Mobilität als Deformation

Clemens Niedenthal schreibt über Abbildungen automobiler Ordnungsstörungen

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit der Ankunft des Automobils beginnt nicht nur das Zeitalter der modernen Mobilität, des Individualverkehrs, der nur im Stau zum Erliegen kommt, es beginnt auch das Zeitalter des Autounfalls. Das knatternde Gerät, das auf den schlecht gepflasterten Landstraßen Deutschlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Pferde scheu macht, wird in den kommenden Jahrzehnten die Bewegungsgewohnheiten der Menschen revolutionieren, es wird ihren Blick auf die Welt gründlich verändern und es wird zum unentbehrlichen Bestandteil des täglichen Lebens. Und es wird zum Mörder an seinen Fahrern und an allen, die mit ihm mit allzu großer Geschwindigkeit zusammenstoßen.

Wenn die Dynamisierung der gesellschaftlichen Veränderung im Automobil seinen sinnhaften Ausdruck findet, wenn die Ordnung der Moderne von Flüchtigkeit wie von Gleichförmigkeit bestimmt ist, dann ist der Autounfall - noch vor Autopanne und Stau - sein größter anzunehmender Störfall. Denn er steht als besondere Sensation dem Wunsch des Fahrenden entgegen, von einem Ort zum anderen zu kommen. Das Versprechen der allgemeinen und zugleich individuellen Mobilität, das dem Auto innewohnt, wird vom Unfall suspendiert. Wo die Nationalsozialisten nicht nur mit den arbeitsfördernden Maßnahmen des Autobahnbaus, sondern auch mit den kontemplativen Seiten des Autowanderns prunkten, ist der Unfall das eindringliche Dementi der völligen Beherrschbarkeit von Geschwindigkeit und Maschine. Der Mensch büßt mit seiner körperlichen Versehrung.

Der Autounfall greift massiv in die Integrität des einzelnen ein. Er zerstört eben nicht nur das Gefährt, sondern auch den Fahrer. Die zahlreichen Fotos, die Clemens Niedenthal seinem Band über den automobilen Unfall beigibt, zeigen denn auch immer das zerstörte Fahrzeug und meistens den getöteten oder mindestens einigermaßen demolierten Fahrer.

Fallen freilich in der Frühzeit des Autounfalls die "Ungleichzeitigkeiten" von Auto und Umwelt besonders ins Auge, wird das Auto in den folgenden Jahrzehnten mehr und mehr zum Ausdruck der sich stets weiter beschleunigenden Welt, die auf ihre Insassen keinen Rücksicht mehr zu nehmen braucht. Nachdem das Auto den öffentlichen Raum neu strukturiert - die Fußgänger werden von der Straße verdrängt, die zum exklusiven Raum des Autos wird - , kann es selbst zum Motor des Fortschritts werden, und zu einer seiner mythenbildenden Faktoren. Groß sind Autofahrer, die nebenher auch Stars waren und schließlich durch ihr Gefährt zu Tode kamen: Jochen Rindt, James Dean, Ayrton Senna. Mit ihrem Autotod ist ihr Ruhm noch gewachsen.

Das hat nicht zuletzt die Autoren auf den Plan gerufen, von denen viele begeisterte Autofahrer oder wenigstens Autoreisende waren. Hermann Hesse ließ sich gern herumfahren, hatte aber auch keine Skrupel im "Steppenwolf" auf Autos schießen zu lassen. Bertolt Brecht war derart autobegeistert, dass er sogar ein beeindruckendes neusachliches Werbegedicht schrieb, um sich eins damit zu verdienen, ein österreichisches dazu, das aus einer Waffenfabrik stammte: "Singende Steyrwagen". Als er es wenig später zu Schrott gefahren hatte, gab er sich sogar für eine weitere Werbemaßnahme her, bei der die Sicherheit des Wagens gepriesen wurde - wofür es einen weiteren Wagen gab. Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" beginnt eben nicht nur mit einer Wetterfront, sondern auch mit einem Unfall, an dessen Beispiel die Welt erklärt und damit wieder in Ordnung gebracht wird. Franz Kafka empfahl ganz unliterarisch dem Versicherungsunternehmen, für das er arbeitete, die fotografische Dokumentation von Unfällen, um sie besser erfassen, verstehen und vielleicht verhindern zu können. Und Jack Kerouac fuhr in "On the road" nicht nur quer durch die USA (und das gleich mehrfach), er ließ seine Helden auch die Autos, mit denen sie unterwegs waren, zu Schanden fahren. Mobilität ohne Schrott ist eben auch für Autoren nicht zu haben.

Auch im Film wurden Auto und Autounfall zu sinnhaften Elementen: Für Godard war das Auto nicht nur Ausdruck der jeweiligen Klassenverhältnisse, er ließ Autos als Repräsentanten der Klassen sogar aufeinander prallen, was zwar nicht zur Revolution, aber zu gefüllten Schrottplätzen und Krankenhäusern führte, wie man annehmen muss. Die junge Marianne Faithfull als "Girl on a motor bicycle" kommt nie bei ihrem Geliebten (Alain Delon mit Hornbrille und Pfeife, gruselig) in Heidelberg an, sondern verunglückt. Strafe oder Konsequenz?

Clemens Niedenthal lässt seine Unfälle recht kurzweilig und vor allem reich bebildert Revue passieren: Vom Anbeginn an ist das Autofahren ohne den Unfall nicht zu denken. Dabei ist der Unfall nicht nur Störfall, sondern auch Sensation. Die Menschen zieht es unmittelbar an den Unfallort, um zu helfen - vielleicht - , aber vor allem um zu gaffen. Und dieses Buch ist auch nichts anderes als der Blick auf eine solche Sensation, die hier einmal nicht nur die Statistiker und Experten, sondern eben auch den Menschen auf der Straße interessiert (wo ja eben auch der Unfall geschieht). Versammeln wir uns also um dieses Unfallbuch.


Titelbild

Clemens Niedenthal: Unfall. Porträt eines automobilen Moments.
Jonas Verlag, Marburg 2007.
144 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783894453831

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