Von den Möglichkeiten des Lebens

Ein von Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann herausgegebener Sammelband beleuchtet Themen und Formen, Medien und Funktionen essayistischen Denkens und Schreibens um 1900

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Beiträge des von Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann herausgegebenen Sammelbands gehen auf eine Tagung des Interdisziplinären Forums Kulturwissenschaften (IFK) zurück, die vom 15. bis 17. Januar 2004 in Wien stattfand. Diskutiert werden die Jahrzehnte um 1900 als "die eigentliche Blütezeit der Essayistik" in der deutschen und europäischen Geistesgeschichte. Die insgesamt vierzehn Aufsätze mit einem einleitenden Vorwort der beiden Herausgeber beschäftigen sich mit dem interdiskursiven Status des Essays, den Diskursmedien der Essayistik um 1900, der naturwissenschaftlichen, gesellschaftswissenschaftlichen und kulturkritischen Essayistik der Jahrhundertwende, essayistischem Denken und Schreiben im Werk kanonischer Autoren (Wissenschaftler, Journalisten, Philosophen und Literaten) des Fin de Siècle sowie den Zusammenhängen von essayistischer Perspektivität und einer spezifischen Reflexivität der Moderne.

Die Forschung habe bislang versäumt, so die Herausgeber einführend, die Essayistik der Zeit um 1900 gezielt zu untersuchen. Dieses Defizit schlage sich beispielsweise in den literaturgeschichtlichen Epochendarstellungen nieder, die die Essayistik weiterhin lediglich als ein Randphänomen behandelten. Lediglich die Essays einzelner Autoren, die zum Kanon gehörten, seien eingehender erforscht worden, ohne dass dabei allerdings der Zusammenhang mit der allgemeinen Entwicklung der Essayistik jenes Zeitraums umrissen worden sei. Fast vollständig sei ausgeblendet worden, dass die Essayistik der Jahrhundertwende hauptsächlich von bestimmten, zwischen Wissenschaft, Publizistik und Literatur angesiedelten Autoren (Intellektuellen), Medien (Zeitschriften) und Institutionen (Bildungsgesellschaften und -akademien) der gesellschaftlichen Öffentlichkeit getragen worden sei. So seien auch die wissens- und kultursoziologischen Funktionen der Essayistik um 1900 nicht beleuchtet worden, die mit der so häufig beklagten "Zersplitterung des modernen Lebens" und der angestrebten "Einheit der Kultur" verquickt sei.

Braungart und Kauffmann konzedieren, dass die bisherige Forschung zur Essayistik eine historische Fokussierung und eine damit einhergehende Differenzierung vermissen lasse. Dass sowohl die früheren Arbeiten zum Essay als auch die späteren Studien zum Essayismus unbefriedigend geblieben seien, liege nicht zuletzt darin begründet, dass keine historische Eingrenzung erfolgt sei.

Den angeführten Desiderata versucht der Sammelband abzuhelfen, indem er den engen Zeitraum um 1900 "absteckt", um die spezifischen Themen und Formen, Medien und Funktionen des essayistischen Denkens und Redens "hinreichend genau" zu bestimmen. Untersucht werden sollen die Medien der Öffentlichkeit und die Strukturen der Gesellschaft, die den Artikulations- und Aktionsraum der Essayistik bildeten.

Die Essayistik als ein "Interdiskurs", der die diskursive Ordnung der Worte und Dinge (Michel Foucault) durchkreuzt und die funktionale Stratifizierung der gesellschaftlichen Systeme in Neuzeit und Moderne (Niklas Luhmann) aufzuheben versucht, um neue Sinn-Konfigurationen herzustellen, erprobt verschiedene Denk-, Rede- und Schreibverfahren, um Wissensdisziplinen und Lebensformen in einen (Sinn)Zusammenhang zu bringen - wobei sowohl disziplinäre Grenzziehungen wie auch gesellschaftliche Arbeitsteilungen bewusst unterlaufen und desavouiert werden.

Der Essay - wobei "Essay" als eine Literaturgattung beziehunsweise als "geschlossene Kunstform" (Erich Rohner), "Essayismus" als ein spezifischer "Modus der Erkenntnis" (Müller-Funk), als ein spezieller Denkstil, dem ein experimentierendes Schreiben korrespondiert, zu denken sei - hat seinen (ortlosen) Ort in einem diffusen Zwischenraum, was seinen inter-diskursiven Status ausmacht: Zwischen "sowohl als auch" und "weder noch" situiert sich der Essay beziehunsweise essayistisches Denken und Schreiben; mitten in einem facettenreichen, spannungs- und beziehungsvollen Feld, das sich durch Binäroppositionen wie "Wissenschaft vs. Kunst", "Logik vs. Intuition", "Begriff vs. Bild", "ethisch vs. ästhetisch" gekennzeichnet sieht.

Rolf Parr geht in seinem Beitrag diesem problematischen Status des Essays nach - seinem Changieren, seinem Schwebezustand "zwischen Wissen und Zweifel" - und versucht, den Essay aus "interdiskurstheoretischer Perspektive" zu bestimmen. Parrs Ausgangsthese lautet, dass der Essay als literarische Form ein eminent interdiskursives, einzelne Spezial- und Interdiskurse auf vielfältige Weise verbindendes Genre - und der Essayismus ein ebensolches Schreibverfahren - darstellt. Die spezifische Interdiskursivität der Textsorte "Essay" lasse sich theoretisch in Abgrenzung zur Interdiskursivität anderer literarischer Gattungen und Genres und zur generellen Interdiskursivität von Literatur einerseits, in Abgrenzung zu Wissenschaft und "harter", logisch-analytischer, mit strenger Begrifflichkeit arbeitender Philosophie andererseits fassen.

Der begrifflich hoch aufgerüstete und die Leselust partiell auf eine harte Probe stellende Aufsatz beschreibt Interdiskurse als "eine Art Reservoir von Anschauungsformen für die [...] kompensatorisch-interdiskursiven Codierungen spezialdiskursiver Sachverhalte, aktueller Ereignisse, aber auch von Alltagserfahrungen". Die Interdiskursivität von Essay und Essayismus liege in der Integration von Spezial- und Interdiskursen mit Richtung auf Integration und Wissenssynthese begründet. Essays beziehungsweise essayistische Schreibweisen, so Parr, zeichneten sich dadurch aus, dass sie sowohl "ungebrochen spezialdiskursives Diskursmaterial" als auch "hochgradig interdiskursives, insbesondere literarisches Diskursmaterial" zugleich verarbeiteten, wodurch auf Eindeutigkeit zielende wissenschaftliche Passagen auf polyseme und mehrfach anschließbare literarische Elemente träfen - mithin Spezialdiskurse auf Interdiskurse. Der Essay realisiere dabei manche Übergänge, auch in Form gewollter Brüche, etwa wenn innerhalb eines Essays mehrmals mit neuen Denkbewegungen angesetzt werde, so dass "interdiskursive Brückenschläge" lediglich für den Augenblick Gültigkeit hätten und häufig unmittelbar durch anders und neu zusammengefügte imaginäre Ganzheiten abgelöst würden.

Kai Kauffmann und Erdmut Jost beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit den Diskursmedien der Essayistik um 1900. Die Essayistik wird von ihnen als eine durch besondere "Regeln" (oder wenigstens "Gewohnheiten") gekennzeichnete Praxis des Schreibens im historischen Gefüge anders gearteter Diskurse der Zeit analysiert. Zu den Desideraten einer diskursgeschichtlich orientierten Erforschung der Essayistik um 1900 gehöre nicht nur die epochenspezifische Analyse der kulturellen Themen sowie der literarischen Formen und Techniken, sondern auch die Untersuchung der publizistischen Medien, über die essayistische Texte in die Öffentlichkeit gelangten.

Rundschauzeitschriften, Redeforen und Autorenbücher, so Kauffmann/Jost, hätten in der Zeit um 1900 als die wichtigsten Publikationsorte und -formen der Essayistik fungiert. Die kulturellen Themen und die literarischen Formen beziehungsweise Techniken hätten mit den publizistischen Medien enge Wechselbeziehungen unterhalten, wobei diese Interdependenzen im Zusammenhang mit der wissenssoziologischen Funktion der damaligen Essayistik - jener, im "Versuchslabor" eine "Einheit der Kultur" herzustellen - zu erklären seien. Im funktionalen Zusammenhang mit der weltanschaulichen Neuordnung des Wissens habe sich der Essay als bevorzugte Form etabliert, verknüpft mit der Forderung eines Einsatzes der je individuellen "Spekulation" und "Fantasie" des Autors, der Durchsetzung einer subjektivistischen Grundhaltung, der langsamen Verdrängung eines konsensuellen "Wir" durch ein solitäres "Ich". Auch lasse sich ein "Trend" zu erzählerischen Darstellungsformen konstatieren, der auf das neue Ideal der Erlebniszentriertheit journalistischen Schreibens verweise. Von hier aus, so Kauffmann / Jost abschließend, sei es dann nur noch ein kleiner Schritt zum eigentlichen modernen Essay als der "Kraft zu einem begrifflichen Neuordnen des Lebens" und dem Essayisten als dem "große(n) Wertbestimmer der Ästhetik" (Lukács) gewesen.

Andreas Beyer beleuchtet in seinem Aufsatz "Lichtbild und Essay. Kunstgeschichte als Versuch" die wissenschaftshistorischen Beziehungen der Essayistik zur Kunstgeschichte. Er verfolgt die Überlegungen Herman Grimms zu den - sogar im Hinblick auf die originalen Kunstwerke - als vorteilhaft anzusehenden Qualitäten der Großprojektion und legt dar, inwiefern Grimms Vortragspraxis parallel zu seiner schriftstellerischen Essayistik ästhetische Erfahrung und deren Analyse ermöglicht habe. Grimm betrachtete es als eine "Thatsache von Wichtigkeit", dass es durch die Vergrößerungen des Diaprojektors möglich gemacht wurde, eine "sichere Scheidungslinie zwischen dem die Seele Ergreifenden und dem bloß kunsthistorisch Interessanten" zu ziehen: "Es verdunkelt sich der Hörsaal und das Werk erscheint auf der Wand, größer als es in Wahrheit ist. [...] Uns überkommt das Gefühl der lebendigen Gegenwart eines großen Kunstwerks". Neben Grimms Bedeutung für die Institutionalisierung des Fachs Kunstgeschichte und die Einführung des Diaprojektors stellt Beyer dessen "bislang dazu nicht in Bezug gesetzte [...] Leistung" heraus - der "große Essayist in der akademischen Gemeinschaft" zu sein. Die Literaturwissenschaft erkenne in Grimm bis heute den eigentlichen Importeur des Begriffs "Essay". Grimm formulierte in der Vorrede seines Buchs "Fünfzehn Essays. Aus den letzten fünf Jahren" (1890) sein Verständnis dessen, was "der Essay nun eigentlich sei": "Zum wirklichen Essay ist heute erforderlich, dass er in fließenden, individuell gehaltenen Gedankenreihen etwas allgemein Verständliches rasch behandle". Er knüpft in seiner Bestimmung ausdrücklich an die Essays Ralph Waldo Emersons an und erkannte und betonte damit sehr früh dessen Bedeutung als Essayist.

Es folgen Beiträge Wolfgang Braungarts und Silke Jakobs, die sich mit der naturwissenschaftlichen Essayistik im Kontext des naturwissenschaftlichen und naturphilosophischen Diskurses um 1900 am Fallbeispiel Wilhelm Bölsches beschäftigen; Wolfgang Pirchers "Versuch über den Essay in den Gesellschaftswissenschaften"; Jan Andres' "Überlegungen zum Essayismus der Kulturkritik und der 'Konservativen Revolution' in Deutschland 1870-1933".

Carola Hilmes untersucht "Skizzen möglicher Wirklichkeit" anhand des Themenbereichs "Essayismus und Weiblichkeitsentwürfe um 1900". Leider bieten ihre Ausführungen dem Leser kaum Überraschendes. Sie lesen sich stattdessen eher wie eine Paraphrase hinlänglich bekannter, bereits kanonischer Studien zur imaginierten Weiblichkeit wie beispielsweise Silvia Bovenschens oder Ariadne Thomallas. Die Suche nach der "neuen Frau" stecke hinter allen Weiblichkeitsentwürfen der Jahrhundertwende. Das von Hilmes entfaltete Panorama von Weiblichkeitsentwürfen rekrutiert bekannte Figuren wie beispielsweise die "Femme fatale", die "Intellektuelle", die "neue Frau", die "Femme fragile". Protagonistinnen fiktionaler Texte, reale Persönlichkeiten der neuen Frauenbewegung, Schauspielerinnen wie feministisch argumentierende Essayistinnen werden von Hilmes nebeneinander gestellt, ohne die jeweiligen Zusammenhänge von Fiktionalität und Realität, fiktiver Literatur oder realem Leben, kämpferischem Essay oder inszeniertem Leben dezidiert mit in den Blick zu nehmen.

Gleich zwei Aufsätze widmen sich dem Werk Friedrich Nietzsches: Stefan Greif fokussiert in seinem Beitrag auf "essayistisches Denken und radikal moderne Philosophie" im Werk Nietzsches, Simon Jander diskutiert den Nietzscheanischen Perspektivismus im Kontext der "Reflexionsbewegung in der Essayistik der Moderne", wobei die Jander'schen Darlegungen im Hinblick auf Lese- und Denkgenuss sowie den vermittelten Erkenntnisgewinn als denjenigen Greifs überlegen betrachtet werden können. Die immense Bedeutung Friedrich Nietzsches für die moderne Essayistik kann als ein Gemeinplatz betrachtet werden. Die den Beitrag Simon Janders tragende These lautet, dass Nietzsches "perspektivistische Texte" - die aphoristischen Bücher beziehungsweise Texte in Nietzsches Mittel- und Spätwerk - den essayistischen Diskurs des beginnenden 20. Jahrhunderts nicht nur inhaltlich, in Topoi und Thesen der Kultur- und Moralkritik, Zeitdiagnostik oder Kunstphilosophie, sondern vor allem strukturell, das heißt in seinen Reflexionsbewegungen, -räumen und -formen, grundlegend veränderten und erweiterten. Bei der Behandlung des Perspektivismus bei Nietzsche seien zwei Phänomene zu unterscheiden: zum einen die Thematisierung und Bedeutung des Begriffs in den Schriften, also seine "Theorie" des Perspektivismus, und zum anderen das perspektivistische Reflexions- und Textgeschehen selber, die performative Praxis des Perspektivismus. Jander entfaltet in seinen Explikationen den Essayismus als eine philosophische Denkform und gedankliche Haltung, die nicht an eine bestimmte Textsorte beziehungsweise ein spezifisches Genre - den Essay - gebunden, sondern vielmehr von der Gattungsebene losgelöst sei. Er begreift Nietzsches Perspektivismus als eine "ambivalente Form essayistischer Reflexion", wobei die aphoristische Textgestalt mit ihren Brüchen und Widersprüchlichkeiten, das Changieren der Perspektiven und das Spiel mit Figuren und Masken eine polyvalente, Standpunkte auflösende Reflexionsdynamik erzeugten, die gleichzeitig immer auch ein Teil von Nietzsches souveräner Perspektive bleibe.

Die weiteren Aufsätze des Bandes beschäftigen sich mit dem "Essayismus als versuchendes Schreiben" am Beispiel Musils, Emersons und Wittgensteins (Birgit Griesecke), Georg Simmels "Henkel-Literatur" (Otthein Rammstedt als Herausgeber des Werks Simmels beleuchtet hier das Korpus der Simmel'schen Essays und ihre Bedeutung in dessen Œuvre sowie das Verhältnis von Theorie und Essay bei Simmel, wobei er weitestgehend text- beziehungsweise werkimmanent verfährt) sowie "Kracauers Herausforderung der Phänomenologie" (Dirk Oschmann).

Die beiden den Tagungsband abschließenden Beiträge Friedmar Apels und Almut Todorows bieten ein hohes Maß an Lektüre- und Reflexionsgenuss. Insbesondere Todorows Ausführungen bilden einen (vielleicht sogar den) markanten "Höhepunkt" des textuellen Tableaus. Während Apel sich mit dem auf Nähe wie Abstand beruhenden Verhältnis von Hofmannsthal und Nadler beschäftigt - bei beiden finde sich ein ähnlicher Affekt gegen die Vorherrschaft des Geistes und des Begriffs, beide dachten "die Aufhebung der Vereinzelung des Subjekts auf dem Grund eines vermöge der Sprache beseelten Elementaren" - und in seinen Darlegungen sowohl ästhetische wie politisch-weltanschauliche Aspekte im Denken und Schaffen Hofmannsthals und Nadlers aufrollt, diskutiert Almut Todorow Robert Walsers Kleist-Essays als "intermediale Grenzgänge". Wie an Walter Benjamins Essayistik sei an den Essays Robert Walsers abzulesen, wie der publizistische Essay um 1900 der Auflösung kohärenter Denk- und Schreibprozesse einerseits zwar kritisch entgegensteuere, sie zugleich aber selbst vorantreibe, indem er sich mit eben diesen "dissoziierten" Schreibverfahren in den massenmedialen Bedingungszusammenhang einschreibe, Gattungsordnungen verwische und die Mediengrenzen zu überwinden suche.

Gerade der Essay biete sich an, die "Verfahrensweise des Denkens" unter den Wahrnehmungs- und Wissensbedingungen pluralisierter Medienwirklichkeiten an der Schwelle zur Moderne des 20. Jahrhunderts zu beobachten. In dieser Perspektive erschließe sich Walsers Essayismus als medienreflexive und diskurskritische ästhetische Literaturform des Feuilletons jenseits von festen Text- und Denkgewohnheiten, die sich durch das literarische Experimentieren mit eigenen und fremden medialen Dispositionen der Wahrnehmungsprozesse im öffentlichen Wissen und Denken auszeichne. Walsers literarisches Experimentieren verbinde in besonderer Weise das kritische und kreative Potential des Essayistischen dieser Epoche mit der Erprobung massenkommunikativer intermedialer Schreibverfahren und habe damit eine essayistische Konzeption entwickelt, die sich sowohl dem Essay als auch der literarischen Intermedialität im 20. Jahrhundert öffne.

"Essayismus um 1900" - der Band bietet ein vielfältiges, allerdings weitestgehend erwartbares, kanonisch orientiertes Panorama des Essayismus um 1900. Kritisch zu bemerken ist, dass in der Mehrheit der Beiträge die "Lust am Text", die das Essayistische beziehungsweise den Essay als Denk- und Schreibform (für Autor wie Leser) ja so stark kennzeichnet, zu kurz kommt und die Lektüre sich über manche Strecken aufgrund diskursiver Überladungen als zu wenig "lustvoll" gestaltet. Wünschenswert wäre eine Stärkung beziehungsweise stärkere Heraushebung der literarisch-poetischen, imaginativen und spielerischen Aspekte und Qualitäten essayistischen Denkens und seiner Vertextung(en) gewesen. Kennzeichnend für den Essayismus ist es ja gerade, zwischen allem zu stehen - ortlos im Zwischenraum fest definierter Bereiche, ein Grenzgänger und Flaneur, ein Betrachtender und Genießender, ein gerade auch sinnlich und vorstellungsmächtig sich entfaltender "Reisender". Gegen die wissenschaftlich postulierten Strategien der Objektivierung und Intersubjektivität setzt der Essayismus selbstbewusste Strategien der Subjektivierung, eine Sondersicht auf den behandelten Gegenstand, eine Ästhetisierung der Sprache, die sich zu Bildlichkeit, Sensualismen, Alogizismen und Möglichkeiten nicht-propositionalen Erkennens bekennt. Hierin liegen Freiheit, Kraft und Subversivität essayistischen Denkens und Schreibens begründet. Ein wenig mehr von diesem spezifischen Potential spürbar werden zu lassen und den ,Ballast der Wissenschaft' abzuwerfen, hätte den Beiträgen - und der Leselust - sicher gut getan.

Eine Ausnahme bezüglich der eingeforderten stärker zu entfaltenden bildhaft-imaginären und spielerisch-gestaltenden Kraft des Essayistischen im Hinblick auf das textuelle Tableau bildet die durchaus wünschenswerte Pointierung der begrifflich-konzeptuellen Unterschiede von "Essay" (als Genre), "Essayismus" (als Denk- und Schreibgestus) sowie "Essayistik" (als im Rahmen des Genres sich konkretisierende Denkhaltung). An dieser Stelle bleibt die diskursive Kategorisierung oft unscharf. Essayismus, konzipiert als "Aisthetik" des Denkens und des Schreibens, ist beschreibbar als eine bewusste Strategie der Erkenntnisgewinnung wie der narrativen Erkenntnisvermittlung und dabei herauszulösen aus engen und starren Gattungskonventionen und -zuschreibungen. Essayismus als eine vagierendes und flanierendes Denken freisetzende Schreibform sprengt inhaltliche wie formale, disziplinäre wie interdisziplinäre Grenzziehungen auf und überschreitet diese - wie er die emphatische Selbstbehauptung des Subjekts im Kontext seines Wissens zum Ziel hat (Christian Schärf).

Hiermit verbunden ist der Wunsch nach einer weiteren, als notwendig zu erachtenden Schwerpunktsetzung eines Bandes zum "Essayismus um 1900": Vertiefend in den Blick genommen gehören die Zusammenhänge von Essayismus, Subjektivität und Moderne um 1900 (vgl. Jander), die enge Bindung des Essayistischen wie auch des Genres Essay an die Subjektivität einer sich textuell artikulierenden Sprecherpersönlichkeit, sowie überhaupt die "großen Grenzüberschreitungen" der Literatur um 1900 im Hinblick auf Gattungen und Formen, Inhalte und Themen. Entwickelt wurden von dieser so faszinierenden Literatur Konzepte der Autonomsetzung des Konstruktiven, fiktionale Freisetzungen des Imaginären, reich ausstaffierte subjektive Bewusstseinswelten und sublime ästhetische Räume, die mit dem essayistischen Denk- und Schreibgestus (und seinem Subjekt) unauflöslich verknüpft und verwoben erscheinen.

Schließlich muss es als spannend erscheinen, auf die (formale) Konzeption des je eigenen Schreibens einen selbstreflexiven Blick zu werfen - Bezüge zur essayistischen Denk- und Schreibtradition wie auch zum Essay als Genre kommen in den Überschriften verschiedener Beiträge treffend zum Ausdruck: "Überlegungen", "Annäherungen", "Versuche", "Skizzen" - all dies gehört unhintergehbar zu den prägenden essayistischen Topoi, greift diese auf - und führt sie (reflexiv) fort.


Titelbild

Wolfgang Braungart / Kai Kauffmann (Hg.): Essayismus um 1900.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2006.
246 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-10: 3825351254

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