Sich nicht damit abfinden

Vorträge, Wortmeldungen und Interviews von Jurek Becker dokumentieren ein engagiertes Schriftstellerleben

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seinem auch verfilmten Roman "Jakob der Lügner" war Jurek Becker in den 1970er-Jahren weit über die deutsch-deutschen Grenzen hinaus berühmt geworden. Als Kind polnischer Juden wurde er 1937 in Lodz geboren und überlebte Ghetto und KZ. Als Neunjähriger erlernte er die deutsche Sprache. Später, in der DDR, machte er Abitur und leistete seinen zweijährigen Dienst in der Armee. Becker studierte Philosophie, heiratete und lebte als Vater zweier Söhne in Ostberlin als freier Schriftsteller. Er verfasste Drehbücher für Film und Fernsehen sowie satirische Texte für das Kabarett "Die Distel". Stationen, die später als Unterfutter für ein schöpferisches und weltzugewandtes Leben dienen würden. Aber letzteres sollte sich erst in Beckers zweitem, oder zutreffender drittem Leben, entfalten. Der vorliegende, von Beckers Witwe herausgegebene Band mit Aufsätzen, Vorträgen und Interviews war ursprünglich, wenn auch unter anderem Titel, noch von Jurek Becker selbst zusammengestellt worden.

"Sich nicht damit abfinden wollen", ist die Haltung, die Jurek Beckers Äußerungen über die Jahre hinweg wie ein roter Faden durchzieht. In der DDR hatte er sich als Mitglied der SED als das empfunden, "was man einen guten Genossen nennt". Nach der Ausbürgerung des oppositionellen Kommunisten Wolf Biermann im November 1976 hatte sich im Zuge eines landesweiten Protests gegen diese Maßnahme die kulturpolitische Situation in der DDR deutlich verschärft. Beckers "Stellungnahme vor der Parteiversammlung des Schriftstellerverbandes der DDR am 07. Dezember 1976" legte seine mutige Grundhaltung an den Tag. Er schrieb und bewegte sich, als lebe er in einem freien Land - was unter den gegebenen Umständen zwangsläufig zu Zusammenstößen mit einer bornierten Staatsmacht führen mußte. In Beckers Verweigerung, Mechanismen der Vorsicht zu übernehmen, demonstrierte das SED-Mitglied seine Distanz zu den Verhältnissen. Mit einem Mehrjahresvisum ausgestattet, hatte Jurek Becker 1977 die DDR verlassen. Das Visum war später verlängert worden und lief im Dezember 1989 aus - zu einem Zeitpunkt, als die gesamte DDR ein Auslaufmodell geworden war.

In Westberlin konnte Becker unbehelligt leben und arbeiten, was nicht bedeutete, daß er sich nicht ebenfalls kritisch zu Vorgängen äußerte, die ihm mißfielen. Mit Vergnügen nahm Jurek Becker Vortragsreisen und Lehraufträge in den USA an, die sich über Monate hinzogen. Sein ganzes Leben schien wie ausgewechselt.

Im Westen war Becker kritischer Sozialist geblieben, weil ihm die ursprüngliche Absicht des Sozialismus "die Verhältnisse der Menschen untereinander zu revolutionieren" aktuell geblieben war: "Die großen Kulturtaten unserer Zeit - das wären Abrüstung, Beseitigung des Hungers in mehr als der halben Welt, die Sorge um unsere Umwelt. Man muß sich wünschen, daß immer mehr Menschen ihre Zuständigkeit für all das erkennen. Vom Bewußtsein der eigenen Ohnmacht zum Bewußtsein der Stärke ist ein elend weiter Weg. Doch es gibt keinen anderen, wenn man auf die Zukunft nicht verzichten will".

Beckers beste Stellungnahmen sind von einer unvergleichlichen Mischung von präziser Genauigkeit und nüchterner Wortwahl gekennzeichnet. Manche seiner Einsprüche sind von ätzender Schärfe. Besondere Verachtung hegte er gegenüber dem Mitläufertum und Opportunisten jeglicher Coleur.

Jurek Becker war souverän genug, sich seine Fehleinschätzungen einzugestehen. Seine harsche Kritik Israel gegenüber korrigierte er später. Die deutsche Einheit als brennende Sehnsucht war ihm eingestandenermaßen fremd geblieben.

Als ein führender Unionspolitiker seinerzeit von "kultureller Entartung" in den offenen Gesellschaften gesprochen hatte, wurde er von Jurek Becker für diese Formulierung kritisiert. In einer seiner letzten Wortmeldungen, "Das Verschwinden der Wörter", unterzieht er den herrschenden pseudokulturellen Betrieb einer vernichtenden Kritik.

Jurek Becker nutzte die ihm verbliebene Zeit auf seine Weise. Er veröffentlichte, trotz Vortragsreisen in die ganze Welt, großartige Romane und Erzählungen. Die Fernsehserie "Liebling Kreuzberg" mit seinem Freund Manfred Krug in der Hauptrolle wurde ein gewaltiger Erfolg. Jurek Becker starb, viel zu früh, am 14. März 1997 in Sieseby an der Schlei in Schleswig-Holstein.


Titelbild

Jurek Becker: Mein Vater, die Deutschen und ich. Aufsätze, Vorträge, Interviews.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
326 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783518419465

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