Ich sehe was, was du nicht siehst

Jochen Hörisch befreit das dissidente "Wissen der Literatur"

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit kurzem betätige ich mich als Schaumschläger. Das ist ganz wörtlich gemeint. Zuerst fiel der mit dem Milchschäumer erzeugte Schaum gleich wieder in sich zusammen. Bis ich in Peter Truschners Roman "Die Träumer" über eine Passage stolperte, in der eine Figur die Kunst des Schaumschlagens erklärt: Die Milch muss eiskalt sein, ehe man sie erwärmt, weil sie dann mehr Luft aufnimmt. Voilà, jetzt klappt's.

Vielleicht wunderte ich mich deshalb zunächst nicht über den Titel von Jochen Hörischs neuem Buch. Warum bitteschön soll Literatur kein Wissen enthalten? Aber so selbstverständlich ist das natürlich nicht. Der Tipp, den Truschner seiner Figur in den Mund legt, hätte ja auch purer Unsinn sein können. Literatur, betrachtet man sie als Wissensquelle, kommt ein höchst prekärer Status zu. Schon Platon warnte davor, sich, sei es in medizinischen, sei es in kriegsstrategischen Fragen, an Homer statt an Fachleute zu wenden. Das sieht heute nicht anders aus. Studierende der Elektrotechnik dürften wenig Aussicht haben, ihre Prüfung zu bestehen, griffen sie zur Beantwortung der Frage "Was ist Elektrizität?" auf die Eselsbrücken Robert Gernhardts zurück: "Wenn das Ohm sie nicht mehr alle hat, / heißt es nicht mehr Ohm, dann heißt es Watt. / Jedoch nur, wenn's gradeliegt, liegt's quer, / heißt es nicht mehr Watt, dann heißt's Ampere."

Für Jochen Hörisch macht Gernhardts Lyrik eines sinnfällig: Der Literatur ist die Wahrheit schlicht schnurz, ihr ist ein "guter" Reim wichtiger. Aus Sicht der Luhmann'schen Systemtheorie, der Leib- und Magentheorie des Mannheimer Literaturwissenschaftlers, ist das nicht schwer zu erklären: Sind doch Wissenschaft und Literatur unterschiedlichen "binären Leitcodes" verpflichtet. Der wissenschaftliche Code lautet "richtig / falsch", der literarisch-ästhetische "stimmig / nicht-stimmig". Dieser sorgt dafür, dass gelungene, "stimmige" Texte nicht einfach als inakzeptabel oder unsinnig empfunden werden. Vielmehr offerieren sie dem Leser einen genuinen Reiz, der daraus entspringt, dass die Worte "ein Rendezvous mit sich selbst haben".

Freigestellt von der Verpflichtung, wahre Sätze anzustreben, konnten sich Kunst und Literatur darauf spezialisieren, die anerkannten Diskurse mit alternativen Realitätsversionen zu konfrontieren. Literatur hält, in Hörischs Worten, "unwahrscheinliche, kontraintuitive, marginale und sachlich z.T. hochgradig zweifelhafte Thesen parat und [...] dauer-präsent". Und stellt so einen semantischen Überfluss her, der in modernen Gesellschaften, die zunehmend auf "Komplexitätsreduktion" angewiesen sind, zur Notwendigkeit wird. Da die Dichtung keiner thematischen Begrenzung unterliegt, redet sie ungehemmt von praktisch allem. Und präsentiert dabei Sachprobleme in neuem, ungewohntem Licht. Sie spielt voller Lust an der Provokation das Spiel: Ich sehe was, was du nicht siehst.

Deshalb lässt sich Dichtung als ein dissidenter Wissensspeicher betrachten, dessen Schätze bislang sträflich vernachlässigt wurden. Zuständig für die Exploration des kostbaren Rohstoffes, den die Literatur für andere gesellschaftliche Systeme bereithält, und sein Einspeisen in die Informationskanäle unserer Wissensgesellschaft wären nach Hörisch die Geisteswissenschaften, für ihn die einzigen wahren "hard sciences". Sie hätten allen Grund für Selbstbewusstsein, beschäftigen sich aber bis auf Weiteres lieber mit sich selbst. Oder gar damit, ihren Gegenständen das dissidente Wissen qua Interpretation auszutreiben.

Dabei liegt es auf der Hand, dass sich eine "themen- und problemzentrierte Literaturwissenschaft" um ihre Legitimierung keine Sorgen mehr machen müsste. Hörischs Aufsätze und Vorträge sind Beispiele dafür, wie sich dieser Speicher anzapfen lässt. In ebenso luziden wie anregenden Untersuchungen befreit er das in Werken wie Goethes "Tasso" oder "Faust", Raabes "Stopfkuchen" oder Wilhelm Müllers "Winterreise" verborgene Para-Wissen. Zum Beispiel darüber, wie sich Religionskonflikte deeskalieren lassen. Welche Effekte es hat, wenn eine Kultur den Opferstatus attraktiver macht als den Siegerstatus. Warum Konsens den Konkurs von Kommunikation bedeutet. Oder warum Krankheiten Aufschluss über die Pathologien ganzer Epochen geben können. Wie Hörisch dies gelingt, ohne die Literatur auf bloße Inhalte oder Nutzwerte zu reduzieren, ist beeindruckend. Schade nur, dass er sich so gar nicht für die Herkunft dieses Alternativ-Wissens interessiert oder dafür, warum und wozu in der Moderne Autoren wie Musil oder Broch ihre Werke systematisch mit wissenschaftlichen Erkenntnissen unterfüttert haben.

Dafür interessiert sich Hörisch für die Liebe der Literatur für Paradoxien - die von allen anderen Redeformen vermieden oder tabuisiert werden. Dass solche Widerspruchsstrukturen aber "keine skandalösen Ausnahmen, sondern der nicht minder skandalöse Normalfall" sind, ist, so Hörisch, ein genuines "Wissen" der Literatur. Siehe Heinrich von Kleists "Zerbrochenen Krug" und die sich in trügerische Sicherheit wiegende Wissenschaft vom Recht: "Das Gesetz hat wie der zerbrochene Krug keinen festen und naturgegebenen Stand; es ist ein bloß gesetztes und also hochfragiles Gebilde, das sich nie dauerhaft setzen bzw. niederlassen kann; und also dient es bestenfalls der Er-setzung, als Ersatzfigur für etwas, das es nicht gibt: Gerechtigkeit."

Ebenso ist Literatur spezialisiert auf Metaphern. Während die vermeintlich "harten" Naturwissenschaften mit ihrer Bildersprache nicht nur Forschungsgelder einstreichen, sondern handfeste Politik betreiben ("genetischer Code", "somatische Marker", "das Gehirn trifft Entscheidungen" und so weiter), bekennt sich allein die Literatur offensiv zur Metaphorik. Gerade weil sie weiß, "dass der entscheidende Brückenschlag zwischen Sein und Sinn nicht verlässlich gelingen kann", ist die Dichtung für Hörisch "aufgeklärter" als alle anderen Diskurse: "Dichter lügen, und sie wissen, dass sie lügen", deshalb machen sie von ihrer Lizenz zum Lügen "aufrichtigen und insofern lügenlose Gebrauch". Und manchmal, möchte man mit Blick auf Peter Truschner hinzufügen, schlagen sie sogar aus der Wahrheit noch eine Metapher.


Titelbild

Jochen Hörisch: Das Wissen der Literatur.
Wilhelm Fink Verlag, München 2007.
236 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783770545209

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch