Paradise yesterday

"1968" als perpetuum mobile der Publizistik und als Knotenpunkt der Literaturgeschichte

Von Roman LuckscheiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Luckscheiter

Seit kurzem verfügt Mexiko über ein Memorial für 1968. Es soll weltweit das erste sein, das letzte wird es nicht bleiben. Zu groß ist die Aura jenes Jahres, über das sich angeblich eine ganze Generation definiert und das die Republik, wenn nicht gar die ganze Welt, verändert zu haben beansprucht. Die Jahreszahl ist zum Symbol geworden, dessen spezielle Aura sich aus der besonderen Heterogenität des dahinter stehenden historischen Ereignisses speist. Eins, zwei, drei, viele Achtundsechzigs gibt es und jeder findet einen Diskurs über die Zeit der Studentenbewegung, dem er sich mühelos anschließen kann - vorausgesetzt, er hat ein gewisses Alter erreicht und hält die vielen Erinnerungsdokumente der Rebellen und ihrer Gegner nicht für Ausgrabungen aus einer weit zurückliegenden Epoche. Denn die Protagonisten von einst sind längst nah am Pensionsalter und es ist reizvoll, sich vorzustellen, wie diejenigen, die damals spontan Kommunen gründeten, heute über den Erwerb von Seniorenapartments nachdenken. Sie verbindet eine Zeitzeugenschaft, die längst unter die jubiläumstaugliche Kategorie des kulturellen Gedächtnisses fällt und von der Vergänglichkeit der Jugend zeugt, als deren ewige Repräsentation ihre Bewegung einst stattgefunden hat.

Dass die Jubiläen von '68 gleichwohl als feste Größen im Medienrummel gelten, liegt an ihrem "mythogenen Potential" (diesen Begriff hat der Potsdamer Slavist Norbert Franz jüngst für die vielfältige Instrumentalisierung Puschkins in der russischen Erinnerungskultur verwendet). Seit Wochen machen Politunterhaltungsmagazine wie der "Stern" oder der "Spiegel" die vierzigste Wiederkehr unserer "kleinen deutschen Kulturrevolution" (Gerd Koenen) zum Topthema und Kassenschlager. Schon die Überschriften der einzelnen Schwerpunktfolgen signalisieren die Vielfalt der Aspekte, unter denen sich das historische Datum fassen und je nach Gusto interpretieren lässt, sei es als Showdown der Ideologien, sei es als Schleusentor für die Popkultur. In den zahlreichen Rückblicken, die der deutsche Herbst 2007 hervorgebracht hat, trifft die historische Paranoia der Achtundsechziger, von einem allgegenwärtigen 'faschistoiden' System bedroht zu werden, nicht selten auf eine Paranoia der Publizisten, die jeden Missstand der aktuellen Gesellschaft auf Weichenstellungen vor fast einem halben Jahrhundert zurückführen wollen. Über die Verantwortung der Intellektuellen kann auf der Projektionsfläche "1968" ebenso gut diskutiert werden wie über die emanzipatorische Relevanz von Drogen, Sex und Rock'n Roll. Eben diese Bandbreite des Ereignisses scheint das Eingangs erwähnte mexikanische Memorial darstellen zu wollen, indem es sowohl an die Akteure eines blutig niedergeschlagenen Aufstands von Mexico City erinnert als auch an die Helden eines alternativen, subkulturellen Lebensgefühls, das dem narzisstisch-religiösen Motto vom Paradise now verpflichtet war.

Im literaturwissenschaftlichen Umgang mit dem Phänomen "1968" ist derweil eine Entspannung zu beobachten. Die auch dort gerne ausgefochtenen, politisch inspirierten Stellvertreterkriege haben sich erschöpft und sind einem eher kulturwissenschaftlich interessierten Blick gewichen, dem sich die Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Ausdrucksformen im Kontext des Paradigmenwechsels Moderne/Postmoderne erschließt. "1968" steht ja nicht nur für eine seit Beginn der 1960er-Jahre literarisch angeschobene Bewegung (man denke nur an die Rolle Hans Magnus Enzensbergers und seines 'Kursbuchs'), sondern auch für ein explosiv verdichtetes literarisches Feld, auf dem es unter dem selbst geschaffenen Sinnfindungsdruck bis weit in die 1970er-Jahre um nichts weniger ging als um den neuen Menschen, um eine neue Subjektivität, um eine neue Geschichte. In gewisser Hinsicht liegt es daher nahe, das Datum in den Kontext einer auch literarischen Modernisierung der Verhältnisse zu stellen. Das trifft für die emanzipatorische Vervielfältigung der öffentlichen Mitteilung ebenso zu wie für den befreienden Sprachgebrauch. Doch damit ist nicht die zeitlose Faszination erfasst, die vom Ereignis "68" auszugehen scheint: Diese liegt vielmehr in seiner regelrecht antimodernen Stoßrichtung begründet, wie sie heute etwa die Globalisierungskritik kennzeichnet. Diesem antimodernen Überwindungsversuch der Moderne wurde damals der Name "Postmoderne" verliehen, maßgeblich inspiriert durch den amerikanischen Literaturtheoretiker Leslie A. Fiedler, der auch in Deutschland für eine "Rückkehr" zu den Mythen der Romantik plädierte und Zuspruch bei Rolf Dieter Brinkmann oder Peter Handke fand.

Eine Studie von Paul Berman zur amerikanischen Revolte ("Zappa meets Havel", 1998) legt auch für die deutsche Bewegung die Vermutung nahe, dass das Wesentliche der Revolte eher in den Bewusstseinslagen der Agierenden angesichts einer modernen Gesellschaft als in der konkreten Verfasstheit der westlichen Demokratien, in denen sie ausgebrochen war, zu suchen ist. Die Bewegung wäre damit nicht in dem von ihr selbst gepflegten marxistischen Modell einer politisch-ökonomischen Krise und ihrer kämpferischen Überwindung zu erfassen, sondern im Bild einer Bewusstseinskrise im Sinne eines "Unbehagens an der Moderne" (Charles Taylor) und deren mannigfachen Kompensation mit dem Ziel einer neuen Sinnfindung - oder gar postmodern: neuer Sinnfindungen.

Im gegenkulturellen Gruppenbewusstsein, vor allem in der Hippiekultur, waren Vereinheitlichungs- und Vereinfachungsphantasien "Schlüsselmotive" eines "entmodernisierenden Bewusstseins", welches "Lebensplanung und Leistung" ablehnt, "dem Leben nach Uhr und Kalender ein Leben im Jetzt" entgegenstellt, die "Nicht-Norm" zur Norm erhebt und eine Sehnsucht nach Gemeinschaft pflegt, so Theodor Leuenberger und Rudolf Schilling in ihrem "Plädoyer für eine nachmoderne Gesellschaft", das 1977 unter dem Titel "Die Ohnmacht des Bürgers" erschien.

Unter der großväterlichen Ägide des Herbert Marcuse wurden denn auch das "Universum der Kunst" als Gegenmodell zum repressiven Staat ausgerufen: "Je schreiender die Irrationalität der Gesellschaft wird", so Marcuse 1964, "desto größer wird die Rationalität des Universums der Kunst". Schon 1963 hatte die "Situationistische Internationale" die nächste Gesellschaftsform als eine Gesellschaft der "realisierten Kunst" angekündigt. Ebenfalls Jahre bevor Leslie A. Fiedler 1968 seiner berüchtigten und mittlerweile gut dokumentierten Vision "Cross the border, close the gap" Ausdruck verlieh und forderte, "dass endlich auch die Scheidewände zwischen Künstler und Publikum fallen", hatte auch Dieter Kunzelmann, Agitator der "Subersiven Aktion", den frommen Wunsch gehegt, dass nicht nur Kunst und Leben, sondern auch Mensch und Künstler Synonyme würden. Die Idee vom Leben im Modus des Ästhetischen als geglückte Kompensation eines Krisenbewusstseins stellt sich dabei als verborgene Schnittmenge zwischen politisch/sozialer und kulturell/literarischer Ebene der Protestbewegung dar, an die sich das Konzept der frühen Postmoderne anschließen ließ.

Das literarische Memorial dieser Jahre stellt Bernward Vespers großer Romanessay "Die Reise" dar - ein Text, in dem Kreativität und Tragik des revolutionären Bewußtseins zusammentreffen. Es erschien zu Anfang der 1970er-Jahre, ediert von Jörg Schröder aus dem Nachlass des Autors, der sich 1969 in der Psychtarie das Leben genommen hatte. In der "Reise" laufen die verschiedenen Strömungen der Protestbewegung zusammen und erzeugen eine einzigartige Konstellation aus Vergangenheitsbewältigung und Zukunftsvision, aus Aufklärung und Romantik, aus politischem und ästhetischem Denken. Es sind Bekenntnisse einer schönen Seele im Kampf mit sich selbst, mit dem Vater (dem Nazi-Schriftsteller Will Vesper) und mit einem intellektuellen Umfeld, das vor allem von Gudrun Ensslin, Bernhard Vespers Verlobter, repräsentiert wurde. Nicht nur als Quellenzeugnis einer Bewusstseinslage gehört der Romanessay in den Kanon deutschsprachiger Literatur nach 1945, sondern auch als fragmentarisches Dokument einer kaum mehr auszuhaltenden Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.

Was vom heißen Sommer literarisch übrigbleibt, sind weder die trockenen Übungen der Agit-Prop-Lyrik oder des Dokumentartheaters noch die biederen Verarbeitungserzählungen der 1970er-Jahre, sondern die antiautoritären Strategien künstlerischer Formgebung. Dabei ergibt sich ein Paradox: Während die freiheitlich entgrenzte Post-Achtundsechziger-Postmoderne auf literarischer Ebene dafür gesorgt hat, dass es vor lauter Selbstverständlichkeiten keinen Raum mehr für Innovationen zu geben scheint, herrscht auf der Meta-Ebene der Literaturtheorie seit nunmehr über drei Jahrzehnten ein ideologiekritischer Zugang, dem nichts mehr selbstverständlich sein will. So zeigt sich auch in der literarischen Welt die Kontinuität jenes Doppelprozesses von gleichzeitiger Akademisierung und Trivialisierung, dem die Jahre um 1968 als Katalysator dienten. Als geschichtsphilosophische Orientierungsgröße haben die "Achtundsechziger" aber vermutlich ebenso ausgedient wie ihre postmodernen Schatten. Nach den Jahren der paradise now-Sehnsucht folgten Jahre der posthistoire-Melancholie, um schließlich beide ihre Diskursmacht an eine andere Konstellation zu verlieren, die erst in zwei Jahren wieder Jubiläum hat: 1989.

Anmerkung der Redaktion: Der Essay greift passagenweise auf: Roman Luckscheiter: Der postmoderne Impuls: '1968' als literaturgeschichtlicher Katalysator. In: 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung. Stuttgart: Metzler, 2007, S. 151-160 zurück.