Stranger than Fiction

Uki Goñi rekonstruiert das Netzwerk der argentinischen Nazifluchthilfe und die Beteiligung des Vatikans

Von Jan MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Frederick Forsyths Thriller über die Fluchthelfertätigkeit eines klandestinen Nazinetzwerks im von kollektiver Amnesie gesegneten Nachkriegsdeutschland ist nicht zuletzt wegen seiner verstörenden Plausibilität ein Genreklassiker. Dass der Journalist und Historiker Uki Goñi die „Akte Odessa“ im Titel seines 2002 erschienenen, in der zweiten Auflage nun vorzüglich ins Deutsche übertragenen Buches zitiert, mag daran liegen, dass er sich gut in Forsyths Protagonisten hat einfühlen können. Über sechs Jahre spürte er in us-amerikanischen, schweizerischen, deutschen und belgischen Archiven einem Geschehen nach, das bald alle Züge einer handfesten Konspiration trug.

Bekannt war längst, dass zahlreiche hochkarätige europäische Nazis und Kriegsverbrecher nach der Befreiung ihr Heil in der Flucht nach Südamerika gesucht hatten; und dass das europäisch geprägte Argentinien dabei ein zentrales Ziel war, ist seit der Festnahme Adolf Eichmanns in Buenos Aires 1960 unbestritten. Bislang allerdings hielt man solche Fluchtkarrieren – Goñi fügt seinem Band neben derjenigen Adolf Priebkes, Heinrich Eichmanns und Josef Mengeles die Geschichte Josef Schwammbergers, des Kommandanten dreier polnischer Zwangsarbeiterlager, und des im NS-Euthanasieprogramm federführenden Gerhard Bohne an – für irritierend regelmäßige „Einzelfälle“. Goñi zeigt überzeugend, dass das falsch ist. Er belegt, wie schon in den 1930er-Jahren mit Juan Carlos Goyeneche ein Agent des Generals Juan Domingo Péron Kontakte im nationalsozialistischen Deutschland knüpfte; wie Rodolfo Freude, seit ‚46 Leiter der Nachrichtenabteilung des Präsidenten Péron, zusammen mit dem argentinischstämmigen ehemaligen SS-Hauptsturmführer und SD-Agenten Carlos Fuldner ein regelrechtes Unternehmen aus der Erteilung falscher Einreiseberechtigungen machte. In Argentinien wurden sie dabei von deutschstämmigen argentinischen Geschäftsleuten und rechtskatholischen Kreisen unterstützt, die in ihrem Antikommunismus durchaus Sympathien für europäische Faschisten hegten.

Unter der Ägide der Nachrichtenabteilung Pérons wurde so ab 1947 eine Fluchtroute über Nordeuropa, seit 1948 dann eine Südroute über Italien aufgebaut. Mindestens 300 in Europa zum Tode verurteilte Kriegsverbrecher gelangten auf diesen ‚Rattenlinien‘ unbeschadet nach Südamerika, gedeckt durch ein reibungsloses Zusammenwirken persönlich bekannter, einzelner Akteure. Am Aufsehen erregendsten dürfte jedoch der Nachweis der Verstrickung des Vatikans in diese Vorgänge sein. Nüchtern berichtet das Nachwort zur deutschen Ausgabe über die seit Kurzem veröffentlichten Dokumente des britischen Auslandsgeheimdiensts, die belegen, dass Bischof Alois Hudal – er organisierte unter anderem die Flucht des Kommandanten des Vernichtungslagers Treblinka, Franz Stangl – seine Arbeit unter wissender Duldung von Pius XIII. verrichtete. Die Liebesheirat von Katholizismus und Antikommunismus resultierte, durchgeführt vom Priester Krunoslav Draganovic, etwa in der Durchschleusung des berüchtigten Ustascha-Kommandanten Pavelic und anderer faschistischer Kriegsverbrecher, die so dem Zugriff der jugoslawischen Justiz entzogen wurden. Goñi zeigt, wie alte Seilschaften mit antisemitischem Antikapitalismus und antikommunistischen Endkampfideologien in der Erteilung begehrter Rotkreuzpässe und falscher Ausreisevisa funktional zusammenschießen – pikanterweise unter Duldung westlicher Nachrichtendienste.

Die europäischen Fäden laufen in Argentinien zusammen. Die Hauptakteure konnten sich auf die Kooperation von Personen der argentinischen Einwanderungsbehörde verlassen, die reihenweise – falsche Immigrationsunterlagen mit fortlaufender Numerierung belegen es – gesuchte Kriegsverbrecher einschleuste. Das geschah unter informeller Duldung Pérons, in dessen Villa flüchtige Verbrecher schon mal zum Kaffee geladen oder von der Ikone eines gewissen argentinischen Selbstverständnisses, der zu unverdienter popkultureller Ehre gekommenen Präsidentengattin Évita, bewirtet werden konnten. So begannen zahllose europäische Faschisten unbehelligt ein neues Leben, während die argentinische Einwanderungsbehörde die offizielle Migrationspolitik exekutierte, die vorrangig darin bestand, jüdischen Flüchtlingen und Shoa-Überlebenden die Einreise zu untersagen.

Goñi fingiert nicht eine ‚Organisation‘ (obschon etwa die Flucht Priebkes, der 1948 mit der Berufsangabe ‚Butler‘ in Buenos Aires landete, durchaus organisierte Bemühungen erkennen lässt). Er rekonstruiert Regelmäßigkeiten, die zeigen, wie stummes Einverständnis und schweigende Billigung eine Praxis erzeugen, die explizit und intentional organisiert kaum effizienter hätte sein können. Dem wird Goñis Erzählform gerecht. Ausführlich zitiert er unverhohlen sarkastisch das larmoyante Tagebuch des belgischen Rexisten Pierre Daye, der in unerträglichen Schilderungen seines ‚Exils‘ minutiös Auskunft darüber gibt, wie europaweit jeweils „eine Hand die andere wäscht“. Was sich zunächst als ungeschickte Wiederholung bereits berichteter Sachverhalte liest, erweist sich schnell als taktisch geschickte Markierung. Plötzlich begegnet man bekannten Namen wieder, ist verblüfft über persönliche und institutionelle Querverbindungen: Wie zufällig begegnen sich gesuchte Kriegsverbrecher – ‚Einzelfälle‘ allesamt – beim Präsidenten Péron, finden Arbeit in derselben Scheinfirma, werden bei der Einreise von denselben Beamten betreut. Wie zufällig beginnen sie ihre Reise auf der „Ratline“ am selben Ort, nachdem sie im selben Kloster genächtigt hatten. Das konzise Personenregister erleichtert es ungemein, Goñis raffinierter, ’stereoskopischer‘ Erzählung zu folgen. Dieser Blick erlaubt es erst, auch dort, wo die souverän überblickte Quellenlage die explizite Nennung von Akteuren und Initiatoren verbietet, von einem strukturierten Netzwerk zu sprechen.

Dass die Erzählung kriminalistischen Genrekonventionen mitunter zu sehr folgt (so atmet etwa Eichmann „erleichtert auf“, als er an Bord seines Fluchtschiffes tritt), ist schließlich dort unverzichtbar, wo Goñi vom Entdeckungskontext des Berichteten erzählt. Da finden sich unvollständige, aus dem zugänglichen Bestand entfernte Akten in Besenkammern oder fallen, kaum dass ihre Einsicht beantragt wurde, rätselhaften Feuern zum Opfer. Da denunzieren Staatsbeamte den Historiker als Nestbeschmutzer, während eine staatliche Enquetekommission die Verbindungen des péronistischen Staats zum nationalsozialistischen Deutschland herunterspielt. Goñi enttarnt die Lebenslüge eines Landes, in dem der Péronismus nach wie vor die stärkste identitätspolitische Kraft ist. Wer in der faschistischen Militärdiktatur das journalistische Handwerk erlernt habe, schreibt er, sei vertraut mit der Losung: Stille ist gesund. Das setzte sich fort, auch wenn Goñi für personelle Beteiligungen geflohener Faschisten an Folterpraxis und Staatsterrorismus der Militärdiktatur keine Belege findet. Dieselbe Stille führte unter Carlos Menem 1989/90 zur Begnadigung der Militärjunta und führte zu einer Reihe von Gesetzen, nach denen Verbrechen unter der Diktatur straflos bleiben. Gegen diese Stille skizziert Uki Goñi eine Kontinuität, die mit der Abwehr jüdischer Flüchtlinge 1938 beginnt, die Militärdiktatur einbegreift und bis zu den bislang unaufgeklärten Bombenanschlägen auf jüdische und israelische Einrichtungen Anfang der 1990er-Jahre reicht. Seine verdienstvolle Untersuchung ist damit nicht nur ein für die argentinische Diskussion unverzichtbares Exempel historisch exakter Erinnerungsarbeit. Sie verlangt auch der europäischen politischen Linken eine Reflexion des ‚linken Populismus‘ des Generals Péron ab.

Titelbild

Uki Goni: Odessa: Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher.
Übersetzt aus dem Englischen von Theo Bruns und Stefanie Graefe.
Assoziation A, Berlin 2006.
400 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3935936400
ISBN-13: 9783935936408

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch