Die letzte Intellektuelle

Unwiderstehliche Mischung aus Seriosität und Glamour: Daniel Schreiber legt die erste Biografie über Susan Sontag vor

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man muss sie sich vorstellen: wie sie sich als Teenagerin in Los Angeles verbissen Fremdwörter aus den Literaturzeitschriften notierte, um den Jargon der New Yorker Intellektuellen zu lernen. Wie sie sich in der erstickenden Atmosphäre ihres kleinbürgerlichen Elternhauses als "resident alien", als Ausländerin mit Aufenthaltserlaubnis fühlte, umgeben von "Idioten". Und wie sie sich 1947, mit 14 Jahren, einfach so bei Thomas Mann zum Kaffee einlud - um sich für den Rest ihres Lebens dieses bizarren Treffens zu schämen: Denn der vergötterte Autor und Repräsentant der europäischen Kultur erkannte in ihr nicht die künftige Kollegin, sondern nur eine gewöhnliche Highschool-Schülerin.

Es war nicht leicht, "die" Susan Sontag zu werden, die wohl bedeutendste amerikanische Essayistin des 20. Jahrhunderts und "moralische Stimme" ihrer Nation. Daniel Schreiber hat jetzt die erste Biografie der im Dezember 2004 verstorbenen "letzten Intellektuellen" mit der exzentrischen weißen Strähne im schwarzen Haar vorgelegt. Ihr Nachlass ist zwar noch bis 2010 gesperrt, doch konnte der in New York lebende deutsche Journalist auf bereits veröffentlichte frühe Tagebücher Sontags zurückgreifen sowie das Archiv ihres Verlegers Richard Straus einsehen. Und er sprach mit zahlreichen Freunden und Weggefährten wie ihrem Sohn Daniel Rieff oder ihren Agenten Andrew Wylie. Das Resultat ist ein exzellent geschriebenes, ausgewogenes Porträt Sontags, das mit seiner klugen Mischung aus Empathie und Distanz für sich einzunehmen versteht.

Dazu gehört, dass Schreiber auf Selbstwidersprüche oder Unglaubwürdigkeiten in Sontags unzähligen Interviews hinweist. Ihre Angaben zum Umfang ihrer Kindheitslektüren etwa wären schon zeitlich nicht möglich gewesen und dienten "allenfalls der Aura des Genies, mit der sich Sontag in späteren Jahren immer bewusster umgab". Ein "Wunderkind" war die am 16. Januar 1933 in New York geborene Susan Lee Rosenblatt dennoch. Ihr Vater starb bereits 1938 auf einer Geschäftsreise in China, und das Zusammenleben mit ihrer alkoholkranken, depressiven Mutter ließ das frühreife Kind sich in die Literatur flüchten.

Mit zwölf Jahren übernahm sie von ihrem Stiefvater Nathan Sontag, einem Kriegsveteranen, den Nachnamen - der "Beginn ihrer lebenslangen, tief empfundenen Idee der Selbsterfindung". Das "Projekt Susan Sontag", wie sie es selbst nannte, war gestartet. Ihr "Wille zur Intellektualität" spielte ihr jedoch zunächst einen Streich. Nachdem sie mehrere Klassen und gleichsam auch ihre Pubertät übersprungen hatte, ging sie schon mit 16 aufs College, heiratete mit 17 ihren Soziologie-Dozenten Philip Rieff und wurde mit 19 Mutter. An Rieffs Seite lernte sie zwar Geistesgrößen wie Herbert Marcuse oder Paul Tillich kennen, doch setzte die Ehe Sontags Drang nach Selbstverwirklichung Grenzen.

Dank eines Stipendiums allein in Paris, entdeckte die Doktorandin aus Harvard Truffaut und Godard, den Nouveau Roman, das Leben der Bohème und bislang verborgene Seiten ihrer Sexualität. Zurück in den USA, im Gepäck die romantische Idee vom öffentlichen Intellektuellen à la Sartre, erklärte sie dem ahnungslosen Gatten noch am Flughafen ihre Scheidungsabsicht. Zum Schock wurde für sie der Kampf um das Sorgerecht für ihren Sohn, bei dem sie öffentlich mit dem Vorwurf ihres Ex-Mannes, lesbisch zu sein, konfrontiert wurde. Bis zum Ende ihres Lebens machte sie aus ihrer Homosexualität, zum Ärger der Schwulen- und Lesben-Bewegung, ein öffentliches Geheimnis, auch deshalb, so Schreiber, weil Sontag als Autorin in keine Schublade gesteckt werden wollte.

1959, als allein erziehende, mittellose 26-jährige Mutter, zog Sontag nach New York. Mit ihrer "unwiderstehlichen Mischung aus Geist, Hipness, Sex und Schönheit", einem unstillbaren Erfahrungshunger und schier grenzenloser Energie eroberte sie die dortige Kunst- und Literaturszene im Sturm. Ihre Essays über die schwule Camp-Ästhetik oder das Ende der Interpretation elektrisierten und provozierten das intellektuelle Establishment gleichermaßen. Sontag polarisierte, weil sie die Spielregeln der Hochkultur verletzte: Ihre Texte begeisterten sich nicht nur, damals unerhört, für Phänomene der Massen- und Subkultur, sie erschienen teils auch in Middle-brow-Magazinen wie Vogue oder gar dem Playboy.

Sontag wurde mit ihrer "Mischung aus Seriosität und Glamour" zur Ikone, zum "intellektuellen It-Girl", ein Image, das sie immer wieder auszunutzen verstand, etwa in ihrem Kampf gegen die Metaphorisierung von Krankheiten wie Krebs und Aids oder in ihrer Rolle als politische Aktivistin. 1967 ließ sie sich bei einer Demonstration öffentlichkeitswirksam festnehmen und stilisierte sich später zur Mitbegründerin der Friedensbewegung, obwohl sie in Wahrheit "eher spät", so Schreiber, dazugestoßen war. Bei ihrer weltweit beachteten Beckett-Inszenierung im belagerten Sarajevo 1993 spricht der Biograf Sontag dagegen vom Vorwurf der Selbstinszenierung frei. Sie habe nur nicht begreifen können, dass das Ideal des politisch engagierten Intellektuellen in der Postmoderne anachronistisch und unglaubwürdig geworden war.

Bereits in den 1970er-Jahren empfand Sontag ihr Image und ihre zahlreichen Aktivitäten zunehmend als Hindernis auf dem Weg zur Realisierung ihres eigentlichen Lebenstraums, der Literatur. Schreib- und Lebenskrisen begleiteten sie neben ihrer Krankheit, bei Vorträgen präsentierte sich Sontag oft launisch und unberechenbar. Als Autorin schrieb sie vier Romane in vier Jahrzehnten, begann unlesbar-hochmodernistisch und endete beim opulent erzählten Historienwälzer. Für die eher durchwachsenen ästhetischen Qualitäten ihrer eigenen Romane war diese große Kritikerin zeitlebens blind. Gegen Ende ihres Lebens glaubte sie sogar, ihre Romane würden noch gelesen werden, wenn ihre frühen Essays längst vergessen wären.


Titelbild

Daniel Schreiber: Susan Sontag. Geist und Glamour. Biographie.
Aufbau Verlag, Berlin 2007.
342 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783351026493

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