Spurenlesen als Wissenspraxis
Sybille Krämer, Werner Kogge und Gernot Grube finden im Sammelband "Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst" die Dinge im Dickicht der Zeichen
Von Achim Saupe
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit der Postmoderne geriet die Vorstellung, dass jeder Zugang zur Wirklichkeit zeichenbedingt und interpretationsabhängig ist, in eine Krise. Schlagworte wie Derealisierung, Entkörperung, Informatisierung, Virtualisierung und Simulation setzen die Zeichennatur der Welt absolut. Dem damit verbundenen Verschwinden der Dinge und dem referenzlosen Flotieren der Zeichen begegnet nun der von Sybille Krämer, Werner Kogge und Gernot Grube herausgegebene transdisziplinäre Sammelband, in dem über den Spurenbegriff und die Praxen der Spurensuche ein Ariadnefaden gefunden werden soll, der aus der reinen Zeichenwelt hinausführt und diese wieder an die Dinghaftigkeit, Materialität und Körperlichkeit der Welt zurückbindet.
Schon in der Einleitung von Sybille Krämer entfaltet sich die Bedeutungsvielfalt der Spurensemantik, in der etwa der unmotivierte Fußabdruck, die Ton- und Busspur für das Einhalten einer bestimmten Richtung stehen oder aber mit dem umgangssprachlichen Ausdruck "in der Spur bleiben" eine reglementierende Norm gemeint ist. Die wichtigsten Attribute der Spur sind sicherlich die Abwesenheit dessen, was die Spur hinterlassen hat, ihre Materialität und Unmotiviertheit. Spuren können retrospektiv wie in der Kriminalistik, der Archäologie und der Psychoanalyse, oder aber zukunftsdeutend wie in der Mantik, der "Kunst des Sehers", gelesen werden. Dass Spuren überhaupt wahrgenommen werden, liegt gerade darin, dass sie oft genug eine gewohnte Ordnung stören und damit auffällig werden. Darüber hinaus ist mit der Spur auch der "Spürsinn" und das "feine Gespür" verbunden, und damit Fragen der Routine, der Erfahrung und auch des "Taktes": so liest der erfahrene Jäger anhand der Spur, welches Tier wann vorrübergelaufen ist, der Kriminalist wird sich aufgrund seiner Praxis entscheiden müssen, welche Spuren relevant sind, und im Gespräch ist es nicht zuletzt ein spürbares Feingefühl, Situationen zu meistern, in denen unsere Kommunikation zu scheitern droht. Gemeinsam ist allen Spuren, dass sie eine orientierende Funktion haben und praktisches und theoretisches Handeln provozieren, wie dies etwa Werner Stegmeier phänomenologisch geschult herausarbeitet. Auch die natürlichen Anhaltspunkte als Sonderformen von Spuren, wie etwa das Formenspiel der Wolken, das Wetterleuchten oder der Sternenhimmel, dienen in "sichtschwachen Situationen" (Wolfram Hogrebe) zur Orientierung im Raum.
Ausgangspunkt der theoretischen Überlegungen ist insbesondere die Semiotik von Charles S. Peirce und damit die Frage, welchen Zeichencharakter Spuren haben und was sie als Indices etwa von Anzeichen und Symptomen unterscheidet. Für Helmut Pape stellen Spuren dynamisch und relational zu denkende Verbindungen her, die zwischen den Einzeldingen und denjenigen, die sie deuten, vermitteln. Uwe Wirth differenziert hingegen zwischen verschiedenen Modi der Spur, um dann anhand von Jacques Derrida, Peirce und Sigmund Freud den Interferenzen von Spur und Schrift nachzugehen.
Für die Wissenschaftstheorie der Spur bieten die bildenden Künste reiche Inspirationsquellen. So hatte der Aufstieg der Semiotik in den 1970er-Jahren zur kulturwissenschaftlichen Leitdisziplin und die "Entdeckung" des "Indizienparadigmas" durch den auch in diesem Band vertretenen italienischen Historiker Carlo Ginzburg parallele Entwicklungen in den Künsten. Im vorliegenden Sammelband verhandelt nun Mirjam Schaub anhand von Werken von Sophie Calles, Francis Alÿs und Janet Cardiff den aktuellen Beitrag der bildenden Künste für die philosophische Auseinandersetzung mit der Metapher und der Erkenntnistheorie der Spur. Gegen die postmoderne Annahme vom Ende der Fotografie im Zeitalter der Digitalisierung und Manipulierbarkeit verweist Peter Greimer anhand von Schockbildern darauf, dass Fotos nach wie vor als Spuren der Wirklichkeit gelesen werden, ohne dass damit der Objektivität und der Wahrheit der Fotografie das Wort geredet werden muss.
Ein weiterer Abschnitt des Bandes widmet sich der Metaphysik und Epistemologie der Spur. Hier stehen zunächst die Werke von Emmanuel Levinas, Derrida und Carlo Ginzburg im Vordergrund, in denen Spuren als Übergangsphänomene zwischen Vergangenheit und Gegenwart gedeutet werden. Spuren sind präsent und repräsentieren gleichzeitig etwas Anderes, Abwesendes. So spricht Sybille Krämer von zwei "Zeitregimen", die sich in der Spur kreuzen: die Zeit des Spurenlesens und jene vergangene Zeit, die durch die Spur erscheint. Daraus resultiert eine ambivalente Differenz von Transzendenz und Immanenz der Spur.
Die Transzendenz des Phänomens zeigt sich bei Levinas, der in "Die Spur des Anderen" das Spurenlesen in eine Ethik innerweltlichen Handelns im Umgang mit Anderen überführt. Die Immanenz der Spur verweist hingegen auf eine positive, semiologisch verankerte Wissenskunst. Dies zeigt sich insbesondere in den Beiträgen von Werner Kogge, Gernot Grube und Hans-Joachim Rheinsberger, die sich mit dem epistemologischen Spurenmodell im Bereich der Naturwissenschaften auseinandersetzen. Hier werden Spurenelemente experimentell erzeugt und mit verschiedenen Visualisierungstechniken sichtbar gemacht, was sie darstellungsabhängig deutbar werden lässt.
Ohne Spurenlesen also kein Wissen. Freilich ist das Spurenmodell eng mit einem kriminalistischen, und das heißt indizienorientierten Denken verbunden. Gernot Grube entwickelt Ansätze zu einer "investigativen Erkenntnistheorie", die er mit der Praxis des Findens, Zuordnens und Verfolgens umschreibt und als Alternative zum Zeichenparadigma versteht. Jo Reichartz beleuchtet die Praxis der polizeilichen Spurenermittler aus einer hermeneutischen Perspektive. Hier zeigt sich, dass die populär-kriminalistische Rede von den Spuren als "stummen Zeugen" durchaus irreführend ist. Denn Spuren müssen zum Sprechen gebracht und verhandelt, also interpretiert und diskutiert werden. So deuten Spuren zunächst allenfalls an, wer oder was sinnvoll befragt werden kann, während sie später vor Gericht als Beweis von "Tatsachen" herangezogen werden.
Immer wieder findet sich in den Beiträgen der Verweis auf den Peirce'schen Begriff der Abduktion, den man auch als eine Beschreibung indizienbezogenen Denkens charakterisieren könnte. Die Abduktion umschreibt eine gleichzeitig logische und intuitive beziehungsweise erfahrungsbezogene Erkenntnistheorie und führt damit den Entdeckungs- und Begründungszusammenhang von Wissen zusammen. Doch auf die Geschichte des Indizienbeweises wird im vorliegenden Sammelband leider nicht eingegangen, obwohl er in der Frühen Neuzeit noch als unsicherer Beweis angesehen und erst im 19. Jahrhundert nicht nur zu einer Selbstverständlichkeit der Rechtspraxis wurde, sondern darüber hinaus zum Ausgangspunkt verknüpfender, kombinatorischer Praxen, die Wissen generieren.
Dieses kriminalistische Modell des Spurenlesens, welches bei Peirce eine wichtige Rolle spielt und von der Wissenschaftstheorie gern aufgegriffen wird, kann jedoch kritischen Einspruch erzeugen. Denn es geht - wie gerade der klassische Detektivroman zeigt - von einem verwickelten, aber prinzipiell lösbaren Fall aus. Genau hier wird man auf das Problem der Deutung und Interpretation von Spuren zurückgeworfen, auf den Prozess des Auslegens, den Uwe Wirth im vorliegenden Band mit dem neumodischen Begriff der "Aufpfropfung" dekonstruktivistisch zu beschreiben versucht und der von anderen Autoren als Interpretationshorizont oder als "Deutungsspielräume von Spuren" (Stegmeier) bezeichnet wird. Cornelius Holthofs kritischer Blick auf die archäologische Spurensuche lässt ihn zu der Annahme kommen, dass ohne eine Reflexion über den Interpretationshorizont keine Entscheidung darüber gefällt werden kann, was eine Spur bedeutet. Holthof spitzt seine Kritik des Spurenparadigmas zu, indem er behauptet, dass das Lesen der Spur letztlich einen Prozess der Selbstfindung darstellt. Das mag anhand seines zentralen Beispiels - eine nationalistisch aufgeladene Archäologie um 1900 - überzeugend sein, doch verwischt es das Charakteristikum der Spur, dass etwas Da-Gewesen ist. Ohne die Spur des Anderen keine Kultur und auch keine Selbstvergewisserung.
Der bei Holthof zu findende, subjektivistisch eingefärbte Konstruktivismus ist den meisten Beiträgern fremd. Doch auch der Versuch, die Spuren als die letzten Abdrücke "harter Tatsachen" (Helmut Pape) zurückzugewinnen, erscheint allein im Bild des Faustkämpfers, der seine Spuren am nunmehr gezeichneten Körper des Anderen hinterlässt, zu überzeugen. Denn unter welchen Gesichtspunkten Spuren interpretiert werden, wird so nur ungenügend berücksichtigt. Zugespitzt formuliert die dahinter stehende Debatte Werner Kogge, der das Spurenlesen sowohl gegenüber einem erkenntnistheoretischen Realismus als auch Konstruktivismus abgrenzt. Die Spur markiert ein Dazwischen, eine Traverse: So kann das Spurenwissen niemals von den lokalen und situationsspezifischen Umständen abgelöst werden, während das Lesen der Spur immer wieder auf die Materialität der Dinge verweist, die einen wahrnehmbaren Abdruck auf einer beeinflussbaren Oberfläche hinterlassen hat.
Das Spurenlesen verbindet alle Zeichen-, Erkenntnis- und Interpretationspraktiken, in denen Wissen generiert wird. Man mag - wenn man etwa an den Indizienbeweis denkt - einen Beitrag aus dem Bereich der Rechtswissenschaften vermissen, in dem auf der Basis von Spuren handfeste Urteile gefällt werden, oder aber aus der Gedächtnisforschung oder der Historiografie, in welcher der Umgang mit Spuren und ihre Interpretationen zur alltäglichen Praxis gehört und von Johann Gustav Droysen über Marc Bloch und Robin George Collingwood bis hin zu Paul Ricoeur in der hermeneutischen Geschichtstheorie eine lange Tradition hat. Schließlich wäre es interessant gewesen, den Aspekt der Darstellung, Narrativierung und Visualisierung von Spuren noch näher zu betrachten, als dies hier von den meisten Beiträgern geschieht. Doch dies sind marginale Kritikpunkte an einem hervorragenden transdisziplinären Sammelband, der im Bereich der Wissenschaftsphilosophie und -geschichte, aber auch in weiten Teilen der Kunst- und Kulturwissenschaften bedeutende Anregungen für vielfältige Diskussionen geben wird.
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