Kulturwissenschaftlicher Nach-Eifer

Peter Sloterdijk über den Kampf der Monotheismen

Von Martina Wagner-EgelhaafRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Wagner-Egelhaaf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Peter Sloterdijk hat sich noch nie davor gescheut, weit auszuholen und große Linien zu ziehen. Auch diesmal trägt er wieder dick auf. Sein wie immer rhetorisch forsch zupackender Essay mit dem gezielt doppeldeutigen Titel "Gottes Eifer" hat sich nichts Geringeres vorgenommen als eine Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der drei monotheistischen Weltreligionen und eine Erklärung des ihnen inhärenten Gewaltpotenzials. Seine Grundthese lautet, dass die von Christentum und Islam zu verantwortenden Gewaltakte keine Verfälschungen an sich freundlicher religiöser Lehren, sondern Entäußerungen ihres konstitutiven polemogenen Potenzials sind.

Gleich zu Beginn seines Buches baut der Autor Sicherungen ein: Nichts von dem, was er im Folgenden sagen werde, sei, theologisch, politisch, religionspsychologisch, harmlos. "Ich schlage eine Art von Blasphemie-Klausel vor und lade den Leser, die Leserin ein, nach einer Bedenkzeit zu entscheiden, ob er oder sie mit der Lektüre fortfahren will. Dieser Abmachung gemäß wäre eine Reihe von Phänomenen, die traditionell dem Bereich der Transzendenz oder des Heiligen zugeordnet wurden, für nicht-religiöse (potentiell lästerlich wirkende, wenngleich nicht so intendierte) Neubeschreibungen freizugeben".

Die Rezensentin hat sich - nach nicht allzu langer Bedenkzeit - entschieden weiter zu lesen und wurde nicht nur mit einem Feuerwerk pointierter Formulierungen, sondern auch mit provokativen Sichtweisen belohnt, die sich der holzschnittartigen, gleichwohl Konturen modellierenden Überzeichnung verdanken. Über disziplinäre Grenzen setzt sich der Autor nonchalant hinweg, etwa wenn er sieben Aspekte von Transzendenz entwickelt und dabei in einem bunten Strauß religions- und kulturwissenschaftliche, biologistische und systemtheoretische Blüten zusammenbindet: das Generationen übergreifende, für den Menschen nicht beobachtbare Langfristige, die Verkennung des (biologisch determinierten und von Sloterdijk als Stressreaktion interpretierten) "Heftigen" (kulturgeschichtliches Beispiel: der Zorn des Achilles), die als souveränes Nicht-Reagieren Gottes gedeutete Verkennung der "Unerreichbarkeit des Anderen", die Verkennung der Immunitätsfunktionen, die für das Funktionieren von Organismen und Systemen erforderlich sind, die Vorstellung einer die menschliche Intelligenz überragenden Intelligenz, die eben der menschlichen Intelligenz hilft, sich selbst richtig zu verstehen, der topologische Aspekt des Todes, das heißt die Frage nach dem Ort, an den die Verstorbenen gegangen sind, und die Offenbarungsidee, vorgestellt als eine "Botschaft 'von drüben'".

Kein "Monotheismus ohne Ranking-Eifersucht", so diagnostiziert der Autor und richtet seinen Blick zunächst auf die Zeit der babylonischen Gefangenschaft (586-538 vor der Zeitenwende), in der die jüdische Theologie ihre bis heute erkennbaren Konturen ausgebildet habe. In dieser Zeit sei der Gott Israels "in einen semantischen Nahkampf mit den Reichsgöttern Babylons" geraten und es sei erstmalig zu einer Aufspaltung von Geist und Macht gekommen. Daher sei der erste reale Monotheismus als Protesttheologie zu verstehen, als Religion des Widerstands gegen die herrschende Macht, gekennzeichnet durch "das Verlangen nach Überlegenheit über den Überlegenen".

Der christliche Gott behalte zwar eine Reihe von Merkmalen des jüdischen Gottes bei, doch würden mit der paulinischen Verkündigung die universalistischen Gehalte der post-babylonischen Theologie "scharf gemacht und in eine ambitionierte proselytische Bewegung investiert". Im Christentum löse sich demnach die ethnisch beschränkte Basis des jüdischen Ein-Gott-Glaubens durch die Wendung ins Globale auf. Für Sloterdijk steht außer Frage, dass dem Missionsgedanken notwendig ein Aggressionspotenzial zugrunde liegt, das sich im islamischen Postulat von der Alleinstellung Gottes mit einer Polemik gegen die christliche Trinitätslehre verbindet.

Aus diesen "Aufstellungen" ergeben sich achtzehn Fronten, die Sloterdijk in unerbittlicher Mechanik auflistet: der christliche Antijudaismus, der christliche Anti-Islamismus, der christliche Anti-Paganimus, der islamische Anti-Christianismus, der islamische Anti-Judaismus, der islamische Anti-Paganimus, der jüdische Anti-Christianismus, der jüdische Anti-Islamismus, der jüdische Anti-Paganismus, der christliche Anti-Christianismus, der islamische Anti-Islamismus, der jüdische Anti-Judaismus (hier geht es jeweils um unterschiedliche Auslegungen, den Streit zwischen Orthodoxie und Häresie), gemeinsame Bündnisse von Christen und Moslems gegen Juden, von Juden und Moslems gegen Christen, von Juden und Christen gegen Moslems, die Verdammung des christlichen Atheismus, des islamischen Atheismus und des jüdischen Atheismus durch die jeweilige 'Rechtgläubigkeit'.

In der historischen Entfaltung der monotheistischen Kampagnen unterscheidet Sloterdijk drei Hauptformen: den für das Judentum prägenden theokratischen Souveränismus, der durch überwiegend defensive und separatistische Züge gekennzeichnet ist, die Expansion durch Mission im Christentum und den Heiligen Krieg im Islam, beide unzweideutig offensiv. Seine Lust (und Begabung) zu provokativer Formulierung lässt ihn in diesem Zusammenhang etwa von der "gnadenlose[n] Gnadentheorie Augustins" sprechen oder der im islamischen Ritualgebet angelegten "memoaktive[n] Fitness" für den Heiligen Krieg. Noch das militante Berufsrevolutionärstum eines Lenin und die maoistischen Rotgardisten interpretiert Sloterdijk kurz entschlossen als "Fortsetzung des christlichen Universalismus mit unchristlichen Mitteln".

Die zelotische Disposition der Monotheismen erklärt sich für Sloterdijk aus der Suprematisierung des persönlichen Gottes, die ihrerseits den inferioren Stand des Menschen bedingt und geradezu zwangsläufig die Gefahr einer (Über-)Steigerung des Dienstes zum Extremdienst fördert. Diese Matrix ist getragen von einer Idolatrie der Einwertigkeit, in dem Sinne, dass Gott Gott und nichts anderes ist, eine Einwertigkeit, die notwendig in Konflikt mit der seit der Vertreibung in die irdischen Sprachen eingezogenen konstitutiven Zweiwertigkeit gerät. Und hier holt der Autor zu seiner Generalerklärung aus: Die eifernden Monotheismen "gründen in dem Vorsatz, das durch den zweiten Wert der Aussage gegebene Verfehlungsrisiko mit allen Mitteln auszuschalten - auch wenn das implizieren sollte, den Irrenden zusammen mit dem Irrtum auszulöschen. Tatsächlich ist der Irrende selbst, vom Ideal des einwertigen Seins und seiner Spiegelung im wahren Satz her gesehen, nur eine Art von realem Nichts, bei dessen Liquidierung nicht viel verloren geht - so wie das Massiv des Seins unangetastet fortbesteht, wie es war und sein wird, wenn eine falsche Aussage über eines seiner Details getilgt wird". Was ist dagegen zu tun? Welche "Pharmaka" gibt es? Die Antwort lautet: Entsuprematisierung, Auflösung der klassischen Matrix, die das einwertige Sein zwanghaft mit dem positiven Wert der zweiwertigen Aussage zusammenzwingt. Mehrwertiges Denken, tertium datur, gestufte Grautöne zwischen den "Extremen von Schwarz und Weiß" - ein Lösungsweg, den, das erkennt Sloterdijk an, die dogmatischen Religionen längst beschritten haben, um ihre endogenen Exzesse zu binden, etwa im Stufenweg der negativen Theologie, der Hermeneutik des mehrsinnigen Lesens - und, nicht zu vergessen, in der Ausbildung des monotheistischen Humors!

Dass in diesem Zusammenhang Gotthold Ephraim Lessings "Nathan der Weise" mit seiner Ringparabel eingespielt werden muss, liegt nahe: Wo der ursprüngliche, der echte Ring von seinen Imitationen nicht mehr unterschieden werden kann, ist Pragmatismus angesagt - Brüder, vertragt euch! Und strengt euch an, euch eures Rings würdig zu erweisen! Lessing wird in Sloterdijks Wahrnehmung zum Postmodernen avant la lettre: Sein Gleichnis "vereinigt in sich den primären Pluralismus, die Positivierung der Simulation, die praktische Suspension der Wahrheitsfrage, die zivilisierende Skepsis, die Umstellung von Gründen auf Wirkungen und den Vorrang des externen Beifalls vor den internen Ansprüchen". Wo es freilich darum geht, dass der Ring "vor Gott und Menschen angenehm" machen soll, stellt sich für den Autor von "Gottes Eifer" die Frage, ob sich hier nicht bereits ein schleichender Übergang zur irdischen Gottheit der Zivilsozietät und zur Preisgabe des monotheistischen Anspruchs ankündigt. Fest steht indessen, dass der von Sloterdijk imaginierte potenzielle Träger eines vierten Rings, die "Gesellschaftsreligion" des Marxismus, in der Übersetzung der kommunistischen Offenbarung in die politische Praxis, es nicht geschafft hat, sich ,vor den Menschen angenehm zu machen'. Aus diesem Grund, weiß Sloterdijk, kommen die Menschen derzeit verstärkt auf die überlieferten Ringe zurück. Gibt es Alternativen zum ererbten Familienschmuck? Nicht ohne Pathos wird nun Sloterdijks eigenes, an anderer Stelle bereits verkündetes Konzept des Monogëismus aus der Tasche gezogen als "zivilisierende[s] Lernen für ein Dasein aller Menschen im Horizont der universal gültigen Nötigung, einen einzigen Planeten miteinander zu teilen". Damit ist Sloterdijk nun unversehens bei der Allgemeinen Kulturwissenschaft angelangt, für die er bereits zu Beginn seines Buches statt einem Jahr der Geisteswissenschaften "ein Jahrhundert der Kulturwissenschaften" gefordert hat. Was für ein Eifer!? Tatsächlich sieht er in einer 'transkulturell überzeugend formulierten' Allgemeinen Kulturtheorie die potenzielle Erbin einer umfassenden Form "des Wir-Bewußtseins", ohne sich allerdings Gedanken darüber zu machen, dass Kulturtheorie und -wissenschaft bestenfalls als Heilslehre für eine vergleichsweise überschaubare akademische Sekte taugen.

Weil Peter Sloterdijk indessen um die Bedingtheit seines eigenen Eifers weiß, überschreibt er sein Schlusskapitel augenzwinkernd mit "Nach-Eifer". Hier wird Jan Assmanns Konzept der Gegenreligion aufgerufen, das die monotheistischen Religionen als gewaltsame Reaktionen auf ältere polytheistische Formationen begreift. Das Potenzial des hinter dem Begriff der Gegenreligion stehenden kulturpolitischen Arguments ist, so findet Sloterdijk, noch nicht ausgeschöpft, legt es doch eine "ägyptische[...] (potentiell auch mittelmeerische [...] und indische [...]" "Toleranzkultur" nahe, die im Zeichen des secundum datur jeglichem Zelotentum eine Absage erteilt. Wenn man sich daran erinnert, dass Sloterdijk 2007 auch ein Büchlein mit dem Titel "Derrida der Ägypter" veröffentlicht hat, wird einmal mehr deutlich, dass es die mittlerweile auch schon etwas in die Jahre gekommenen dekonstruktivistischen (in den 1980er-Jahren sagte man "antimetaphysischen", gegen den so genannten "Logozentrismus" Sturm laufenden) 'Häresien' sind, die nunmehr im neuen Glanz eines kulturwissenschaftlichen Toleranzdenkens erstrahlen.

Halten wir es Sloterdijk zugute, dass er (selbst)ironisch genug ist, seinen kulturwissenschaftlichen Nach-Eifer bewusst in der Sprache des eifernd Möglichen zu formulieren. Denn das haben wir schließlich von unserem Ägypter Jacques Derrida gelernt, dass es kein Diskursäußeres gibt und daher das Sloterdijk'sche Pragma-Pathos in Zeiten nach dem monotheistischen Eifer gar nicht anders kann, als "Gottes Eifer" nachzueifern. In jedem Toleranzdenker steckt schließlich auch ein Aufklärer mit Erziehungsauftrag. Hören wir also in ketzerischer Andacht die Schlussbotschaft: "Globalisierung heißt: Die Kulturen zivilisieren sich gegenseitig. Das Jüngste Gericht mündet in die alltägliche Arbeit. Die Offenbarung wird zum Umweltbericht und zum Protokoll über die Lage der Menschenrechte. Damit komme ich auf das Leitmotiv dieser Überlegungen zurück, das im Ethos der Allgemeinen Kulturwissenschaft gründet. Ich wiederhole es wie ein Credo und wünsche ihm die Kraft, sich mit Feuerzungen auszubreiten: Der zivilisatorische Weg ist allein noch offen".


Titelbild

Peter Sloterdijk: Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen.
Verlag der Weltreligionen, Frankfurt a. M. 2007.
218 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783458710042

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