Ein glückliches Tasten und Versuchen
Der zweite Teil von Wolfram Bergers "Mann ohne Eigenschaften"-Lesung ist erschienen
Von Oliver Pfohlmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie 38 Kapitel, mit denen Robert Musil 1932 seinen "Mann ohne Eigenschaften" fortsetzte, beginnen mit der Beschreibung eines anti-akustischen Phänomens. Ulrich, der Ende des ersten Bandes von seinem Vater posthum ans Totenbett zitiert wurde, musste im Zugabteil ein solches Stimmengewirr über sich ergehen lassen, dass er jetzt, angekommen in der verschlafenen Provinz, als erstes den Kopf biegt, "als müsste er Wasser aus seinem Ohr schütteln [...] nun stand er im Saugraum der Stille, die auf den Lärm folgt." Die Stille ist eine erste Bedingung für den "anderen Zustand", dem er und seine Schwester Agathe, die er im Elternhaus wiedersehen wird, von nun an zustreben werden.
Den Hörern des zweiten Teils von Wolfram Bergers Lesung des Romans, die ebenfalls an dieser Stelle einsetzt, ergeht es anders. Denn von der dialektal gefärbten Stimme des Grazer Schauspielers mit ihrem warmen Timbre kann man nicht genug bekommen. Nach kurzer Zeit des Zuhörens fühlt man sich von ihr just in jene kontemplative Befindlichkeit versetzt, die, um ein Bild Musils aufzugreifen, dem seligen Reifen einer Traube in der Herbstsonne gleicht. Diese hypnotische Wirkung Bergers ist eigentlich erstaunlich. Steht doch der melancholische Duktus seiner Lesung quer zur ironischen Erzählhaltung des Romans. Gerade in dem gefeierten ersten Teil des Hörbuchs sorgte dieser Gegensatz für eine irritierende, aber eben nicht unglückliche Grundspannung, die Bergers Vortrag einen beinah dekonstruktiven Zug verlieh. Anders als Musils allen überlegener Erzähler führt Berger keine der Figuren vor.
Da die Ironie im zweiten Band mit Agathes Auftauchen merklich zurückgenommen wird, fällt diese Irritation beim Hören jetzt zwar milder aus. Dafür befinden sich Sprecher und Roman nun auf einer Wellenlänge, kommt Bergers Stil so erst ganz zu sich. Seine Flexibilität, jeder Figur und jedem Kapitel eine eigene Färbung zu verleihen, überzeugt dabei erneut. "Jede Figur hat eine 'andere Luft', schwül oder trocken", sagt Berger, und wenn man ihn hört, weiß man, was er damit meint. Die Agathe-Kapitel etwa sind mit einem sympathetisch-warmherzigen Ton gesprochen, der genau der verzweifelten Sinnsuche von Ulrichs Schwester entspricht. Ihrem ungeliebten Gatten, dem Pädagogen Hagauer, hört man dagegen präzise die aufgesetzte Selbstsicherheit an, mit der er seine plötzlich widerspenstig gewordene Frau zur Ordnung zu rufen versucht. Und wenn Clarisse auf dem Weg zu Moosbrugger die Irrenanstalt besichtigt, sich Diotima vor der Stagnation in ihrem Salon und Schlafzimmer in Sexualstudien flüchtet oder Ulrich mit Clarisse und dem Propheten Meingast dem tragikomischen Treiben eines Exhibitionisten zuschaut, kann Berger alle Register seines Könnens ziehen.
Aufregend an Bergers Lesung ist es auch, zu verfolgen, wie er den Text nicht möglichst kunstvoll vorträgt, sondern sich Raum für unvorbereitete Reaktionen lässt. Manchmal kann man regelrecht sein Staunen hören. Seine unprätentiöse Herangehensweise lässt ihn zum Stellvertreter des Lesers werden. Bei den "heiligen Gesprächen" der Geschwister über Moral und Mystik könnte man zunächst glauben, Berger sei von seiner Lesung ohne Ende nun doch erschöpft, wie seinerzeit ja auch dem Autor zunehmend die Kräfte ausgingen. Manche Sätze beginnt Berger - um nach dem ersten Wort erst einmal Atem zu holen und sich zu orientieren. Seine spontane Suche nach der richtigen Intonation ist nichts weniger als eine Art höherer Dilettantismus: ein Tasten und Versuchen, das auf wundersame Weise sowohl das Verständnis des Hörers für die immer subtileren Satzwindungen fördert, als auch aufs Glücklichste mit dem Essayismus Musils korrespondiert.
Wozu unweigerlich gehört, mitunter zu scheitern. Für Ulrichs "Glaubensbekenntnis", das er seiner Schwester verkündet, nachdem sie die väterliche Giftschublade mit der verstaubten Pornosammlung entdecken, hätte man sich durchaus etwas Pathos gewünscht und keine schwerfällige Lesung gegen den Strich. Und die taghelle Mystik, die Agathe in dem berühmten Kapitel "Atemzüge eines Sommertags", auf der Wiese im Garten neben ihrem Bruder liegend, erlebt, geht Berger zu grob an, beinah burschikos. Dem zeitlosen Schweben der beiden Liebenden zwischen Leben und Erstarrung, Gefühlsstau und inzestuöser Entladung wird Berger erst im Laufe des Kapitels gerecht.
Jean-François Peyret schrieb einmal, niemand auf der Welt könne behaupten, er habe den "Mann ohne Eigenschaften" gelesen. Schließlich münde der Roman nicht wie geplant in den Krieg, sondern in ein zigtausend Seiten umfassendes Labyrinth an Notizen, Entwürfen und Varianten und könne als Buch stets nur in der Auswahl eines Editors vorliegen. In Anlehnung daran muss man sagen: Auch nach dem jetzt erschienenen Abschluss dieser Großtat Bergers und des Hessischen Rundfunks, der die Lesung erneut in Kooperation mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg produzierte, kann niemand sagen, den Roman ganz gehört zu haben.
Die wieder im praktischen Mp3-Format bei Zweitausendeins erhältlichen zwei CDs enthalten neben dem Fortsetzungsband von 1932 die so genannten Druckfahnenkapitel von 1937/38 sowie etliche Kapitelreinschriften, an denen Musil teilweise bis zu seinem Tod gearbeitet hat; insgesamt 56 Kapitel mit einer Gesamtspielzeit von 27 Stunden. Hinzu kommen einige autobiografische Zeugnisse des Autors, Fragment gebliebene Beschreibungen seiner verzweifelten ökonomischen Lage, die Musil Anfang der 1930er-Jahre schrieb, ergreifende Selbstrechtfertigungen am Rande des Suizids, sowie der berühmte Brief an seinen amerikanischen Gönner Henry Hall Church, geschrieben am 12. April 1942, drei Tage vor seinem Tod. In ihm gaukelte sich Musil, der hoffte, 80 Jahre alt zu werden, noch einmal vor, seinen Roman wie geplant beenden zu können: mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Bis dahin freilich wäre noch ein gutes Stück erzählerischen Weges zurückzulegen gewesen.
Ruthard Stäblein, der die Redaktion besorgte, hat sich für eine pragmatische, "hörerfreundliche" Auswahl entschieden. Er lässt den Roman an jenem Moment enden, als Agathe die Geduld mit ihrem Bruder verliert, der immer nur von der Liebe redet; mit "Lass uns etwas Gutes tun!" fordert sie ihn zum Handeln auf. Ein schöner, anti-essayistischer Schluss, der von einer halbherzig-ironischen Entgegnung Ulrichs in der Schwebe gehalten wird. Natürlich ließe sich einwenden, dass Ruthard Stäbleins Auswahl das von der Forschung längst verabschiedete Ideal eines linearen Romans "Der Mann ohne Eigenschaften" wiederaufleben lässt. Diesbezüglich ist die Parallelaktion des Bayerischen Rundfunks, der "Remix" (2004) des Romans, der auch frühe Entwürfe und Varianten enthält, ambitionierter, aber eben auch sperriger.
Bedauerlich ist, dass Stäbleins Auswahl auch jene "Druckfahnen"-Kapitel zum Opfer fielen, in denen Agathe Ulrichs Tagebuch-Reflexionen über die Psychologie der Gefühle liest. Dass sie heutigen Hörern nicht zumutbar seien, wie es im Nachwort heißt, ist ein angesichts des Gesamtprojekts überraschender Anfall von Kleinmut. Gerade Wolfram Berger hätte man zugetraut, diese fast rein essayistischen, aber doch alles andere als unsinnlichen Passagen, diese großartige Zusammen- und Weiterschau der Gefühlspsychologie der Vorkriegszeit, von der, nebenbei gesagt, noch so manch heutiger "Emotionspsychologe" lernen könnte, zu verlebendigen. Doch man kann eben nicht alles haben. Freuen darf man sich auf die ersten warmen Tage, an denen man sich mit einem Mp3-Player auf eine Wiese legen, der griechischen Wurzel des Wortes Mystik entsprechend die Augen schließen und die Geschwister auf ihrer "Reise an den Rand des Möglichen" begleiten kann.
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