Es rührt sich nichts

In "Anna nicht vergessen" erzählt der Österreicher Arno Geiger von Wartenden und Ungetrösteten

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gegen Ende von Arno Geigers neuem Buch heißt es: "Seltsam, wie wenig oft das, was man tut, mit dem, was einem durch den Kopf geht, zusammenhängt." Die Frage, warum Wunsch und Wirklichkeit so selten übereinkommen, warum das Leben dazu neigt, zur trostlosen Restexistenz zu verkümmern, die allenfalls ab und an von ein bisschen Hoffnungsflackern erhellt wird, ist das verbindende Thema von "Anna nicht vergessen".

Unter diesem Titel hat der österreichische Autor zwölf Erzählungen vorgelegt. An dem Band überrascht vor allem die stilistische, erzähltechnische, aber auch qualitative Heterogenität der Texte: Die Spannweite reicht vom anrührenden Tonband-Gestammel einer Liebenden bis zur praktisch unlesbaren 15-seitigen Auflistung des kompletten Hausrates, den die eigene Kaltherzigkeit in Flammen aufgehen ließ. Ein neuer großer Wurf ist die auf Moll gestimmte Sammlung daher zwar nicht, aber mit ihrer Experimentierfreude, Konsequenz, Empathie und Fabulierlust gewiss auch kein Anlass, sich um Geigers Reputation zu sorgen.

Mit "Es geht uns gut", seinem bislang vierten Roman, katapultierte sich Geiger, 1968 in Bregenz geboren, vor zwei Jahren in die erste Reihe der jungen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Es war vor allem die souveräne Verschränkung von Familien- und Geschichtsroman, die an diesem mit dem Deutschen Buchpreis prämierten Werk beeindruckte. Das tragikomische Neben- und Ineinander von Geschichte und privatem Leben findet sich auch in einigen der Erzählungen aus dem vorliegenden Buch wieder.

"Samstagshunde" spielt 1981, nach der Ermordung des Wiener Stadtrats Heinz Nittel durch palästinensische Terroristen. Politgrößen der Stadt nutzen die Lagerhalle eines Buchauslieferers, um sich in Sachen "Landesverteidigung" fit zu machen. Man präsentiert einander stolz sein mitgebrachtes Waffenarsenal und ballert johlend auf Altpapier. Oder anders gesagt: Man erträumt sich am Wochenende ein Heldenleben, wohl wissend, dass man sich schon montags wieder hinter den Rücken seiner Bodyguards duckt.

Dabei bilden diese bizarren Schießübungen nur den Hintergrund für eine ganz andere, glänzend lakonisch erzählte Geschichte von einem Mann, der vor der Halle seine Jugendliebe wiedertrifft, die zu Schulzeiten nie in seiner Reichweite war. Ihr ist anzusehen, dass sie sich "die Fähigkeit angeeignet hatte, jene Glücksmomente zu erhaschen, die anderen durch die Lappen gehen." Eine Fähigkeit, die dem Mann selbstredend abgeht. Trotzdem erhält er eine zweite Chance - die sich als ebenso trügerisch erweist wie die kitschigen Liebesromane, die als Kugelfang herhalten müssen.

Damit hat er im Unterschied zu den anderen Figuren Geigers sogar noch Glück gehabt. Denn es sind meist Wartende und Ungetröstete, die im Mittelpunkt dieser Geschichten stehen, unspektakuläre, vergessene Verlierer, denen Geiger eine Stimme leiht. "Also, das wär's so ziemlich" ist die Transkription von Tonbandaufnahmen, die eine Frau 1973 ihrem Geliebten nach Australien schickt. Dieser denkt offenkundig nicht daran, sein vor neun Jahren gegebenes Versprechen, nach Wien zurückzukehren, einzulösen. Geiger präsentiert diese wie aus einem Nachlass stammenden mündlichen Briefe quasi-naturalistisch: mit Füllseln, schiefen Sätzen, Pausen und verpassten Anschlüssen - eine ergreifende Flaschenpost verblichener Hoffnungen: "Und weil du sagst,... der Meistbietende kann dich haben. ----- Naja, Erich, das wusste ich nicht. -- Was nennst du meistbietend? ---- Ich biete dir meine ganzen Gefühle und mein Herz, also kann ich dich haben."

Der Rollenprosa bedient sich der Autor auch in anderen Geschichten, erzielt hier jedoch eher satirische Effekte. In "Es rührt sich nichts", einem der schwächeren Texte des Bandes, lässt Geiger einen vom Liebeswahn gepackten Kontrollfreak volle 25 Seiten lang sich im Selbstmitleid suhlen. "Zwischendurch ist sie immer wieder verschollen. Ich habe keine Ahnung, wo sie die ganze Zeit steckt. Das verschafft mir 24 Stunden ununterbrochene Krise. Wenn ich nicht zusehe, dass ich gefühlsmäßig wieder etwas lockerer werde, ist das mein Untergang. Das alles zieht mich fürchterlich hinunter. Hoffentlich ruft Jenny bald an."

Traurigschön ist dagegen die Geschichte von Lukas in "Abschied von Berlin". Eine barmherzige Kellnerin bietet dem Loser nach Zapfenstreich ihre Couch an; und am nächsten Morgen, während sie noch schläft, flunkert er ihrem Klempner sein Beziehungsglück mit ihr so überzeugend vor, dass er kurz selbst daran glaubt. Der Illusion, jetzt beginne ein neues Leben, unterliegen in der (großartigen) Titelstory auch die Opfer von Ella. Ella labt sich an dem schalen Machtgefühl, das ihr der Job für eine "Sicherheitsagentur" verschafft: Im Auftrag von scheidungswilligen Frauen lockt sie Ehemänner in die Falle.

Daheim wird die alleinerziehende Mutter von der Angst gepackt, "dass sie mit jedem Jahr an Lebensfreude verliert, während andere immer glücklicher werden". Ihre Wohnung hängt auf Bitten ihrer beunruhigten sechsjährigen Tochter voller Merkzettel mit der Aufschrift "Anna nicht vergessen". Bei Geiger träumen auch die Kinder von einem anderen Leben.


Titelbild

Arno Geiger: Anna nicht vergessen. Erzählungen.
Carl Hanser Verlag, München 2007.
250 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446209114

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