Des Kaisers neueste Kleider

Ein Sammelband über "Transmedialität" demonstriert die (kurze) Lebenszeit geisteswissenschaftlicher Paradigmen in nuce

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Innovation ist in. Längst hat der Drang (oder auch Zwang) zu immerwährender Erneuerung - häufig verwechselt mit immerwährender Verbesserung - die Sphäre der Realpolitik verlassen und auch Wissenschaften und Alltagsleben erfasst. Insbesondere die Geisteswissenschaften zeigen eine ausgesprochen hohe Affinität zu immer schneller sich ablösenden ,turns': Vom ,linguistic' zum ,narrative turn' vom ,medial' zum ,intermedial turn' - nichts, so scheint es, ist mittlerweile langweiliger als das Paradigma von gestern. Dabei bietet der von Urs Meyer, Roberto Simanowski und Christoph Zeller herausgegebene Band "Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren" die seltene Gelegenheit, die Entwicklung eines geisteswissenschaftlichen Paradigmas in nuce mitzuerleben.

Wie bei jedem neuen Paradigma, so steht auch am Anfang der ,Karriere' der "Transmedialität" die Formulierung eines Desiderats: Der Begriff selbst wurde zwar schon im Jahr 2002 von Irina Rajewski in den Intermedialitätsdiskurs eingeführt, doch tat Rajewski transmediale Erscheinungen als "medienunspezifische Wanderphänomene" ab und behandelte sie in der Folge entsprechend stiefmütterlich. An dieser Stelle setzen nun die Herausgeber des vorliegenden Bandes an und fordern eine differenziertere Definition und Verwendung des Terminus - nicht zuletzt, wie Uwe Wirth es formuliert, auch im Sinne einer "medien-kulturwissenschaftliche[n] Öffnung" der Literaturwissenschaft: "Transmedialität fokussiert auf die gleichzeitige Anwesenheit der beteiligten Medien und steht somit im Grunde der intermedialen Kopplung nahe.

Während dort jedoch der Akzent auf dem Ergebnis als vollzogener Verbindung zwischen beiden Partnern liegt, betont der Begriff der Transmedialität den Transfer.

Dieser Prozess wird zum Beispiel im Moment der Rezeption wirksam - wenn etwa Tanz zeitgleich in Musik transformiert wird oder wenn ein Computerspiel umgebaut und in ,verstümmelter' oder auch ,re-formulierter' Form als digitale Kunst ausgestellt wird." Diese Definition ist gleichsam die Geburtsstunde des neuen Paradigmas; demnach zählen transmediale Erscheinungen zur Gruppe der (momentan so populären) Übergangsphänomene, bei denen der Rezipient im Akt der Rezeption die zeitgleiche Präsenz zweier Medien wahrnimmt, wobei ein Medium A in ein Medium B transformiert wird. Allerdings zeigt sich bereits an dieser Stelle eine definitorische Unschärfe, die daraus resultiert, dass der Begriff ,Medium' relativ unspezifisch bleibt.

Während Musik und Tanz auch ohne weitere Erklärungen als distinkte Medien angesehen werden können, scheint das zweite Beispiel weitaus weniger einleuchtend. Sowohl ein Computerspiel als auch digitale Kunst gehören, legt man einen materiell-technischen Medienbegriff zugrunde, zunächst zu ein und demselben (digitalen) Medium; in diesem Fall müssten also wohl ,Spiel' und ,Kunst' als die beiden gleichzeitig präsenten Medien angesehen werden.

Was folgt, ist die Hochzeit des Paradigmas, in der nicht nur weitere Explikationen und Exemplifikationen des Begriffs geboten, sondern auch unterschiedliche Anwendungsmöglichkeiten ausgelotet werden: Während sich Uwe Wirth zunächst mit der Abgrenzung der ,Trans-' von der ,Intermedialität' beschäftigt und die Prinzipien der ,Hyper-' und ,Intertextualität' diskutiert, identifiziert Roberto Simanowski ,Intermedialität' als wesentliches Charakteristikum der digitalen Medien und ,Transmedialität' als "Kennzeichen moderner Kunst". Der Beitrag "Wechselspiele. Zur ästhetischen Differenz in Mensch-Maschine-Kommunikationen" von Peter Gendolla und Jörgen Schäfer wiederum, in dem die Autoren den Besonderheiten so genannter "Netzliteratur" nachgehen, fällt insbesondere durch die völlige Abwesenheit des Begriffs ,Transmedialität' auf.

Auf den in der Definition so prominenten Aspekt des ,Übergangs' geht Karin Wenz erstmals explizit auch in ihrer Verwendung des Terminus ein: Während ,Transmedialität' entgegen der definitorischen Beteuerungen doch zumindest implizit auf das fertige Produkt zu rekurrieren scheint, so sprich Wenz - weitaus dynamischer - von der "Transmedialisierung" und untersucht dabei, in ihrem gleichnamigen Beitrag, den oben bereits erwähnten Übergang "Vom Computerspiel zu digitaler Kunst".

Wenz zeichnet dabei, ganz im Sinne der regelmäßigen Software-Updates, den Weg von der "Transmedialisierung 1.0" zur "Transmedialisierung 2.0" nach; dieser führt sie über diverse Stationen: Von den Schnittstellen zwischen Software und Benutzer, über die Interaktivität und Kontrollierbarkeit digitaler Vorgänge durch den Nutzer, bis hin zum so genannten Modding, das heißt Erweiterungen beziehungweise Veränderungen von Computerspielen, sowie Aspekten der Immersion und der Narrativität von Computerspielen verfolgt Wenz neueste Trends in der Transformation von Computerspielen zu Werken der digital art.

Sie beginnt dabei ihre (durch farbige screenshots der jeweiligen Spiele bzw. Werke illustrierten) Ausführungen mit einem Werk des New Yorker Künstlers Cory Arcangel, in dessen "Super Mario Clouds" bis auf die eponymen Wolken alle visuellen Komponenten des bekannten Nintendo-Spiels gelöscht wurden. Ähnlich geht Wenz auch in der Folge bei den weiteren Aspekten vor, die sie jeweils kurz ausführt und mit einem aktuellen Beispiel aus der Welt der Computerspiele beziehungweise -kunst illustriert.

Fraglich bleibt dabei jedoch, inwiefern die von Wenz aufgezeigten Phänomene als paraliterarisch angesehen werden können, und ob sie sich tatsächlich auf Erscheinungen beziehen, die zwischen zwei Medien stattfinden - warum kann etwa "Super Mario Clouds" nicht ebenso gut als innermediale Parodie, Persiflage oder Kontrafaktur angesehen werden? Hier wäre es unter Umständen hilfreich gewesen, eher Arcangels "Super Mario Movie" aus dem Jahr 2005 in den Blick zu nehmen, in dem der Künstler das Spiel in einen Film verwandelte, in dessen Verlauf Super Mario von einer Identitätskrise heimgesucht wird.

Ingesamt hinterlässt der Beitrag nicht nur den Wunsch, zumindest die Programme, die keine Veränderung der heimischen Hardware mit sich bringen, sofort online anzuschauen, sondern auch die bei so vielen Software-Updates virulente Frage, worin eigentlich genau die Progression von Version "1.0" zu "2.0" besteht; auch Wenz' abschließende Erläuterung, dass für sie der Begriff ,Transmedialisierung' gerade "den Prozess der Parallelisierung und Weiterentwicklung eines ursprünglichen Textes (im weitesten Sinne) zu erfassen" vermag, kann nicht rückhaltlos überzeugen.

Daran anschließend führt Urs Meyer - zu einem Zeitpunkt, als die tatsächliche Anwendbarkeit des neuen Begriffs noch nicht allgemein einleuchtend sein dürfte, - am Beispiel unterschiedlicher Werbekampagnen weitere Unterkategorien ein: "Intermedialität", "Paramedialität", "Metamedialität", "Hypermedialität" und "Archimedialität" werden als Teilaspekte der ,Transmedialität' identifiziert, wobei sich die Frage stellt, ob diese zusätzliche Auffächerung nicht eher zu einer Begriffsverwirrung denn einer -klärung führt.

Es folgen Beiträge zur "Architektur als Literatur" (Detlev Schöttker), zu verschiedenen Aspekten der Fotographie (Sabine Haupt, Doren Wohlleben, Daniel Magilow), zum "Poetischen Journalismus" (Rüdiger Zymner) und den "Literarische[n] Geschichts-Bilder[n]" des 19. Jahrhunderts (Jan-Arne Sohns).

Nach diesen insgesamt 11 Beiträgen scheint sich die Vitalität des Paradigmas allerdings langsam erschöpft zu haben. Mit seiner abschließenden Untersuchung zum "Terrorismus als Paraliteratur" hinterfragt Christoph Zeller nicht nur implizit die Tragweite und -fähigkeit der ,Transmedialität', sondern läutet auch deren unausweichliche Auflösung ein: Den Authentizitätsdiskurs mit Fragen nach den medialen Bedingungen der Erzeugung von Glaubwürdigkeit und Unmittelbarkeit verbindend, befasst sich Zeller mit der literarischen Auf- beziehungweise Verarbeitung des Terrorismus als paraliterarischem Phänomen: "Terrorismus wäre dann als ,paraliterarisch' zu bezeichnen, wenn er den Anlass des Schreibens, Motive und Themen gibt oder aber ein Umfeld schafft, das Begriffe - Leben, Unmittelbarkeit, Medien - neu bestimmt." Doch nicht nur den Bereich des ,Paraliterarischen' weitet Zeller aus: ",Leben' [...] ist bereits ein Medium." Im Vorwort bejahen die Herausgeber eine derartige ,Infragestellung' des traditionellen Medienbegriffs und begrüßen den Versuch, "die erhellenden Wechselbeziehungen [zu] beobachten, die vor dem Hintergrund eines engeren Medienbegriffs verschlossen blieben." Für das vorgeschlagene Paradigma der ,Transmedialität' und seine Bedeutungsschärfe bleibt diese Ausdehnung allerdings nicht ohne Konsequenzen: Zum einen ergibt sich daraus, dass somit jeder außerliterarische Schreibanlass und selbst jedes literarische Motiv bereits als 'paraliterarisch' zu bezeichnen wären. Zum anderen führt die vorgeschlagene Ausweitung des Medienbegriffs dazu, dass im Grunde keine Form der medialen (Re-) Präsentation mehr denkbar ist, die nicht per se ,transmedial' wäre: Jegliche Transformation eines letztlich beliebigen Inhalts in ein bestimmtes Medium wäre demnach eine transmediale Grenzüberschreitung - eigentlich sogar bereits Transmedialität ,au second degré', wurde der jeweilige Inhalt doch zuvor schon durch das ,Medium' des menschlichen Bewusstseins transformiert. Somit ist ,Transmedialität' also nicht mehr der untersuchenswerte Sonderfall, sondern ebenso die Grundlage medialer Kommunikation wie allgemeiner Perzeption. Was zu Beginn des Buches so hoffnungsfroh begann - die Einführung eines neuen, aussagekräftigen und instrumentalisierbaren Paradigmas, löst sich damit im Grunde nach rund 260 Seiten wie eine Plastik Tinguelys selbst auf: eine bedauernswert kurze Lebenszeit.

"Transmedialität" ist ein Band, der sich aus sehr erhellenden Beiträgen zu verschiedenen Aspekten der Medialität und dem Verhältnis einzelner Medien zueinander zusammensetzt. Inwiefern sich die teilweise sehr unterschiedlichen Fragestellungen, Herangehensweisen und Interessenlagen allerdings wirklich sinnvoll unter der Überschrift der ,Transmedialität' fassen und als ,paraliterarische' Phänomene beschreiben lassen, erscheint fraglich: Der Vorwurf, den die Herausgeber eingangs gegen den Begriff ,Intermedialität' erheben, nämlich dass seine "Mehrdeutigkeit [...] die Produktivität seiner Verwendung [unterlaufe]", lässt sich ohne weiteres auch auf ,Transmedialität' übertragen. Erst die größtmögliche Offenheit des Paradigmas wird zum Garant der großen Spannbreite der einzelnen Beiträge; die Gefahr, die eine solche Offenheit in sich birgt, ist jedoch letztlich die völlige Beliebigkeit des Terminus. Ob sich ,Transmedialität' als neues Paradigma wirklich durchzusetzen vermag, bleibt abzuwarten.


Titelbild

Urs Meyer / Roberto Simanowski / Christoph Zeller (Hg.): Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
328 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-10: 3835300873

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