Kunstvolle Löcher und der schönste Tod

Thomas von Steinaeckers traumhaft gelungenes Debüt "Wallner beginnt zu fliegen"

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Familienroman ist dieses Buch, ein Gesellschaftsroman und ein Zeitroman, in dem hundert Jahre sind wie ein Tag, dazu von klug komponierter Fülle. Zwei Vorzüge nehmen besonders für Thomas von Steinaeckers ersten Roman "Wallner beginnt zu fliegen" ein: Die Art, wie er das Vergehen der Zeit gestaltet, und die Weitergabe von Informationen an den Leser.

Wie quälend umständlich und überdeutlich wenden selbst gestandene Autoren ganze Kapitel an die Exposition, bis der Leser endlich genug weiß, um der Handlung überlassen zu werden. Steinaecker dagegen beherrscht die Kunst der Lücke. François Truffaut hatte über Ernst Lubitsch einmal gesagt: In seinem "Emmentaler sind alle Löcher genial". Auch Steinaecker setzt auf Aussparungen, hält er doch seine Leser nicht für dämlich, sondern für Komplizen, Mitschöpfer gar. Motive für Handlungen klären sich bei ihm - durchaus unspektakulär - erst hundert Seiten später, spannende Szenen, in denen die Reflexion sich stauend auf die Handlung auswirkt, enden mit einem harten Schnitt, bevor das üblicherweise Entscheidende überhaupt beginnt.

Die Löcher verstärken den Charakter des Buches als Zeitroman im doppelten Sinne. Zwischen den Kapiteln liegen oft Wochen, manchmal Jahre, ohne dass es hervorgehoben würde. Jahreszahlen nennt Steinaecker nur im dritten Teil. Zuvor kann man sich indirekt errechnen, dass die Handlung circa 2005 beginnt und in den 2060er-Jahren endet; mit den Rückblenden erstreckt sie sich über einhundert Jahre. Drei Hauptfiguren aus drei Generationen erleben - wie der Leser mit ihnen - die Zeit als übermächtig trägen Strom, aus dem sie nur kurz auftauchen, bevor sie wieder darin untergehen. Eine gewisse Verwechselbarkeit von Liebespartnern, Hotels, wiederkehrenden Situationen und Alltagsroutine führt bei ihnen zu Desorientierung und existenzieller Verwirrung. Das Leben verschwimmt und zerrinnt in diesem Roman erschreckend eindringlich: Gerade war der Besitzer eines Landmaschinenvertriebs Stefan Wallner noch schockiert von der Nachricht, sein Vater sei gestorben, schon entwickelt er eine Paranoia, die sich verderblich auf seine Frau und seine Firmenpartner auswirkt. Gerade noch stand sein Sohn Costin Wallner als junger Casting-Show-Star auf der Bühne, schon lässt der Erfolg nach und der Kampf um eine zweite, dritte, vierte Karriere beginnt, die in kuriose Abgründe der Popkultur führt. Gerade noch schrieb die Tochter Costins Wendy als engagierte Lesbe und Studentin an ihrer feministischen Abschlussarbeit in Literaturwissenschaft, schon macht sie sich - hetero geworden und gnadenlos opportunistisch - auf die Ochsentour der Probevorlesungen, um eine Hochschulstelle zu ergattern. Am Ende dann kehrt der Roman sehr überraschend in sich selbst zurück. Seine drei Teile kann man dann noch einmal ganz anders lesen: als eine literarische Rekonstruktion aus Lebensüberresten nämlich.

Am simplen Familienroman ist Steinaecker nicht interessiert. Deshalb verwirrt er auch von Anfang an, indem er Szenen wenig verändert wiederholt, manchmal sogar in verschiedenen Leben. Aber auch die Anfälligkeit von Stefan, Costin und Wendy-Wallner für Tagträume, Visionen und Desorientierung reißt immer wieder überraschend aus einer kontinuierlichen Geschichte heraus, ohne sie doch ganz zu verweigern. So sehr sind alle drei Wallners in sich verstrickt, dass sie ihr eigentliches Leben gefährden oder sogar verlieren. Costin Wallner, der seit Kindertagen anfallsartig in die Lektüre von Comic-Szenen versinkt, gewährt das Buch allerdings einen traumhaft schönen Tod, wenn er ganz wörtlich im Trostbilderbuch seiner Kindheit verschwindet.

Solche gefährlich kitschnahen Passagen gleiten nicht ab, weil Steinaecker durchweg auf Sprödigkeit der Darstellung setzt. Lakonische, kurze, hakelige Sätze in meist einfacher Sprache bevorzugt die - allerdings nicht verlässliche - Erzählinstanz und verstärkt damit die Distanz. Die unerbittlich realistisch klingenden Dialoge oder inneren Monologe zu lesen, besonders in den Niederungen der Popkultur mit ihrer verwahrlosten Sprache, tut fast weh, ist aber auch komisch.

Gleichwohl verrät Steinaecker weder Costin Wallner noch die anderen Figuren dieser Welt. Durch das starke konstruktive Element und die unprätentiöse Sprache hält er immer Abstand, allerdings einen wohlwollenden, empathischen. Er macht sich nicht lustig über die Sorgen des Firmenbesitzers, er verspottet nicht die Gefangenen des Popmolochs, er verachtet nicht die Nöte wissenschaftlicher Existenz. Vielmehr beschreibt er die Berufswirklichkeit genau und zeigt, wie sich das Soziale und das Psychische wechselseitig formen. Trostlose Öde und eine verzweifelte ohnmächtige Sehnsucht nach dem anderen, besseren Leben herrschen in allen drei Sphären.

Der Postmoderne ist dieser Roman positiv verpflichtet, da er Filme, Songs, Kafka, Telenovelas und Labels zitiert, literarische Genres vermischt und spielerische Elemente aufweist, da er Montage wie Collage einsetzt und schließlich in die Selbstbezüglichkeit mündet. Dennoch vermeidet Steinaecker die Gefahr der Beliebigkeit, indem er die Konstruktion mit dem existenziellen Ernst verbindet.


Titelbild

Thomas von Steinaecker: Wallner beginnt zu fliegen. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2007.
380 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783627001407

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