"… der dann und wann sich etwas Schönes dichten kann…"

In "Pfeifers Reisen" macht sich Ror Wolf auf fast alles einen Reim

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pünktlich zum 75. Geburtstag Ror Wolfs erschien im Frankfurter Schöffling Verlag mit "Pfeifers Reisen" ein Band, der Gedichte des künstlerischen Multitalents aus den Jahren 1958-2006 versammelt. Dabei kann die Sammlung gleich zu Beginn mit einem Kuriosum aufwarten - dem vierten Teil der Trilogie um Hans Waldmann. Besagter Waldmann, der eigentlich schon im Band "Aussichten auf neue Erlebnisse" (1996) seine lyrische Existenz ausgehaucht haben sollte, zählt zu den viel gelobten und geliebten Erfindungen Wolfs und wurde von Robert Gernhardt, dem Altmeister der so genannten ,komischen' Lyrik, gar "zum Erfreulichsten" gezählt, "was an zugleich zeitgenössischer und komischer Dichtung veröffentlicht worden ist".

In fröhlich gereimten Zweizeilern, in denen Wolf das ,Reim-Dich-oder-ich-Freß-Dich' zum ästhetischen Prinzip erhebt, be- und übersteht Waldmann allerlei Abenteuer. Er wird als einziger Überlebender nach dem Untergang eines Vergnügungsdampfers an Land gespült und vermeint sich zunächst ob der gebirgigen Landschaft in Schierke, bis er erkennen muss, dass er dem heimischen Harz wohl doch ziemlich fern ist: "Das ist Colorado oder so,/ Colorado oder Idaho." Dort macht er flugs eine steile Karriere als Profiboxer, bevor er seinen Koffer nimmt, um neuen Abenteuern entgegen zu eilen: Er verschlingt in einem Anfall von Fresssucht ein halbes Hotel und sich selbst, philosophiert dessen ungeachtet im Anschluss daran über die Bedeutung von Wörtern und den Wahrheitsgehalt der volksmündlichen Ansicht, dass immer erst der Letztlachende am Besten lache.

Doch nach diversen, teilweise haarsträubend-gefährlichen Abenteuern zeigt sich, dass selbst der umtriebigste literarische Held letztlich auch nur ein Mensch ist, und Waldmann weist zunehmend Ermüdungserscheinungen auf: "Waldmann ist nun wirklich ganz allein./ So, sagt Waldmann, sollte es auch sein.// Fort sind alle Leute und davon./ Waldmann setzt sich stumm ans Grammophon,// Waldmann sitzt jetzt in der Dunkelheit/ und genießt die große Einsamkeit." Dieser zunehmende Rückzug ins eigene (fiktive) Ich gipfelt in der Feststellung, dass Waldmanns Identität ebenso fluide ist, wie das ihn beinahe verschlingende Meer: Plötzlich - fast möchte man sagen ziemlich sang- und für Ror Wolf auch vergleichsweise klanglos - zerfließt Hans Waldmann, um, wie der konsternierten und potentiell trauerbereiten Leserschaft umgehend mitgeteilt wird, als "Doktor Pfeifer" nicht nur aufzuerstehen, sondern auch munter weiter zu reisen: "Waldmann wird von jetzt an Pfeifer heißen./ Was gewesen ist, das ist gewesen./ Was noch kommt, das wird man später lesen./ Achtung, nun beginnen Pfeifers Reisen." So schnell kann es manchmal gehen mit der literarischen Wiedergeburt.

Es folgt ein "Vers-Epos in 40 Umdrehungen", in dessen Verlauf sich Pfeifer ebenso tapfer durch die ihm angedichteten Abenteuer schlägt wie seinerzeit Hans Waldmann. Der Hauptunterschied: Anders als Waldmann, dessen Existenz hauptsächlich auf die Aneinanderreihung von Zweizeilern beschränkt war, bekommt Pfeifer nun ausgewachsene, vierzeilige Strophen gewidmet, in denen sich sein Reisebericht entfalten kann: "März im Matsch, im kühlen Monat März,/ da beginnt es und da fängt es an:/ Pfeifers Schicksal in der Eisenbahn,/ ostwärts westwärts ohne Abschiedsschmerz." Pfeifers Zugreise, die schon aufgrund der völligen Abwesenheit dräuender Bahnstreiks und obligatorischer Verspätungen als völlige Fiktion erkennbar ist, führt ihn auf wundersame Weise nach Manhattan, wo er sich umgehend einer amourösen Eskapade hingibt.

Mit einer Aufbruchsmentalität gesegnet, die eines Prufrock würdig wäre, hält es Pfeifer allerdings nirgends lang, am wenigsten in seiner Wohnung, und so bricht er zu einer Vielzahl von Reisen auf, die ihn in eine zunehmend bizarr-apokalyptische Welt führen: "Spät am Abend hören wir Geräusche/ von Kartoffeln, Runkeln und von Bohnen,/ und von Männern, die im Keller wohnen,/ und von Frauen, wenn ich mich nicht täusche.// In der Nacht beginnt der große Schrecken,/ Bäume knicken und Gerüste splittern,/ und die Stühle wo wir sitzen zittern,/ und der Boden bebt in dem wir stecken."

Mag sich der geneigte Leser auch bald fragen, inwieweit Pfeifers surreale Reisen vielleicht nur metaphorisch zu verstehen sind - am Ende gar nur Ausgeburten der Fantasie des ansonsten von seinem Alltag gelangweilten Protagonisten - so stellt dieser bald ziemlich desillusioniert fest, dass die Welt leider doch nicht das war, was er sich von ihr erhofft hatte: "Pfeifer kommt zurück und legt sich nieder./ Er hat sich die schöne weite Welt/ eigentlich ganz anders vorgestellt./ Wiedersehn, dort sieht man mich nicht wieder."

Schlimmer noch: Anders als Hans Waldmann, der dann doch wenigstens so viel Anstand und vor allem élan vital besaß, um in anderer Gestalt seine Reisen fortzusetzen, ergibt sich Pfeifer am Ende doch recht fatalistisch in sein (um nicht zu sagen: unser aller) Schicksal und erwartet das, was wohl unausweichlich kommen muss: "Pfeifer zuckt die Schultern und wird alt./ Das, sagt Pfeifer, also war das Leben,/ wie es war, sagt er, so war es eben,/ nass und trocken, Leser, heiß und kalt." Ob er dabei jedoch tatsächlich in seiner selbstgewählten gemütlich-weichen Matratzengruft das Zeitlich segnen, oder in Zukunft vielleicht nicht doch noch das eine oder andere lyrische Abenteuer durchleben wird, muss freilich einstweilen offen bleiben.

Zugegeben: Man muss schon ein ziemlicher Wolf-Afficionado sein, um Waldmanns Rest-Reisen nebst aller 40 Pfeifer'schen Umdrehungen am Stück zu lesen, ohne befürchten zu müssen, dass Wolfs Reim-Extravaganzen zur graduellen Erweichung der Außenhirnrinde führen könnten. In homöopathischen Dosen genossen, werden sie hingegen - trotz vereinzelter Längen, in denen sich der Dichter nicht gerade mit Inhalt überfrachteten la-rime-pour-la-rime Versen hingibt - sicherlich auch den ansonsten skeptischeren Gemütern Vergnügen bereiten können.

Was folgt, sind die "Ansichten/ Absichten/ Einsichten/ Aussichten" eines Herrn Q, der wohl als Urvater der reisenden Protagonisten Wolfs gelten darf, sowie "Neunzig Gelegenheitsgedichte aus dem Nachlaß/ 1956 bis 2006." Zu dieser doch etwas sehr morbide titulierten Abteilung zählen eine Vielzahl von zum Teil recht innovativen lyrischen Formen: "Moritaten Balladen Romanzen/ Rouladen Pasteten Malaisen/ Sonette Songs Terzinen/ Kalendersprüche/ Küchenlieder/ undsoweiter". Dass sich dabei nicht jedes Gedicht als großer literarischer Wurf entpuppt, liegt in der Natur der Sache; bei der Lektüre die lyrische Entwicklung Wolfs mit all ihren Konstanten, aber auch zentralen Veränderungen verfolgen zu können, ist jedoch allemal ein spannendes Unterfangen.

Ob man, wie Brigitte Kronauer, in Ror Wolf einen der "wichtigsten deutschen Schriftsteller [...] der Gegenwart" zu sehen vermag, oder ihn nicht doch eher der Gilde der primär amüsant-trivialen Reim-Schmiede zurechnet, wird - wie so oft im Leben - wohl nicht zuletzt Geschmacks- und Ansichtssache sein. Wem seine Reimweisheiten jedoch beim ersten Lesen allzu banal erscheinen, dem sei dringend angeraten, sie sich mindestens ein zweites Mal zu Gemüte zu führen: So mancher scheinbar inhaltsarme Vers, wie etwa "Der Mensch: Er lebt so lange bis er stirbt" oder auch die wunderbare Kontrafaktur zu Schillers evergreen-Diktum zum Verhältnis von Leben und Kunst - "Laut ist das Leben, leise ist der Tod" - vermag bei wiederholter Betrachtung doch noch Bedeutungsfacetten zu offenbaren, die man getrost ,tiefsinnig' nennen kann.

Besonders anempfohlen sei den geneigten Leserinnen und Lesern die genaue Lektüre der Abschlussverse, auf die der Dichter selbst (völlig zu Recht) besonders stolz ist - "Von diesem Schluß wird man noch lange reden" - gelingt es ihm doch immer wieder, seine Gedichte mit einem Lakonismus zu beenden, der eigentlich keine Fragen mehr offen lässt: "Verzeihung, daß ich mich zum Gehen wende/ doch meine Arbeit ist an diesem Punkt zu Ende".


Titelbild

Ror Wolf: Pfeifers Reisen. Gedichte.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
260 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783895613203

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