"Weint nicht über mich, sondern über euch selbst."

Der Wolfenbütteler Arbeitskreis für Barockforschung untersucht Passion, Affekt und Leidenschaft in Religion, Literatur, Musik und Bildender Kunst

Von Katja MalschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Malsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit einem perspektivenreichen und ausgesprochen anregenden Sammelband liegt jetzt das Ergebnis des Kongresses "Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit" vor, der im April 2003 in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel stattfand. Wie Affekte in unterschiedlichen Medien dargestellt werden und welche Mittel welche Leidenschaften hervorrufen sollen, untersuchen über 50 Beiträge in vier Sektionen, deren Gegenstandsbereiche von der Theologie und geistlichen Dichtung über die "musikalische Passionstradition des Barock", "Theater, Oper, Ballett und Festkultur" bis hin zur Affektkultur "an der äußeren Grenze der Kultur und in der inneren Erfahrung" reichen. Die interdisziplinäre Vielfalt, von der der Sammelband zeugt - vertreten sind Theologie, Literatur- und Musikwissenschaft, Kunst-, Ethnologie-, Missions- und Medizingeschichte -, ist Chance und Herausforderung zugleich.

Vor allem an den Beiträgen, die sich mit den ohnehin performativen Künsten, Theater, Oper und Ballett, oder mit der höfischen Festkultur beschäftigen, wird wirkliches interdisziplinäres Nachdenken sichtbar. So zeigt beispielsweise die Literaturwissenschaftlerin Christiane Caemmerer, wie der Affekt der Liebe in den höfischen Schäferspielen didaktisiert wird. Sie legt eine Analogie zum traditionellen Fürstenspiegel nahe und weist darauf hin, dass ausgerechnet in der geringen Komplexität und argumentativen Geradlinigkeit der Schäferspiele ihre funktionale Qualität gründet.

Aber auch der große und systematisch noch immer nicht ausreichend erschlossene Bereich der Erbauungsliteratur wird aus unterschiedlichen Perspektiven in Angriff genommen. Ausgangspunkt ist in diesem Zusammenhang die Passion Christi, die von je her nicht nur theologisch reflektiert, sondern auch künstlerisch gestaltet worden ist.

Dieser Umstand wird im Sammelband auf zweierlei Weise erklärt. Erstens stelle poetisches Sprechen eine Möglichkeit dar, der Unaussprechlichkeit der Passion Christi zu begegnen - für den Fall, dass sie nicht, wie etwa in der Instrumentalmusik, durch den Verzicht auf Sprache überwunden werden soll. Zweitens könne ein angemessener Umgang mit der Passion offenbar erst durch die Schulung der Affekte, vor allem in geistlicher Dichtung und im Oratorium, eingeübt werden.

Einen der zahlreichen literaturwissenschaftlich interessanten Anknüpfungspunkte bietet der Mitinitiator der Tagung, der Theologe Johann Anselm Steiger. Er illustriert das Ende seines Beitrags zu Gottes Zorn, den Leiden Christi und den Affekten der Passionsbetrachtung bei Luther und im Luthertum mit einigen literarischen Beispielen Johann Klajs, die den "Kern des Glaubens", die Rechtfertigungslehre, "in poetisch-kunstfertiger Weise zur affektiven Aneignung bringen". In welchen Fällen, so könnte man im Anschluss daran weiter fragen, kann poetisches Sprechen theologischen Sachverhalten in besonderer Weise gerecht werden? Sind es vor allem Paradoxa wie der über sich selbst zu Gericht sitzende Gott oder der gottverlassene Gottessohn am Kreuz (zu denken ist dabei auch an den 'Gott gegen Gott' in der Hiob-Dichtung)? Inwiefern sind Form und Inhalt aufeinander bezogen, wann wird zum Beispiel der Kreuzreim eingesetzt? Welches Potenzial liegt in der literarisch gestalteten Ansprache des Subjekts, das in der Frühen Neuzeit dadurch einen anderen Stellenwert bekommt, dass anders als in der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit nicht der Affekt des Mitleids mit dem leidenden Christus im Zentrum steht, sondern der Affekt der Trauer über die eigene Sündhaftigkeit? Solchen und ähnlichen Fragen wird vor allem die theologisch-literaturwissenschaftliche Forschung in den kommenden Jahren nachgehen müssen.

Dass der literarisch bearbeitete biblische Text anders als bei Klaj auch eine deutlich politische Tendenz bekommen kann, zeigt die Literaturwissenschaftlerin Barbara Becker-Cantarino am Beispiel verschiedener Adaptionen der Judith-Geschichte. Im Alten Testament ist die Judith-Figur Instrument Gottes, in der deutschsprachigen Literatur der Frühen Neuzeit, etwa im Tendenzdrama Bircks, auch ein Instrument des Dichters. Sie wird als Allegorie der Beständigkeit gedeutet und politisch und moralisch aktualisiert. In Opitz' höfischer Oper, in der allerdings auch eine zunehmende Sexualisierung festzustellen ist, wird Judith zur Hoffnungsträgerin im Glaubenskrieg gegen die Gewalt.

In höchstem Maße subtil sind solche (kirchen)politischen Anspielungen etwa auch in Lohensteins Leichabdankung auf Hoffmannswaldau. Ein "Kunstgriff" der besonderen Art gelingt der Literaturwissenschaftlerin Nicola Kaminski, die Lohensteins Rede als "kryptoprotestantisches Passionsspiel" deutet und den nur angedeuteten Vergleich des Verstorbenen mit dem Gekreuzigten auf eine Verschränkung zweier Zeitrechnungen zurückführt, die aus der Kalenderreform resultieren: Nach gregorianischem (katholischem) Kalender starb Hoffmannswaldau am 18. April 1679, nach julianischem (protestantischem) Kalender war das der Karfreitag.

Einen schönen Abschluss findet der Band mit dem Beitrag der Kunsthistorikerin Marianne Koos, die Caravaggios Gemälde des "Ungläubigen Thomas" im Anschluss an Leonardos Kunsttheorie analysiert. Sie deutet das Verhältnis Thomas - Christus als Verhältnis des Begehrens und liest es in Analogie zum Verhältnis zwischen Betrachter und Bild. Allerdings stoße diese Analogie an der Stelle an ihre Grenze, wo der Betrachter von der unmittelbaren Präsenz des Dargestellten affektiv zwar eingebunden, jeglicher Nachvollzug (das tatsächliche Berühren und Eindringen in die Leinwand) dagegen unterbunden werde.

Insgesamt ist der Sammelband äußerst vielseitig. Er weist an vielen Stellen auf Forschungsdesiderate hin und macht Vorschläge, in welche Richtung man weiterdenken könnte. Er dokumentiert die wieder einmal vorbildliche Zusammenarbeit interdisziplinärer Frühe-Neuzeit-Forschung und lässt auch auf den Tagungsband des 12. Jahrestreffens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Barockforschung, das konkurrierenden Rezeptionen des Altertums im Barock gewidmet war, gespannt sein.


Titelbild

Johann Anselm Steiger (Hg.): Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit. 2 Bände.
Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Wolfenbüttel 2005.
1178 Seiten, 159,00 EUR.
ISBN-10: 3447053364

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