg um Short-Stories im klassischen - Hemingway'schen - Sinne handelt.
Es ist bekannt, dass Bände mit Erzählungen auf dem deutschen Buchmarkt nicht gerade Verkaufsschlager werden und gegenwärtig ohnehin die epischen Schwergewichte der amerikanischen Literatur wie Jeffrey Eugenides, Jonathan Franzen oder Richard Powers - zurecht - besonders erfolgreich sind, weshalb um so mehr zu wünschen ist, daß "Lieben" eine große Leserschaft finden möge.
Denn der in zwölf Geschichten eingeteilte Band gewinnt als geschlossener Zyklus in der Darstellung ganz unterschiedlicher Liebesarten von der unaufrichtigen, verpassten, verlogenen, träumerischen, bedingungslosen, zärtlichen Liebe bis hin zur Vaterlandsliebe, Ahnenliebe, Sohnesliebe, der Liebe zu Haustieren, den Eltern, dem eigenen Ego und Materiellem wahrhaft epische Dimensionen.
Abwechslungsreich und heiter werden die Untiefen und Höhenflüge von Liebesbeziehungen in ganz unterschiedlichen sozialen Handlungsräumen und vor dem Hintergrund verschiedener Kultur- und Glaubenskreise ausgelotet. Die einprägsame Originalität der Geschichten resultiert dabei zu einem guten Teil aus der großen Bandbreite der eingesetzten erzählerischen Techniken, die neben dem thematischen Reichtum die Anlage des Zyklus' als polyphone Komposition mit verschiedenen Stilhöhen zusätzlich unterstreichen. So werden etwa in der Geschichte "Die Decke" aus der Perspektive einer Frau deren Gedanken beim Beischlaf mit ihrem Mann beschrieben, wie sie immerzu an die Decke starrt, um dort einen Riss zu fixieren, dem sie den Namen ihrer großen Liebe, Max, gegeben hat, der gleichsam zum einzigen Halt und letzten, illusorischen Hoffnung in der scheinbar heilen Welt ihrer Ehe wird.
Ob es um die Lebens- und Liebesgeschichte eines Hundes ("Ein deutscher Abenteurer") vor dem Hintergrund der Wendezeit in Deutschland und des Balkankrieges in den neunziger Jahren geht, um einen religiös motivierten Mord in "Wie Huseyn gefasst wurde", um tyrannische Eltern in "Liebe Mom, lieber Dad" oder um einen Pakt mit dem Teufel für einen schöneren Körper in "Fährnisse der Schönheit": meisterhaft versteht es die Autorin, durch eine Balance zwischen komprimierter und gedehnter Zeitdarstellung in wenigen Sätzen die Erfahrungshorizonte und Wahrnehmungsweisen der Protagonisten, die Tragweite und Tragik, das Koordinatensystem einer ganzen Liebe, ja: eines ganzen Lebens zu umreißen.
In "Scarlattis Reinkarnation in Reno" wird von einer Ich-Erzählerin nicht nur ihre Liebe zu ihrem Türsteher-Kollegen Ambrose beschrieben: "Sein Teint glich dem Herbst in Neuengland, er hatte rostrotes Haar, graue Augen und den Wuchs und die Anmut eines mittelgroßen Ahornbaumes. Ich bekam schon Heimweh, wenn ich ihn bloß ansah." Nebenbei entsteht auch noch ein subtiles Charakterporträt eines begabten, aber verträumten jungen Pianisten und seiner Hingabe an die Musik - denn eigentlich hat Ambrose das Konservatorium besucht und war die Hoffnung seiner Eltern - der nur einmal und durch Zufall einen großen Auftritt haben darf, der eindrucksvoll beschrieben wird: "Er schleuderte das rechte Knie unter dem Flügel hervor und ging mit einer schlichten, schönen Melodie auf eine lange musikalische Reise. Nachdem sie durch fremde bekannte Klänge geführt hatte, in Sackgassen abgezweigt und dann ganz woanders wieder zum Vorschein gekommen war, als es mit einem Wort so schien, als sei er zweimal ins Paradies gereist, nur um nach Hause zurückzueilen, da war er wieder zurück bei seiner ursprünglichen Melodie."
Durch die Zuordnung der Geschichten in "traurige" und "glückliche Enden" wird zudem eine Spannung erzeugt, die geschickt mit den Lesererwartungen spielt, der immer auf den Moment wartet, wo sich das Blatt vom scheinbar Positiven zum Negativen wendet oder umgekehrt.
Gerade darin liegt auch die Stärke der Geschichten mit happy end, die sich, anders als man befürchten könnte, nicht in der Schilderung idyllischer und selbstzufriedener Zweisamkeit erschöpfen. Vielmehr steht im Zentrum dieser Erzählungen die scheinbare Bruchstelle einer Beziehung, die die Protagonisten erst wieder auf ihr Glück aufmerksam macht.
Bei einer Sammlung von Erzählungen unter dem Titel "Lieben" - freilich ist der deutsche Plural ungewohnt und klingt eher nach der Infinitiv- oder Imperativform, weshalb der amerikanische Originaltitel wohl auch als Untertitel integriert wurde - fällt doch auf, wie selten das Wort "Liebe" in den Geschichten überhaupt vorkommt. Ob mit glücklichem oder traurigem Ende, die Liebe erscheint in diesen Erzählungen weniger als verbaler Schlagabtausch zwischen Treueformeln und Zurückweisungen, sondern manifestiert sich zum einen in Handlungen mit handfesten Konsequenzen oder - für den anderen im verborgenen - als mentale Gedankenspielerei. Kein Wunder, dass alle Erzählungen ohne den - vielleicht hauptsächlich im Deutschen - schwierigsten Satz auskommen: Ich liebe Dich.
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