Warum echte Lyrik Männersache ist

Oder: Warum Steffen Jacobs' "Lyrik-TÜV" einen Boxenstopp braucht

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nichts ist mehr, was es einmal war - selbst das einstmals so hehre deutsche Bildungsbürgertum ist mittlerweile auf den Hund oder vielmehr auf den Schwanitz gekommen und hat seine in Leder gebundenen und mit Goldschnitt verzierten Klassikerausgaben zugunsten der komprimierten und - horrible dictu! - in billigstes Paperback gehüllten Bildungsbetrachtungen des letzteren aus den Regalen verbannt.

Doch während dieser Umstand manch einem Autor nur Anlass zu kulturpessimistischer Klage gegeben hätte, versucht Steffen Jacobs mit seinem "Lyrik-TÜV" Abhilfe zu schaffen. Auch er, so bekennt er freimütig, habe Bibliophilie vor Kurzem noch für eine Krankheit gehalten, doch sei er nach seiner Wandlung vom ignoranten Saulus zum bibliophilen Paulus nun selbst ins Lager der Bücherliebhaber gewechselt und wolle dementsprechend bei seiner "Prüfung" der deutschen Lyrik des letzten Jahrhunderts vorzugsweise auf eben jene Erstausgaben zurückgreifen, die bei jedem wahren Sammler Suchtsymptome hervorrufen. Doch nicht nur gegen die Unempfänglichkeit des Gros zeitgenössischer Leser für die haptischen und olfaktorischen Reize von Ganz- oder Halblederbänden setzt sich Jacobs ab. Auch die Wahl des Genres kennzeichnet ihn - seines Zeichens selbst Lyriker - als echten Connaisseur: Er habe sich gerade dieser Gattung gewidmet, "[w]eil Gedichte der Inbegriff einer Art von Bildung sind, die den durchschnittlichen Schwanitz-Benutzer höchst unvertraut anmuten wird" - "einer Bildung der Empfindung, des Geistes und der Wahrnehmung, die sich selbst Ziel und Zweck genug ist."

'Hurra!' möchte man freudig ausrufen - verkneift sich, sollte man den Band etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln lesen, derlei enthusiastische Zustimmung im letzten Moment aber lieber doch - endlich jemand, der sich nicht nur selbstbewusst als bibliophiler Snob outet und damit den Taschenbuch lesenden Massen ins unsensible Gesicht schlägt, sondern auch jemand, der sich vehement zu jener literarischen Gattung bekennt, die ansonsten ein eher unbeachtetes Schattendasein fristen muss. Recht so, denkt man sich, und bemerkt gar nicht, wie man dabei mit schweißglänzenden Händen und deutlich erhöhter Herzfrequenz intensiv über das herrliche schwarz-eierschal-weiß marmorierte Einbandpapier streicht und das seidig-rote Lesebändchen genüsslich langsam durch die Finger gleiten lässt.

Mögen Jacobs' Ausführungen angesichts der wundervollen Ausstattung des Bandes - nichts anderes ist man von "Der Anderen Bibliothek" ja gewohnt - auch schon fast wie Lippenbekenntnisse scheinen, so sind sie doch so charmant-unterhaltsam, dass man ihnen einfach Glauben schenken muss: Die Einleitung ist schlichtweg brillant geschrieben - schnodderig und arrogant zugleich, amüsant und sprachgewitzt, ein wahres Fest für jeden Sprachliebhaber. Gut, bei aller entrückter Begeisterung wird man gestehen müssen, dass der Titel "Lyrik-TÜV" etwas forciert-launig klingt und entgegen der exklusiven Attitüde des Vorworts unangenehme Assoziationen an die "Große Achtziger-Jahre-Show" wachruft, durch die sich der Autor gerade jenen Lesern anzubiedern scheint, die er eben noch mit so viel Grandezza deklassiert hat.

Sei's drum, nach einem derart fulminanten Auftakt lehnt man sich entspannt zurück und harrt der Dinge, die da kommen mögen. Doch nein, stopp, man hält kurz inne und schlägt doch noch einmal schnell zum Inhaltsverzeichnis zurück, das ja ansonsten nur von jenen soeben herablassend belächelten Selektivlesern konsultiert wird, die sich - welch unvorstellbare Ignoranz! - nicht dem ekstatischen Erlebnis der Lektüre kompletter Bücher hinzugeben vermögen. Aha, den Auftakt des Bandes bildet also Wilhelm Busch, nicht unbedingt als größter Lyriker des 20. Jahrhunderts bekannt, aber man lässt sich gerne eines Besseren belehren und schließlich gilt ja: variatio delectat. Gefolgt wird Busch von Stefan George, Rilke, Josef Weinheber - hier werden einem die eigenen Bildungslücken plötzlich schmerzhaft bewusst - Gottfried Benn und Peter Rühmkorf.

Man stockt - fehlt da nicht noch was? Zunächst vermag man nicht recht zu sagen, was, doch schließlich dämmert es auch dem feministisch ungebildeten Leser (die Leserinnen werden ihrer Empörung an dieser Stelle schon längst Luft gemacht haben) - wo sind denn die Frauen? Auf Rühmkorf folgen nämlich Enzensberger, Hartung, Gernhardt, Grünbein und schon ist Schluss... das "Jahrhundert deutscher Dichtung", das sich Steffens anschickt zu "prüfen", ist also ein frauenloses Jahrhundert: Weder Else Lasker-Schüler, noch Nelly Sachs, Ingeborg Bachmann oder Sarah Kirsch haben bei diesem TÜV eine Chance. So erfrischend Jacobs anfänglicher Snobismus ist, so befremdlich mutet nun sein Chauvinismus an. Keine Frage: Übermäßige political correctness ist ebenso ennuyant wie kontraproduktiv; doch dass nicht eine einzige Lyrikerin vor des "TÜV-Prüfers" Augen Gnade und somit Aufnahme in seinen Kanon finden kann, erscheint - gelinde gesagt - doch etwas sehr von Vorgestern.

Nun denn, also trotzdem gelesen, was Jacobs zu Wilhelm Busch zu sagen hat. Bald stellt man fest, dass der nicht nur der Verfasser heiterer Reim-Dich-oder-ich-fress-Dich-Verse war, sondern in seinem Band "Zu Guter Letzt" durchaus auch ernstere Töne anzuschlagen wusste. In Form einer amüsanten Gerichtsszene präsentiert Jacobs biografisches Material zu Busch, aus dem hervorgeht, wie sehr dieser unter seinem Vater gelitten haben muss und sich schließlich scheinbar anpasste, um tatsächlich aber insgeheim Zeit seines Lebens subversiver Kritiker der herrschenden Verhältnisse zu bleiben. Es sei Busch wie keinem zweiten Lyriker gelungen, so resümiert der "Prüfer vom Lyrik-TÜV", "aus der Scheiße des täglichen Lebens ein document humain zu formen", das nach wie vor nichts von seiner Frische und Originalität verloren habe. Jacobs' Sicht auf das Werk Wilhelm Buschs ist selbst derart erfrischend, dass man, erneut voll der Sympathie für den 'Mann von der intellektuellen Tankstelle', begierig das nächste Kapitel aufschlägt, um zu sehen oder vielmehr zu lesen, was er denn über Stefan George zu sagen hat.

Jacobs beginnt seine diesbezüglichen Betrachtungen mit einem Blick auf Georges (über-) pathetisches "Ich bin der Eine und bin Beide" und erfreut den mittlerweile wieder geneigten Leser mit einer Parodie desselben: "Ich bin das niesen und die stille / Ich bin der durst und bin das bier / Ich bin der scharfblick und die brille / Ich bin der stil und das geschmier." Doch was nun folgt, lässt das Schmunzeln (übrigens ein von Jacobs innig verachtetes Wort) zu einem rire jaune erstarren. Unbarmherzig drischt der eben noch so verständnisvolle Lyrik-Tester auf den symbolistischen 'Meister' ein: Bestenfalls lächerlich sei dessen überzogenes Pathos, er selbst ein unerträglicher Egomane, ein "lyrischer Verpackungskünstler", dessen Gedichte "Mogelpackungen" seien. Daraufhin zwingt Jacobs den Dichter auf die Couch - die psychologische versteht sich - und analysiert erst einmal dessen Kindheit. Die Frage "Wie wird man so?" fungiert dabei übrigens als analytisches Leitmotiv des gesamten "Lyrik-TÜVs": Anhand biografischer Betrachtungen stellt Jacobs den einzelnen Lyrikern psychologische Diagnosen und vermeint, dadurch die ästhetischen Meriten - oder eben auch die Abwesenheit ebensolcher - ihrer Gedichte erklären zu können. Man erinnere sich: Biografische ebenso wie psychoanalytische Ansätze waren einst durchaus populäre Instrumente der Literaturwissenschaft - so etwa bis in die 1970er- und 1980er-Jahre hinein. Der absolute dernier cri der Literaturanalyse sind sie folglich also nicht mehr, und inwieweit es hilfreich ist, bei der "Prüfung" eines "Jahrhunderts deutscher Dichtung" die Kindheitstraumata - ob reale oder konstruierte - der Dichter aufzuarbeiten, sei dahingestellt. Jacobs' abschließendes Urteil über George ist vernichtend: "Heute, in den ersten Jahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts, ist er einer, der lange vorübergegangen ist. Wir müssen ihm nicht nachwinken, er wüsste es nicht zu schätzen." Ebenso "vorübergegangen", möchte man ergänzen, wie psychoanalytische Literaturkritik.

Es folgt die Betrachtung oder vielmehr 'Begutachtung' von Rilkes Band "Sonette an Orpheus", und da sich Jacobs nun gerade erst richtig warm gelaufen zu haben scheint, kriegt auch der landläufig als Erneuerer der Sonettform bewunderte Lyriker sein Fett weg: Der erste Vorwurf an Rilke ist, dass er doch eh nur ein Pseudo-Intellektueller-Alibi-Dichter sei. Als 'Beweis' hierfür führt Jacobs an, dass Rilke als Bildungs-Shibboleth eines Ex-Bundeskanzlers herhalten musste, zu dessen Parteigängern unser Mann vom Lyrik-TÜV ganz offenbar nicht zählt. Doch es kommt noch schlimmer: Anhand einer Stelle aus einem Brief Rilkes an Lou Andreas-Salomé kann Jacobs 'nachweisen', dass der Dichter zwanghafter Dauermasturbator war. Nun mutiert der Lyrik-Tester erneut zum Hobby-Psychoanalytiker und kann Rilke nicht nur als "lyrische[n] Schnellschützen und Masturbationskünstler" enttarnen, sondern weiß auch, dass jener in jedem seiner Gedichte doch nur versucht habe, seine auto-erotischen Wünsche zu sublimieren. Vor diesem Hintergrund wird die zitierte Zeile: "O hoher Baum im Ohr!" nicht nur zum Ausdruck von Rilkes offenbarer Vorliebe für eine höchst interessante Variante von Auto-Fellatio, sondern auch zum Beweis, dass er diese mit einer Gelenkigkeit praktiziert haben muss, die jeden tantrischen Jogi vor Neid erblassen lassen würde. Das Fazit, das Jacobs dabei zieht, ist jedoch ebenso versöhnlich wie lehrreich: "Hätte Rilke die Kraft und die kritische Selbstdistanz gehabt, auf der Grundlage seiner präzisen Reimskizzen richtige, echte Sonette im tieferen Wortsinn zu schreiben - Woche um Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr - ... gar nicht auszudenken, was für ein 'großer Gesang' dann hätte entstehen können." Also merke: Masturbation führt zwar nicht zu Blindheit und Rückenmarksschwund, kann aber selbst das größte lyrische Talent zum zweitklassigen Verseschmied verkommen lassen!

Apropos 'zweitklassig': Der nächste Dichter, dem sich Jacobs widmet, ist der wohl weitgehend in Vergessenheit geratene Josef Weinheber, dessen 1934 erschienenen Band "Adel und Untergang" der Lyrik-Prüfer nun in den Blick nimmt. Für Weinheber spricht, dass W.H. Auden ein Gedicht über ihn verfasste. Gegen ihn spricht, dass er eine unangenehme Affinität zu den Nationalsozialisten hatte, zu deren Haus-und-Hof-Dichter (oder sollte man sagen 'Blut-und-Boden-Barden'?) er avancierte. Im Zuge des momentan äußerst populären Intellektuellen-Spiels 'Komm-wir-revidieren-einen-Kanon' erscheint Weinheber natürlich besonders interessant: Aufgrund seiner politischen Gesinnung und braunen Verstrickung nach dem Krieg in Ungnade gefallen, bietet Weinheber Jacobs hier die Chance, einen Dichter aus der Versenkung zu holen. Zu dessen 'Ehrenrettung' zitiert der Lyrik-Vorkoster die folgenden Zeilen: "Also komm, und nimmt sacht meine Hand! / Hier ist Lehm, hier ist Luft, hier ist das Land, / hier ist alles, das Erdgegebene. / Wie, du meinst, das sei schön und das nicht? / Laß die Zeit! Hier im Übergang spricht / Das Gebirge so gut wie die Ebene." Für Jacobs sind diese Verse "schön". Dabei stellt sich jedoch nicht nur die Frage, ob 'schön' wirklich eine aussagekräftige Kategorie zur Analyse von Lyrik ist; es wird auch deutlich, dass man über Geschmack eben nicht streiten kann. Ob man manchmal nicht doch gut daran tut, manche Leute in eben der Versenkung zu lassen, in der sie eventuell doch nicht ganz grundlos verschwunden sind, ist hingegen eine Frage, die wohl offen bleiben muss.

Somit weicht die anfängliche Begeisterung des Lesers einer zunehmenden Verschnupftheit, die auch die Betrachtungen zu Benn, dem "eisernen Hobbit", Rühmkorf, dem "Reimfetischist", dessen pubertäre Anorexie Jacobs meisterhaft auf mangelndes "Urvertrauen" zurückführen kann, und Enzensberger (kurz: "HME"), nicht wirklich zu kurieren vermag. Dennoch gelingt es unserem Lyrik-Prüfer - zumindest für einen Augenblick - das Sympathieruder noch einmal zu seinen Gunsten herumzureißen. Bevor er Robert Gernhardt (nicht unberechtigt) als "Anerkennungs-Junkie" enttarnt, dessen Gedichte aber nicht allesamt schlecht seien, und Durs Grünbein als letztlich wohl doch etwas überschätze Lyrik-Hoffnung der 1990er-Jahre charakterisiert, muss sich noch Harald Hartungs "Das Gewöhnliche Licht" der Lyrik-TÜV-Prüfung unterziehen. Dieser Band - wer hätte das geglaubt? - erhält seine Plakette ganz ohne Vorbehalt und wird geradezu euphorisch besprochen. Im Gegensatz zu Weinhebers Versen diesmal völlig zurecht. Das Interessante dabei: Hartung, der als Literaturprofessor in dem unberechtigten Ruf stand, vor allem 'akademische' (was wohl soviel heißen soll wie 'langweilige') Lyrik zu verfassen, gab vor einigen Jahren selbst unter dem Titel "Lyrik am Jahrhundertende" eine lyrische Bestandsaufnahme heraus, die gegenüber Jacobs' Band einen entscheidenden Vorteil hat - es ist eine Anthologie.

Hartungs - im Übrigen viel gelobte - Anthologie bietet auch einen guten Anknüpfungspunkt für das zu ziehende Fazit. Für dieses, man muss es zugeben, soll nach all der eingangs geäußerten Begeisterung für intellektuelle Borniertheit und elitäre Pose auf einen Ratschlag aus den niedersten Niederungen der Populärkultur zurückgegriffen werden: 'Bild Dir Deine Meinung selbst!' Soll heißen: Kein 'Lyrik-Prüfer' - und sei er sprachlich noch so eloquent - ist ein adäquater Ersatz für die eigene Lektüre von und Auseinandersetzung mit Gedichten. Mögen die biografischen Details, die Jacobs über jeden seiner Kandidaten zu berichten weiß, im Einzelfall auch noch so interessant sein, so besitzen Informationen zu den (auto-)erotischen Vorlieben der einzelnen kaum Relevanz für die anfangs propagierte Form der "Bildung der Empfindung, des Geistes und der Wahrnehmung", die sich doch angeblich "selbst Ziel und Zweck genug ist." Obschon Jacobs' Ausführungen stellenweise ausgesprochen amüsant sind, sollte man sich doch fragen, ob man wirklich eines 'prüfenden' Vordenkers bedarf, der einem einflüstert, was genau man von einzelnen Lyrikern und ihrem Werk zu halten habe.

Übrigens: Steffen Jacobs, so informiert eine kurze biografische Notiz am Ende des Bandes, die sich leider auf schmerzhafte Weise über potentielle Kindheitstraumata des Lyrik-Cicerone ausschweigt, "gibt Lyrik-Seminare und geht mit seinen Lieblingsgedichten aus vierhundert Jahren deutscher Literaturgeschichte auf Vortragsreise." Sind seine Vorträge auch nur halb so unterhaltsam wie sein "Lyrik-TÜV", so seien diese allen ans Herz gelegt, die sich nicht daran stören, dass auch dabei wohl nur Gedichte von Männern zu Gehör gebracht werden.


Titelbild

Steffen Jacobs: Der Lyrik-TÜV. Ein Jahrhundert deutscher Dichtung wird geprüft.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
360 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783821845654

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