Ada und ihr Verlangen

Irène Némirovskys atemberaubender Roman "Die Hunde und die Wölfe" liegt nach über sechzig Jahren zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vor

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht anders als in Frankreich und dem Rest des alten Europas war auch hierzulande das positive Echo überwältigend, das die Wiederentdeckung von Irène Némirovskys Romanfragment "Suite française" vor nunmehr fast schon zwei Jahren in der Literaturkritik und bei der literarischen Öffentlichkeit fand. Die Entstehungs- und Publikationsgeschichte des Textes ist so abenteuerlich, dass sie selbst Stoff für einen Roman über die dunkelste Epoche der deutschen, aber auch der französischen Geschichte bilden könnte.

Bis zu ihrer Verhaftung und Deportation nach Auschwitz im Sommer 1942 hat die 1903 als Tochter eines bedeutenden russischen Bankiers, der nach der Oktoberrevolution mit seiner Familie nach Frankreich fliehen musste, an ihrem Romantorso gearbeitet. Sie kannte den mondänen Luxus der Großbourgeoisie, war aber auch gezeichnet von den tiefen Wunden, die die Vertreibung aus der ukrainischen Heimat bei ihr gerissen hatte. Ihre Töchter Denise und Elisabeth wurden von ihrer alten Hausangestellten aus besseren Tagen vor dem Konzentrationslager gerettet. Und jener große Romantorso der Némirovsky überdauerte die Jahre bis zu seiner Wiederentdeckung in einem Koffer der Tochter Denise, bis diese ihn 1996 einem Archiv vermachte. Atemlos las man Satz für Satz über den Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich, war bestürzt und entzückt von einer Meisterin der kalkulierten und doch suggestiven Sprache, die, obschon in den 1920er- und 1930er-Jahren gewissermaßen ein Star der europäischen Literatur, bis vor kurzem auch in Frankreich noch weniger als ein Geheimtipp gewesen ist. Und doch wird literarhistorisch schon allein vom Personal der "Suite française" her der Zusammenhang zur Literaturszene ihrer Zeit, aber auch noch zur Fin-de-siècle-Literatur vor, um und nach 1900 deutlich. Der feinsinnige Décadent findet sich in dieser Collage, in diesem großen Flucht- und Zeitgemälde ebenso beschrieben wie die Welt der Großbourgeoisie, das Landproletariat, Geistliche und Kleinkriminelle.

Nicht ganz so spektakulär ist die Publikationsgeschichte indessen von Némirovskys Roman "Die Hunde und die Wölfe", der bereits im Jahr 1940 in Paris erschien und nun in einer kongenialen Übersetzung von Eva Moldenhauer vorliegt. Doch zeichnet sich auch dieser Roman durch seine stilsichere Sprache und den weiten literarhistorischen Horizont seiner Verfasserin aus. Weniger als Zeitroman zu verstehen als vielmehr als ein Roman, der eine verschüttete Zeit wiederauferstehen lässt, legt Némirovsky mit ihrem analytisch-sezierenden Blick für das Verborgene und Offensichtliche die gesellschaftlichen und ökonomischen Grundlagen und Kräfteverhältnisse des frühen 20. Jahrhunderts vor und nach dem Ersten Weltkrieg in Ungarn und Frankreich offen, von denen motivische Parallelen in geradezu erschütternder Weise schon auf ihren fast zeitgleich geschriebenen Gegenwartsroman "Suite française" verweisen.

Auch hier wird gleich zu Beginn des Romans der Handlungsraum einer ukrainischen Stadt gleichsam als eine durch gesellschaftliche Hierarchien bedingte Topografie vermessen. Beschrieben wird das soziale und familiäre Umfeld der jungen Ada Sinner, die mit ihrer Familie in der Unterstadt wohnt, wohingegen ihre reichen Verwandten in der Oberstadt residieren. Wie in Dantes "Commedia Divina" teilt sich auch in Adas Umgebung die jüdische Lebenswelt in drei soziale und räumliche Sphären, von denen ihre Familie zwar die inneren Kreise der Hölle verlassen hat und in die Vorhölle aufgerückt ist, aber vom 'paradiesischen' Leben in der Oberstadt noch unendlich weit entfernt ist. Verbunden mit dieser sozialen ist auch eine religiös-weltanschauliche Topografie, denn "die Juden der Unterstadt waren religiös und hingen fanatisch an ihren Bräuchen; die Juden der reichen Viertel hielten sich streng an die Traditionen" und "für die letzteren schien die Treue zu den Riten ihrer Väter zum guten Ton zu gehören und mehr einer Würde, einer moralischen Eleganz zu gehorchen als einer wirklichen Überzeugung".

Diese Eleganz und jenen Reichtum ahnt Ada erstmals, als sie nach einem Pogrom in die Oberstadt flieht, geistesgegenwärtig an der Tür ihrer reichen Verwandten anklopft und dort mit ihrem an den Décadent Charles Langelet aus "Suite française" gemahnenden Vetter Harry Sinner eine schicksalhafte Begegnung erlebt, die den Kern des Romangeschehens ausmacht.

So unerbittlich wie ihr Blick auf die verschiedenen Menschengruppen und Gesellschaftsschichten auf der Flucht in ihrem späteren Roman, so bohrend hat Némirovsky gerade auch in dieser Szene die Frage aufgeworfen, was der Mensch eigentlich sei. Denn die reichen Sinners verweisen das Mädchen wieder des Hauses und für den Leser beginnt ein Zusammenhang mit dem Titel des Romans aufzudämmern, in dem die symbolhaft zu verstehenden "Hunde und Wölfe" zur moralischen und letztlich evolutionär-zivilisatorisch Grundsatzfrage des Romans führen: Stehen Hunde und Wölfe in einem ofensichtlichen verwandtschaftlichen Zusammenhang, so wird gleichnishaft auch für die hier vorgestellte menschliche Gesellschaft die Frage nach der 'Zivilisiertheit', nach den Wertunterschieden von Gesellschaftsschichten in den Raum gestellt: "Diese ausgehungerten Kinder tauchten vor den reichen Juden wie eine ewige Mahnung auf, wie eine scheußliche, schmähliche Erinnerung an das, was sie selbst einmal gewesen waren oder was sie hätten sein können. Niemand wagte zu denken: 'Und was sie eines Tages wieder werden können'".

Nach dieser nächtlichen Begegnung treffen wir Ada im Pariser Emigrantenmilieu wieder - eine nicht zufällige Parallele zu der Vita der Autorin -, wohin sie mit ihrem Mann Ben gegangen ist. Die Beschreibung der neuen Lebenssituation beginnt wiederum mit der sozialen Topografie der Wohngegend, also "jenem Stadtviertel der Ternes, wo Bourgeoisie und Prostitution sich begegneten und oftmals vermischten wie zwei Nebenflüsse ein und desselben Stroms". Als zwei Nebenflüsse zunächst, die sich dann aber zu einem für beider Biografien reißenden Strom verwandeln, begegnen sich Ada und Harry Sinner in eben jenem Paris der frühen 1920er-Jahre wieder. Harry, der mittlerweile die Tochter eines reichen französischen Bankiers geheiratet hat, wird von Ada über den Umweg der Kunst - sie lässt ihm ein Gemälde von sich zukommen, das er zuvor, ohne zu wissen, dass es von Ada stammt, in einem Schaufenster einer Galerie bewundert hat - und die beiden beginnen wie fast vierzig Jahre später die Hauptfiguren in Nabokovs Roman "Ada oder das Verlangen" eine nicht nur ehebrecherische, sondern auch inzestuöse Liebesbeziehung, die Harry am Ende durch Intrigen von Ben an den Rand der Kriminalität bringt und Ada zur großen Entsagenden reifen lässt. Der Blick auf die von Ada bemalte Leinwand bringt aber nicht nur die beiden in Paris wieder zusammen, sondern rückt auch die stark autobiografisch geprägte Thematik der Heimatlosigkeit und des Heimatverlustes in den Vordergrund. Denn Harry versenkt sich in die dargestellte Landschaft wie in eine Erinnerung, die schmerzt und trotz all seines Reichtums unbezahlbar fern vor seinem Auge wiederersteht: "So können bestimmte Gesichter, bestimmte unbekannte Häuser im Gedächtnis ein melancholisches und zugleich süßes Echo wecken, als begegnete man den Zeugen eines vorherigen Lebens. Nein, es war kein Traum, sondern eine ferne, seit langem in Vergessenheit geratene Wirklichkeit [...] Jetzt sah er sie wieder, jene Märztage in seiner Heimat, an denen die Schneestürme auf die Stadt niedergehen und dennoch, im Schutz der Doppelfenster, die ersten Hyazinthen zu blühen beginnen und den Frühling ankündigen."

Trotz der widrigen Umstände, unter denen der Roman entstand und zuerst publiziert wurde, ist das Ende nicht, wie man erwarten könnte, von einem anklagenden Pessimismus durchzogen, sondern viel eher ernüchternd. Und mit der Geburt des Kindes blitzt zuletzt sogar ein Hoffnungsschimmer auf, den es freilich für die Autorin selbst in der Wirklichkeit nicht gab. Dennoch weist auch dieser Roman - und es ist zu hoffen, dass jetzt rasch auch die nicht mehr lieferbaren oder noch nicht ins Deutsche übertragenen Werke der Némirovsky bald publiziert werden - immer wieder auf Némirovskys eigene Biografie zurück, ohne biografistisch zu sein. Immer wieder zehrt sie in ihren Büchern von eigenen Erlebnissen, ohne Bekenntnisliteratur zu schreiben. Und immer wieder versteht sie es, den dunkelsten Abgründen der Menschen detailgenau und psychologisch überzeugend nachzuspüren, ohne dabei Anklage zu erheben - wozu sie, wie kaum ein andere, das Recht besessen hätte.


Titelbild

Irène Némirovsky: Die Hunde und die Wölfe. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer.
Knaus Verlag, München 2007.
251 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783813502831

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