"Irgendeine Sehnsucht würde immer bleiben"

Karin Kersten zieht in "Hohe Tannen" eine Bilanz der mittleren Jahre

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bis zu ihrem weithin beachteten Erstling "Die Aufgeregten" vor zwei Jahren war Karin Kersten (Jahrgang 1943) vor allem als Übersetzerin englischsprachiger Autorinnen wie Djuna Barnes, Virginia Woolf oder Doris Lessing bekannt. Nun hat sie mit dem im Harz spielenden "Roman für Freunde", wie der Untertitel von "Hohe Tannen" lautet, ihren zweiten Roman bei Klöpfer & Meyer vorgelegt.

Wie in ihrem Erstling, einem vermeintlichen "Großstadtroman", zeichnet Kersten in "Hohe Tannen" mit souveräner Erzähllust, gepaart mit Ironie, Komik und Melancholie, das Porträt einer in die Jahre gekommenen mittleren Generation: "Wenn Menschen in diesem Alter sind, wo es auf der Kippe steht, ob sie noch einmal wild werden oder sich bescheiden, kann man wohl kaum Ruhe erwarten", sinniert Siegrid Backlas alte Haushälterin Hedel. Denn nach dem Tod der alten Backlas kehrt Siegrid, genannt Zicki, aus Italien in das Harzdorf "Hohe Tannen" zurück, ohne zu wissen, was die Zukunft bringt, ohne einen genauen Plan für die nächste Zeit zu haben. In diesem Zwischenstadium des "Nicht-Mehr und Noch-Nicht" will sie jedoch rasch handeln. Sie "übernimmt mal alle Arbeiter", wie es in einer Kapitelüberschrift heißt, und lässt sogleich das Sägewerk des Vaters, in dem einst Zwangsarbeiter beschäftigt waren, abreißen.

Zusammen mit den Altersgenossen und Freunden aus alten Schultagen, dem Lokalhistoriker Dr. Werner Liebig, genannt Wenner, den Zwillingen Magda und Marita, Ott, Arno, Malte, Erni sowie dem "Waldmenschen" und "Fluchttier" Marcel bereitet Zicki in dem abgelegenen Harzdorf schließlich "holterdipolter" die Gründung des "Vereins Grüne Baracken e.V." zur Umsetzung "vielfältiger Harzer kultureller und sozialer Aktivitäten" vor. Der glanzvollen Gründungsfeier, dem "Finkenmanöver", einem "Sangeswettbewerb zwischen Buchfinken, die in verdunkelten Käfigen gegeneinander ansingen", folgt ein "trockener Knall". Die Baracken brennen ab und auch die hohen Tannen, die einst Zickis Bruder Robert, "den seine Freunde Backala oder Backa nannten", das Leben gekostet haben, fallen ebenso bald darauf. "Wenner tat der Anblick der hingestreckten Riesen weh. Die hohen Tannen waren nun einmal das Wahrzeichen seines Heimatortes gewesen. Ohnehin hatte er immer schon ein respektvolles, ja liebevolles Verhältnis zu den manchmal halbversteckten, oft ganz unscheinbaren Wahrzeichen seiner näheren Heimat gehabt. Die hohen Tannen würden ihm fehlen, dachte er, während er die letzten Meter seiner Heimreise zurücklegte."

Karin Kersten hat mit "Hohe Tannen" einen ebenso melancholisch-nachdenklichen wie heiter-komischen Roman geschrieben über die unstillbare Sehnsucht nach Heimkehr und Aufbruch gleichermaßen, nach Liebe und Verwurzelung, nach Ungebundensein und Bleiben zugleich. "Hohe Tannen" ist ein gewitzter Heimat-Roman, der Zickis Erkenntnis "Irgendeine Sehnsucht würde immer bleiben" vielstimmig und pointiert umschreibt, ohne ins Triviale abzugleiten. Nicht zuletzt zahlreiche ironische Autorkommentare bewahren sie davor. So singt Kersten in ihrem neuen Roman virtuos das hohe Lied vielschichtiger Freundschaftsbeziehungen.


Titelbild

Karin Kersten: Hohe Tannen. Roman für Freunde.
Klöpfer, Narr Verlag, Tübingen 2007.
364 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-13: 9783937667904

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