Bericht aus einer untergegangen Epoche

Jean Amila schickt eine Pariser Lehrerin aufs Land, und das im Jahr 1958

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einer längst vergangenen Zeit, in einem fernen und sehr fremden Land: Als Jean Amila seinen Roman schrieb, war dieses Land vielleicht noch nicht so fern und fremd, aber heute, aus der Distanz von 50 Jahren und einer Entwicklung, die wir Modernisierung nennen und bei der kein Stein auf dem anderen geblieben ist, ist nichts mehr von dem wahr, was in den 1950er-Jahren (in Frankreich oder auch sonstwo) noch real gewesen sein mag. Die Normannen sind neben den Bretonen die ewig Widerborstigen im Zentralstaat Frankreich. Das mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass - zumindest in diesen frühen Zeiten - der als Calvados bekannte Apfelbrand zu den Grundnahrungsmitteln auf dem Land gehörte. Der Kaffee für die Schulkinder? Ohne einen Schnaps ist das auch nur gefärbtes Wasser. Eine Erkältung im Anmarsch? Das Beste dagegen ist ein großzügiger Rausch.

Bemerkenswert - und bemerkenswert kundig - wie die Figuren in Amilas Krimi mit den Krügen, Schalen und Bechern umgehen, in denen der Schnaps aufbereitet und genossen wird. Da dampft und brodelt es, und intensive Geruchswolken ziehen durch die Räume und Landschaften. (Der Destilliervorgang hingegen bleibt außen vor, nichts zischt oder explodiert, und es gibt auch keine Ethylalkoholleichen: Stets heißt es: Der ist noch gut, aber nicht mehr lange.)

Schwarzbrennerei ist in Frankreich ein Thema wie die Prohibition in den USA. Von Amts wegen gibt es Steuerfahnder, die sich den Schwarzbrennern an die Fersen hängen, obwohl sie selbst dem "Guten" etwas abgewinnen können. Der Schnaps gehört zum alltäglichen Leben, das Verhältnis zwischen Steuerfahndern und Brennern beruht auf langen und bewährten Traditionen: Hier die bodenständigen Bauern, die sich ihre angestammten Rechte nicht nehmen lassen, dort die Hüter des Steuerprivilegs, die wissen, welche Grenzen sie besser nicht überschreiten, die wissen, welche Höfe sie wann besser nicht besuchen, wollen sie nicht einen Volksaufstand riskieren.

Aber das gleichermaßen fragile wie belastbare Gleichgewicht gerät ins Schwanken, als das Schwarzbrandgeschäft in die Hände von professionellen Schiebern gerät. Aber der Reihe nach.

Zwei Ereignisse stehen am Anfang: Vater und Sohn Soulage bringen ihre Produktion zum Landwirt Bardin, der als Sammelstelle für den Weitertransport nach Paris fungiert. Dabei werden sie von den Steuerfahndern Augereau und Carbonnier überrascht und liefern sich mit ihnen eine abwechslungsreiche und verblüffende Verfolgungsjagd, die für die Polizisten in einem Teich endet - viel verspottet von den Dorfbewohnern, die herbeieilen, um das Schauspiel gebührend zu würdigen.

Zugleich kommt eine junge Lehrerin - Marie-Anne, eine Cousine Augereaus - für ein Jahr an die Privatschule von Nomville. Auf sie warten sämtliche Momente des Praxisschocks, dem sich junge zivilisierte Lehrer ausgesetzt, und die besonderen Umstände in Nomville. Denn der etwas überschwängliche Umgang mit dem Alkohol macht vor der Schultür und dem Pfarrhaus nicht halt. Der Pfarrer ist ein Alkoholiker höchsten Grades (sein später versuchter dreitägiger Entzug endet denn auch fatal), die Schulleiterin herrscht über ihre Schützlinge mit Strenge und hohem Blutalkohol. Das ist für eine Zwanzigjährige, die nicht nur Flausen im Kopf hat, sondern auch noch keinen Tropfen Alkohol trinkt, schlimmer als schlimm.

Beide Ereignisse kommen zusammen, als sich die junge Lehrerin und der junge Pierre Soulage begegnen und sich einander zuneigen. Der Schwarzbrenner und die Lehrerin, ob das wohl gut geht?

Die "Abenteuer" dieser beiden gegensätzlichen Charaktere, die gleichwohl Gefallen aneinander gefunden haben, geben die Gelegenheit, sich intensiv mit Land und Leuten zu beschäftigen. Mit den dumpfen, alkoholgesättigten Bauern, die starrsinnig tun, was sie schon immer getan haben, die Lokalgewaltigen wie Bardin, der zwischen dieser traditionsbehafteten Welt und der sich rasant ändernden nahe gelegenen Metropole vermittelt, die Schieberbande, die den Transport der Schwarzware generalsstabsmäßig vorbereitet und sich dabei mehr und mehr gegen die staatlichen Übergriffe armiert: Kolonnen mit Funksprechgeräten, Maschinengewehre, Vorrichtungen, mit denen Öl auf Fahrbahnen und Windschutzscheiben der Verfolger versprüht werden kann, und einiges mehr.

Mit Pierre, der sich auf die Schieberbande einlässt, tauchen wir ein in diese Welt, mit Anne-Marie in die andere. Beide gehen mit dem ungläubigen Blick des Novizen und Fremden durch diese Welten, und am Ende werden sie feststellen, dass beide keinen Bestand haben werden. Die Schieberbande geht ebenso unter wie die Calvados-Enklave im Westen Frankreichs. Für beide ist die Zeit irgendwann vorbei, für schießwütige Kriminelle wie für die Kleinbauern in der tiefsten Provinz. Irgendwie auch schade.


Titelbild

Jean Amila: Bis nichts mehr geht. Krimi.
Übersetzt aus dem Französischen von Helm S. Gerner.
Conte-Verlag, Saarbrücken 2007.
218 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783936950533

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