Gedächtnis ohne Erinnerung

Über Differenz und Wiederholung in Marguerite Duras' "Heften aus Kriegszeiten"

Von Annika NickenigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Annika Nickenig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem Roman "La Douleur" (dt. "Der Schmerz"), in dem Marguerite Duras ihr zermürbendes Warten auf die Rückkehr des nach Buchenwald deportierten Robert Antelme beschreibt, ist eine Äußerung vorangestellt, die dem Nachfolgenden Authentizität verleiht und zugleich auch wieder abspricht: "Ich habe diese Aufzeichnungen wiedergefunden und kann mich nicht erinnern sie geschrieben zu haben."

Mit diesen Worten, die sich von den eigenen Notizen distanzieren, deutet sich jene Dialektik aus Vergessen und Erinnern, aus Fiktion und Erfahrung an, die Dreh- und Angelpunkt der Duras'schen Texte bildet. Dass diese stets einen autobiografischen Ursprung haben, ist spätestens seit Erscheinen des Beststellers "Der Liebhaber" zu einem Allgemeinplatz geworden. In "Der Schmerz" hat das poetologische Verfahren der Autorin - die Konstruktion eines autobiographischen Textes durch die Verflechtung von Erinnerung und Erfindung - eine konkrete Funktion und lehnt sich an eine Diskussion über eine Literatur nach Auschwitz an, in welcher die eigenen Möglichkeiten der 'realistischen' Wiedergabe des Geschehenen angezweifelt und die Prozesse der Transformation in einen literarischen Text notwendig mitbedacht werden.

Duras reflektiert und benennt diesen Vorgang der Fiktionalisierung jedes Schreibens und nutzt ihn zur dezidierten Distanzierung der Inhaltsebene ihrer Texte. Robert Antelme wird zu Robert L., die Realität wird nicht unkenntlich gemacht, aber der literarische Text in seiner Differenz zur Realität gekennzeichnet. Die "Hefte aus Kriegszeiten", nun im Suhrkamp Verlag erschienen, enthalten erste Fassungen späterer Romane und Erzählungen der Autorin, vor allem aber Aufzeichnungen aus eben diesem Zeitraum des Wartens in den letzten Kriegsjahren und der Zeit danach. In die Beschreibung des eigenen Schmerzes webt sich der von Duras imaginierte Schmerz ihres Mannes, sein imaginierter Todeskampf, schließlich sein imaginierter Tod im Graben. Die Mischung aus nüchterner Erzählweise und pathetischer Haltung ist dabei für den Leser bisweilen unerträglich: "Er ist seit drei Wochen tot. Es ist soweit. Ich habe eine Gewißheit. Die Beine gehen weiter. Schneller. Sein Mund ist halb offen. Es ist Abend. Er hat an mich gedacht, bevor er starb. Lust des Schmerzes."

Diese Passage aus dem dritten, dem "Hundert-Seiten-Heft", ruft vor allem aufgrund der Ich-Bezogenheit der Erzählerin Unbehagen hervor. Nicht ohne Grund wurde Duras mehrfach vorgeworfen, ausgehend von einer diffusen "Lust des Schmerzes" das Schicksal der anderen als Schauplatz für die eigene endlos ausgestaltete Subjektivität zu (be)nutzen. Duras' Arbeitsweise bringt zwar interessante Gestaltungsprinzipien und Echoeffekte hervor, birgt aber zugleich die Gefahr, die Grenze zwischen Fakt und Fiktion derart rasant zu überschreiten, dass diese schließlich ununterscheidbar werden. Die dramatisch aufgeladenen Themen ihrer Werke - Schmerz, Liebe, Begehren, Verlust - drohen in Willkür und Banalität abzugleiten.

Aber was ist in diesem Kontext von autobiografischem Schreiben, Erinnern und Erfinden nun eigentlich die Bedeutung der "Hefte aus Kriegszeiten", die - ganz so, wie Duras es in "Der Schmerz" beschreibt - nach langen Jahren der Verborgenheit nun wiedergefunden und veröffentlicht wurden? Wie ist umzugehen mit den autobiografischen Aufzeichnungen einer Autorin, deren gesamtes Schreiben ohnehin das eigene Leben zum Ausgangspunkt nimmt? Handelt es sich hierbei um so etwas wie das Ursprungsmaterial für die späteren Texte der Autorin, sozusagen um die Erfahrungen in Reinform, um eine unmittelbarere Variante der Geschichten, die dann folgen werden? Oder ist mit den "Heften aus Kriegszeiten" nur eine weitere Version der immergleichen Erzählung aus den Tiefen des Archivs geborgen, die wir unter verschiedenen Namen schon längst kennen? Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen, oder, wie es die Herausgeber Sophie Bogaert und Olivier Corpet nicht ohne Stolz verkünden: "Diese Texte, die bei dem mit der Schriftstellerin vertrauten Leser das Gefühl der Entdeckung und zugleich des Wiedererkennens erzeugen, werfen unstreitbar ein neues Licht auf das Werk der Marguerite Duras."

Wenn man zu Bedenken geben darf, dass das Gefühl des Wiedererkennens zweifelsohne die Freude des Entdeckens überwiegt, so mag zumindest die Aussage stimmen, dass sich mit den "Heften aus Kriegzeiten" die Fragen nach Fakt und Fiktion an das Werk erneut stellen lassen. Der Begriff des Neuen und Unmittelbaren ist jedenfalls verfehlt angesichts dieses Œuvres, welches das Verhältnis von Wiederholung und Differenz zum Formprinzip erhebt.

Im ersten, dem "rosa geäderten Heft", finden wir den bekanntesten Duras-Plot wieder: ihre Kindheits- und Jugendjahre in Indochina. Erneut erfahren wir hier, was wir längst wissen: wie die Mutter versucht, ihre ruinierte Familie durch den Ertrag einer Reisplantage durchzubringen, die immer wieder vom Meer überflutet wird und zu immer neuen Schulden führt. Wie die Familienkonstellation angesichts der wachsenden Armut zunehmend von wechselseitiger Abhängigkeit und Gewalt gekennzeichnet ist. Und wie die Tochter, die Erzählerin, schließlich aus niederen Beweggründen eine Liaison mit einem "Einheimischen" beginnt, der die Familie eine zeitlang unterstützt, in Nachtclubs ausführt, mit Geschenken beglückt. Zwar sind es in den unterschiedlichen Romanen mal zwei Brüder und manchmal nur einer, mal ist der nämliche Liebhaber mehr und mal weniger hässlich, reich und großzügig, im Ganzen aber ist die Geschichte so repetitiv wie universell. Weniger als der Inhalt ist insofern schon an dieser Stelle die Form aufschlussreich, das Verhältnis von Differenz und Wiederholung, Neubearbeitung und Verschiebung, in welcher die immergleichen Szenen und Konstellationen beschrieben, fiktionalisiert und verfremdet werden.

Das Prinzip der thematischen und figurativen Wiederholung lässt sich zugleich, innerhalb von einzelnen Passagen, auf der sprachlichen Ebene beobachten: Duras nimmt Sätze, Wendungen und Schlüsselwörter wieder auf, rhythmisiert auf diese Weise ihren Text, ergänzt narrative durch musikalische Kompositionsprinzipien. Ein winziger Augenblick, ein scheinbar nebensächlicher Eindruck - etwa das Aufwachen morgens, während der Regen vorm Fenster zu hören ist und die Concierge ächzend die Mülltonne aus dem Hof schiebt - wird minutiös beschrieben, mehrfach wiederholt, und schließlich endet der Passus mit dem Wunsch, genau das beschreiben zu können: das Aufwachen morgens während der Regen vorm Fenster zu hören ist und die Concierge die Mülltonne aus dem Hof schiebt. Die Wiederholung wird zur völligen Selbstbezüglichkeit. Nicht immer in Form einer egoistischen Ich-Zentriertheit, von der die Gedanken an Robert Antelme zeugen, sondern konkret werkbezogen, als poetologische Reflexion.

In Randbemerkungen und erinnerten Dialogen rückt die Situation des Schreibens selbst ins Zentrum, scheint die Sorge durch, die Dinge nicht richtig ausdrücken zu können, den endgültigen Satz zu finden. Metaliterarische Diskussionen stehen neben selbstverordneten Anweisungen für das weitere Schreiben, manchmal banal ("Wiederkehr der Mülltonne notwendig"), manchmal poetologisch ("Es ist kein einfaches psychologisches Portrait sondern eine Geschichte, ein Roman.") oder textstrategisch ("Mich nicht in die Geschichte verwickeln."). Dass zumindest Letzteres nicht verwirklicht wurde, sollte deutlich geworden sein.

Bisweilen machen sich die Wiederholungen selbständig, bilden ein intratextuelles Netz, und das sind die eigentlich interessanten Stellen in Duras' Texten. "Figuren, Orte, Motive kursieren von einem Text zum anderen und bilden einen Echoraum; die liegengelassenen Bruchstücke eines Manuskripts werden in das nächste aufgenommen, in eine neue Komposition integriert", formulieren die Herausgeber in ihrem Vorwort. Deutlich affiziert etwa das Nachdenken über Auschwitz das Zusammensein mit Robert Antelme und Dionys Mascolo, Duras' späteren Mann, in den Nachkriegsjahren. Bei einem Strandurlaub wiederholt sich die Sorge um den (anderen) Geliebten in der Furcht, er könne ertrinken. In der Imagination der Erzählerin wird die gefährliche Kraft der Wellen dem Feuer der Hochöfen in den Konzentrationslagern ähnlich. Die Angst, schließlich die Annahme, Dionys könne tot sein, ähnelt der Angst im Frühjahr 1945, Antelme könnte tot sein, entpuppt sich als Verschiebung, als Hinausweisen der einmal erfahrenen Angst in die Zeit danach.

Ob die Verstrickung von privatem Leid und historischer Katastrophe, von Imagination und Realität in den Fiktionen der Autorin das Unsagbare schließlich in Bedeutungslosigkeit umwandelt, ist nicht grundsätzlich zu bestimmen, die Frage stellt sich aber auch für die "Hefte aus Kriegszeiten".

Während alle ihre Texte um Erinnerung kreisen, oder wie Michel Foucault es ausgedrückt haben soll, um "Gedächtnis ohne Erinnerung", und zum Teil gleichsam psychoanalytisch funktionieren, insofern die Erinnerungen niemals unvermittelt verfügbar sind sondern immer nur indirekt, so gibt es doch kein 'eigentliches', 'unverfälschtes' Urereignis mehr, das verdeckt oder verschüttet ist und wiedergefunden werden kann. Vielmehr ist die Fiktion oder Imagination in einem solchen Maße auf eine Stufe mit der Wirklichkeit gesetzt, dass beide ineinander übergehen, ununterscheidbar werden.

Dies macht zum einen die Faszination der Texte aus, oder, wie es in einem Sekundärtext heißt, die "Mischung aus Faszination und Langeweile", zum andern liegt in dieser Mythisierung oder Archaisierung auch die Problematik der Texte, in den vermeintlichen Untiefen lauern letztlich nurmehr Banalitäten, während der (eigentlich wichtige) Kontext in den Hintergrund rückt. Dies soll aber genügen hinsichtlich einer Kritik an den Texten, will man sich an eine der erwähnten Schreibanweisungen halten: "Was Madame D. angeht, verletzende Termini vermeiden."


Titelbild

Marguerite Duras: Hefte aus Kriegszeiten.
Übersetzt aus dem Französischen von Anne Weber.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
396 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783518419243

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