Performative Utopien

Bettina Bock von Wülfingens erhellende Diskurs- und Metaphernanalyse reproduktionsgenetischer Zukünfte

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Möglichkeit der künstlichen (Er-)zeugung eines Menschen regte schon immer die Phantasie an - vornehmlich diejenige von Männern. Man denke nur an den Homunculus in Goethes "Faust II". War das Sujet hier noch Thema der epischen Hochkultur, verlagerte es sich später in die als trivial angesehenen Genres der Horror- und der Sci-Fi-Literatur. Inzwischen hat sich diese Vorstellung von der literarischen Fantasie zum wissenschaftlich Forschungsvorhaben humanmedizinischer Reproduktionstechnologien emanzipiert (wenn man hier denn von einer Emanzipation sprechen kann). Mehr noch: Diese Forschungen und Vorhaben sind inzwischen selbst wieder Gegenstand der Forschung. Etwa derjenigen Bettina Bock von Wülfingens.

Die Biologin und Wissenschaftstheoretikerin ist der Auffassung, dass die Naturwissenschaften nicht länger als "autonome institutionalisierte Handlungsfelder mit privilegiertem Wissen" betrachtet werden sollten, "sondern als Bereiche der Gesellschaft selbst", und unternimmt in ihrem jüngst erschienen Buch "Genetisierung der Zeugung" eine Diskurs- und Metaphernanalyse "biomedizinischer Fiktionen". Diese Fiktionen, so lautet eine der wichtigsten Thesen Bock von Wülfingens, "wirken performativ", denn "Utopien haben Teil an der Wirklichkeitskonstruktion". Eine These - das sei vorweggenommen -, die von der Autorin eindrucksvoll belegt wird.

"Nicht erst technische Pläne und Taten der Umsetzung genetischer Selektionsnormen sollten Besorgnis erregen, sondern jeder Ansatz des Determinismus. Allein bereits im Diskurs, nicht erst in dem Akt in der Petrischale liegt Gewalt," warnt die Autorin pointiert. Neben den "faktenschaffenden Visionen und Fiktionen" der reproduktionsgenetischen Wissenschaft handelt ihre Untersuchung von den "Weltbildern, die die wissenschaftlichen Träumereien einschleusen und derer sie zu ihrer Umsetzung bedürfen".

"Gesamtziel" der vorliegenden Untersuchung ist es aufzuzeigen, ob und gegebenenfalls in welcher Weise seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert diskursive Entwicklungen stattfinden, die im Gegensatz zu früheren Auffassungen nicht mehr Fertilität, sondern Sterilität "normalisieren".

Ausgehend von Philippe Ariès' These, dass nicht die Existenz und die Verfügbarkeit von Technologien über ihre Anwendung entscheiden, sondern deren "Denkbarkeit", deckt die Autorin unter Rückgriff auf Michel Foucaults Konzept der Gouvernementalität sowie zentraler Erkenntnisse Donna Haraways und der Queer Studies nicht nur die Risiken auf, welche "als wissenschaftliche Fakten präsentierten biowissenschaftlichen Erzählungen" innewohnen, sondern arbeitet ebenso heraus, welche der "diskursive[n] Stränge" dieser Erzählungen sich für die "Entwicklung emanzipatorischer (diskursiver) Strategien" verwenden lassen.

Die von Judith Butler kritisierte Sex/Gender-Unterscheidung erklärt Bock von Wülfingen zwar für ihre Argumentation als "nützlich", doch sie verwendet diese ausdrücklich nur als "Hilfsvokabular" im Umgang mit Diskursen der Naturwissenschaften. Denn auch das "Körpergeschlecht" sei "institutionell und diskursiv" und somit auch naturwissenschaftlich "hervorgebracht". Wie die Autorin anmerkt, sind die Naturwissenschaften zur Zeit selbst mit ihrer eigenen Dekonstruktion befasst. Denn die "Vorstellung einer von Körpergeschlecht 'befreiten' Reproduktion" beziehungsweise einer Reproduktion, in der das Körpergeschlecht "keine Rolle mehr spielen soll", entwickelt sich gerade zu einer Zeit, in der "repräsentative oder hegemoniale" biologische Diskursstränge wie etwa molekularbiologische, genetische und hormonelle sich "immer weniger für biologische Körpergeschlechter interessieren", sondern "jegliches biologisches Geschlecht in gender aufgehen lassen". Allerdings verweist die Autorin auch darauf, dass der materielle Körper sich als "widerständig" erweist und die Deutungsmöglichkeiten begrenzt.

Trotz ihres gender-theoretischen und -kritischen Ansatzes könne der Blickwinkel der vorliegende Arbeit ihrer Autorin zufolge auch der Actor-Network-Theory zugeordnet werden. Allerdings legt sie Wert darauf zu betonen, dass ihre Untersuchung die Aufmerksamkeit im Gegensatz zu diesem theoretischen Ansatz auf die Veränderung diskursiver Formationen richtet. Neben der Diskursanalyse unternimmt die Autorin eine Metaphernanalyse, um Kontexte zu erkennen, "die so sehr an der Oberfläche liegen, dass sie nicht explizit werden". Als drittes "methodisches Hilfsmittel" nennt sie die Analyse der Handlungsschemata nach Fritz Schütze.

Der zur Analyse herangezogene Textkorpus schöpfte aus populärwissenschaftlichen Werken zur Zukunft der menschlichen Fortpflanzung, Berichten politischer Gremien zu den Auseinandersetzungen um die Rechtslage zu "Neuen Gen- und Reproduktionstechnologien" sowie aus Beiträgen in als seriös geltenden deutschen Publikumsmedien der Jahre 1995 bis 2003, die den Angaben der Zeitschriften nach von ExpertInnen auf dem Gebiet der Gen- und Reproduktionstechnologie verfasst wurden. In den Quellenpool gelangten allerdings nur Druckerzeugnisse, die "ein positives Bild der Zukunft der menschlichen Zeugung unter Hinzuziehung der Neuen Gen- und Reproduktionstechnologien zeichne[n]". Für eine Mikroanalyse wurden fünfzehn Printmedien "höchster Auflage" herangezogen, die sich an ein sowohl politisch als auch naturwissenschaftlich interessiertes Publikum richten, sowie Wissenschaftsmagazine wie "Bild der Wissenschaft", "Spektrum der Wissenschaft" und "Geo". So ergab sich ein Korpus von insgesamt über tausend "als 'von Bio- und ReproduktionsmedizinerInnen verfasst' markiert[en]" Artikeln. Nach Auswertung dieser Artikel blieb ein Korpus von 38 einschlägigen, die neuen Gen- und Reproduktionstechniken befürwortenden Beiträgen aus "Spiegel", "Fokus", "Zeit" und "Süddeutscher Zeitung" sowie aus "Spektrum der Wissenschaft" und "Geo", anhand derer die Autorin mehrere von den "Autorfiguren" entworfene positive "Szenarien der Zukunft reproduktiver Technologien" herausarbeitet.

"Vorausgehende These" der Mikroanalyse war, dass "zwei unterschiedliche reproduktionsmedizinische Diskursstränge auftreten". Zu dem "althergebrachten (entlang der modernen Kernfamilie strukturierten) Diskursstrang 'Reproduktionsmedizin als Hilfestellung für das unter Sterilität leidende heterosexuelle Ehepaar'", so wurde angenommen, trete ein "liberalerer, pragmatischer" Diskusstrang: "Reproduktionsmedizin zur genetisch gesunden Fortpflanzung jedweder Menschen ungeachtet von biologischem Geschlecht und Neigungen". Eine These, die, wie sich herausstellte, revidiert werden musste. Denn die "Vielfalt der Ergebnisse" der an den 38 ausgewählten Texten durchgeführten Diskursanalyse wich stark von der vorgängigen Annahme nur zweier Diskursstränge ab. Anders als von der Autorin angenommen, ließ sich ein "dichtes Netz" von zwanzig "verschiedenen, aber auch sich überschneidenden Szenarien (Diskurssträngen)" generieren, "die sich manchmal widersprechen, oft aber von einander abhängig sind".

Eine Gemeinsamkeit vieler der im Rahmen der Mikroanalyse untersuchten Texte besteht allerdings darin, dass sie "Freiheit oder Unfreiheit des Menschen im Verhältnis zu seinem Körper und zur Technologie" bestimmen und "'Befreiung' im Sinne von Selbstbestimmung durch Technologie" propagieren, wie Bock von Wülfingen etwa anhand der Selbstbestimmungs-Szenarien "Reproduktion als Menschenrecht", "Befreiung von (eigener) Natur", "Befreiung der Frau", "Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare/Singles" und "Gleichstellung mit 'Reichen'" herausarbeitet.

Je "normaler" das "labortechnische Angebot" von Zeugung erscheine, desto weniger stehe Heilung im Zentrum des "Zeugungsszenarios", sondern "Wohlbefinden und freie Wahl der Gene". "[E]rträumt" werde eine Methode dauerhafter Sterilisation, die erst wieder durch die Verabreichung eines Gegenmittels oder einen anders gearteten "äußeren Eingriff" vorübergehend aufgehoben werde. Dass Infertilität so nicht länger als Abweichung gelten sondern zum "Standard" erhoben werde, entpathologisiere sie und versetze Singles und gleichgeschlechtliche Paare in die selbe Lage wie heterosexuelle.

Wie die Autorin zeigt, gründet die "starke Fürsprache für emanzipatorische Bedarfe" in einer von den Autorfiguren "nicht erklärend eingeführten Gleichsetzung jedweder Unbill mit vermeintlich biologischen Gegebenheiten". Denn die von diesen entworfenen Szenarien des Zeitalters der neuen Gen- und Reproduktionstechnologien versprechen die "Befreiung von der vermeintlichen Willkürherrschaft der despotischen Natur". So erscheine die von ihnen verkündete Emanzipation zugleich als Befreiung von "quasi vorgenetischen Glaubensrichtungen" wie etwa vom Glauben an "gesellschaftliche Prägung". Da die neuen Reproduktions- und Gentechnologien "die Stellung des Menschen in der Welt bzw. gegenüber einer teleologisch waltenden natürlich-metaphysischen Instanz" neu verhandeln, sehen diese "mit jedem staatlich-gesellschaftlichen regulatorischen Eingriff de[n] Ausbruch des Menschen aus seiner (biologischen) Unmündigkeit gefährdet". Mögen die neuen Technologien auch dazu beitragen, dass die "Körpergeschlechter sich möglicherweise freier bewegen können", hält Bock von Wülfingen dem zu Recht entgegen, werde die "heterosexuelle Binarität des Verhaltens und Begehrens" unabhängig vom Körpergeschlecht der jeweils Betroffenen durch diese "verstärkt aufgedeutet" und somit Wahlmöglichkeiten wenn auch nicht beschränkt, doch zumindest erschwert.

Zudem, warnt Bock von Wülfingen, sei ins Auge zu fassen, dass die Szenarien der Befreiung und der Heilung in erster Linie als "Brückenköpfe für die neuerliche Implementation von biologischem Determinismus" dienten, "der Wertesysteme zu Gunsten genetischer Weltdeutungen verschiebt". Dass Schwangerschaften seit geraumer Zeit "in spätere Lebensphasen herausgezöger[t]" werden, würde so nicht länger als ein "soziales und politisches Phänomen" angesehen, sondern als eines "das nach 'geschlechtlicher Gleichberechtigung' durch Neue Gen- und Reproduktionstechnologien verlangt". Sobald der Mensch generell als genetisch, biologisch oder chemisch determiniert angesehen werde, würden der Autorin zufolge für "Körperfragen" keine gesellschaftlichen Lösungen mehr denkbar erscheinen. Vielmehr gelte genetisch-medizinische Technologie dann als das "einzige Mittel, das zur Selbstbestimmung verhelfen könne".

Bock von Wülfingen betont demgegenüber, dass die Ursachen zahlreicher "Leiden an 'körperlichen' Bedingungen" in "gesellschaftlichen Konstruktionen" liegen. So führe die Auffassung, "das Geschlecht entspräche einer material-sozialen Konstruktion" dazu, dass sich manche Menschen - wie etwa viele inter- oder transsexuelle Personen - gezwungen sähen, "ihr Geschlecht konform anders- oder eingeschlechtlich anzupassen".

Als ebenso erhellend wie Bock von Wülfingens kritische Ausführungen zum emanzipatorischen Anspruch der Szenarien der schönen neuen Gen- und Reproduktionstechnologien erweisen sich die Abschnitte zu "Personifikationen und Metonymien" sowie zu den in den Diskurssträngen verwanden "[b]iologische[n] Hintergrundmetaphern", wie etwa der Reden vom "Lesen im Buch der Natur", "Computerprogramm", "Schrifttext" und vom "Bauplan".

Eher einen Seitenblick wirft die Autorin auf die Entwicklung feministischer Positionen gegenüber den Möglichkeiten und Gefahren der neuen Gen- und Reproduktionstechnologien. Noch in den 1980er Jahren sei deren Gebrauch von Feministinnen weithin abgelehnt worden. Erst später habe sich ein starker "liberal-feministischer" Diskursstrang entwickelt, der die neuen Technologien begrüßte, da - so sei argumentiert worden - "Frauen zu verantwortlichen Entscheidungen in der Lage sind" und sie "in jedem Fall selbst entscheiden können müssen, ob und wann sie Kinder bekommen wollen". Unerwähnt lässt Bock von Wülfingen, dass schon zu Beginn des den 1980er Jahre vorrangegangenen Dezenniums die damals in Aussicht gestellten Neuen Gen- und Reproduktionstechnologien von namhaften Feministinnen geradezu enthusiastisch begrüßt worden waren. So hat etwa Shulamith Firestone in ihrem 1970 erschienen Kultbuch "Frauenbefreiung und sexuelle Revolution" ("The Dialectic of Sex") "[d]ie Befreiung der Frau von der Tyrannei der Fortpflanzung" und überhaupt "von ihrer Biologie" "durch jedes nur mögliche Mittel" gefordert. Dabei hatte sie auf das "Potential der modernen Embryologie" und auf die Möglichkeit "künstlicher Fortpflanzung" gesetzt. Da sie jedoch sehr wohl die Gefahren dieser Technologien erkannt hatte, erklärte sie explizit, dass sie "nachrevolutionäre" Gesellschaften im Auge habe, wenn sie über deren Anwendung nachdenke. Offenbar inspiriert durch Firestones Buch 'verwirklichte' Marge Piercy 1976 die Befreiung der Frau durch künstliche Fortpflanzung in der utopisch anmutenden Gesellschaft ihres feministischen Sci-Fi-Bestsellers "Frau am Abgrund der Zeit" ("Woman at the Edge of Time").

Dessen ungeachtet hält die Autorin zurecht fest, dass sich die "kritisch feministischen Diskursverläufe" zu Neuen Gen- und Reproduktionstechnologien seit den 1980er-Jahren stark geändert haben. Unabhängig davon, ob die neuen Techniken begrüßt oder abgelehnt werden, hätten sich diese Diskurse in den letzten ein, zwei Dezennien akademisch etabliert und befassten sich sehr viel konkreter und auch kenntnisreicher mit ihnen und ihren (möglichen) körperlichen, technischen und sozialen Folgen und Risiken. Das ist zweifellos zutreffend und gilt nicht zuletzt für die vorliegende Untersuchung.


Titelbild

Bettina Bock von Wülfingen: Genetisierung der Zeugung. Eine Diskurs- und Metaphernanalyse.
Transcript Verlag, Bielefeld 2007.
374 Seiten, 30,82 EUR.
ISBN-13: 9783899425796

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