Kitsch und Klischees
Gunna Wendts Biografie über Franziska zu Reventlow
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseÜber die Frage, ob Biografien wissenschaftlichen Kriterien genügen können, wird seit längerem gestritten. Wurden sie im Laufe der Diskussion um den ‚Tod des Autors‘ zunehmend argwöhnischer beäugt, so scheint das Genre derzeit auch in Wissenschaftskreisen wieder an Renommée zu gewinnen. Ob sie allerdings für sich in Anspruch nehmen können, das Gütesiegel der Wissenschaftlichkeit zu verdienen, wird man für die Textsorte als Ganzes wohl verneinen müssen. Fiktionale Literatur, also schlicht Romane, sind sie aber in aller Regel auch nicht. Also wird man sie wohl als Sachbücher rubrizieren müssen.
Ob eine bestimmte Biografie wissenschaftlichen Kriterien gerecht wird oder nicht, hängt hingegen zunächst einmal davon ab, wie man den Begriff der Wissenschaft selbst definiert. Wenn darüber, wie er zu füllen sei, bislang auch keine Einigkeit hergestellt werden konnte, so herrscht doch zumindest weithin Konsens darüber, dass die Thesen, Untersuchungen, Forschungen et cetera unterschiedlicher Wissenschaftszweige unterschiedliche Bedingungen erfüllen müssen, um als wissenschaftlich gelten zu können. Was nun in einer bestimmten Wissenschaft als wissenschaftlich anerkannt wird, bestimmt mithin letztlich die jeweilige Wissenschaftsgemeinde selbst. Dass dabei nicht immer nur wissenschaftliche Kriterien zur Geltung kommen, sondern etwa auch Machtfragen, sei hier einmal vernachlässigt.
Was aber heißt das für Biografien? Sicher sein dürfte zumindest, dass eine Biografie grundsätzlich alle Kriterien erfüllen kann, die einer historischen Arbeit abverlangt werden, um als wissenschaftlich zu gelten. Wenn es also eine Geschichtswissenschaft gibt, warum sollte dann nicht auch eine Biografie-Wissenschaft möglich sein. Nicht von ungefähr hat sich 2005 ein „Ludwig Bolzmann Institut“ gegründet, das nach eigener Darstellung „eine Methodenkritik neuzeitlicher Biographik und eine Theorie der Gattung Biographie auf Basis gesellschafts- und literaturwissenschaftlicher, ethnologischer und gendertheoretischer Erkenntnisse“ erarbeitet. Ob eine bestimmte Biografie wissenschaftlich ist oder nicht, ist damit allerdings noch lange nicht ausgemacht, sondern hängt davon ab, ob sie besagten Kriterien entspricht. Anspruch auf Wissenschaftlichkeit allerdings erheben die wenigsten Biografien. Doch auch einer Biografie, die darauf verzichtet, ist nicht alles erlaubt, wenn sie als seriös gelten möchte.
Eine der zahlreichen biografischen Neuerscheinungen der jüngsten Zeit widmet sich Franziska zu Reventlow, die nicht nur eine der bekanntesten Schwabinger Bohèmiennes des jungen zwanzigsten Jahrhundersts war, sondern zugleich den besten Bohème-Roman verfasst hat, den die literarische Welt zu bieten hat. Da konnte es nicht ausbleiben, dass im Laufe der Zeit die eine oder andere Biografie über sie geschrieben wurde, wissenschaftliche wie unwissenschaftliche. Gunna Wendt hat die bislang letzte vorgelegt und unter den Titel „Die anmutige Rebellin“ gestellt. Allerdings erhebt sie weder Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, noch würde ihre Arbeit ihn erfüllen. Dabei wären die Voraussetzungen dafür – zumindest was die gedruckte Quellenlage betrifft – besser denn je, wurde in den letzten Jahren doch nicht nur Reventlows Briefwechsel mit Suchocki publiziert, sondern auch eine kritische Edition von Reventlows Tagebüchern. Beide Quellen werden zwar auch von Wendt genutzt. Doch andere – wie etwa die zumindest zum Teil bereits seit längerem publizierten Briefe von Ludwig Klages – finden keine Berücksichtigung.
Neben der mangelnden Quellenauswertung treten etliche weitere Schwächen zutage, die einem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit widerstreiten würden. Dass eine Besprechung des Romans „Der Geldkomplex“ durch den späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss zwar zitiert, aber nicht im Literaturverzeichnis ausgewiesen wird, ist da noch das geringste. Schwerer wiegt, dass die Autorin quellenkritisches Bewusstsein bestenfalls ansatzweise erkennen lässt, und das auch nur in seltenen Fällen. Gänzlich lässt sie es vermissen, wenn sie Reventlows literarische Werke umstandslos als autobiografische Texte und unmittelbar authentische Lebensbeschreibungen und Selbstzeugnisse liest. Das verfälscht nicht nur Reventlows Leben, sondern verkennt auch ihre literarische Gestaltungskraft und Kreativität.
Zentrale Quelle des Abschnittes über Reventlows Kindheit und Jugend bildet der Roman „Ellen Olestjerne“, von Wendt als „Roman einer Kindheit“, „autobiographischer Roman“ und schließlich gar als „Reventlow-Memoiren“ apostrophiert, als sei das alles eins und einerlei. Typisch dafür, dass Wendt nicht zwischen der literarischen Figur Ellen und der Autorin Reventlow unterscheiden kann oder mag, ist folgende Stelle: „Der Appell an ihre Stärke provozierte Fanny, forderte sie heraus. Endlich wurde sie ernst genommen in dem was sie tat: Fast alle Nachmittage war sie jetzt bei ihm, er ließ sie mit nach seinem Modell arbeiten und lehrte sie sehen.“ Das zum Beleg für eine biografische Behauptung herangezogene Zitat im Zitat stammt aus „Ellen Olestjerne“. Ein andermal gilt Wendt der Roman gar als die gegenüber dem Tagebuch verlässlichere Quelle. Nachdem sie aus „Ellen Olestjerne“ eine die Hochzeit der titelstiftenden Protagonistin betreffende Passage zitiert hat, meint sie, es sei „erstaunlich, wie Franziska zu Reventlow in ihrem Tagebuch diese seelische Not umdeutet.“
Doch nicht nur „Ellen Olestjerne“ wird schlicht autobiografisch gelesen. Ebenso der Roman „Von Paul zu Pedro“, in dem Reventlow „bekannt“ habe, „schon als Vierzehnjährige der Monogamie ratlos und skeptisch gegenübergestanden zu haben“, oder die von Wendt als „autobiographische Skizze“ genommene Erzählung „Vater“.
Wendts Bemerkung, Reventlow habe das „Genre des Briefromans“ genutzt, „um die eigene Biographie ironisch zu inszenieren“, kann angesichts all dessen schon fast als bewusstes Lesen gelten. Doch interessiert die Biografin das literarische Verfahren ihrer Protagonistin wenig. Ausnahmen bilden immerhin die skurrilen Geschichten der Erzählsammlung „Logierhaus ‚Zur schwankenden Weltkugel‘“. Meist aber gelten ihr Reventlows literarische Werke einfach nur als autobiografische Selbstzeugnisse. Wie gering Wendt das literarische Schaffen ihrer Protagonistin achtet, wird auch daran deutlich, dass sie Reventlows „kühnstes Werk“ in deren Leben sieht. Das „schmale“ literarische Œuvre der Schriftstellerin sei hingegen nur „nebenbei“ entstanden und „mehr der Not und den Zufällen geschuldet“.
„Jenseits der Bilder und Klischees“ wolle sie das Leben ihrer Protagonistin erzählen, versichert Wendt. Dies also und nicht Wissenschaftlichkeit ist der Anspruch der Autorin, und darum ist ihr Werk eben daran zu messen. Doch noch im selben Satz, in dem Wendt versichert, Klischees vermeiden zu wollen, verfällt sie bereits in eines. Reventlows Leben, fährt sie fort, sei „vor allem […] eine kompromisslose Suche nach Freiheit und Glück“ gewesen. Kein Leben kann in diesem Sinne kompromisslos sein, womit sich die Formel als Klischee entlarvt. Und das Leben Reventlows, die sich in ihrer Not immer wieder prostituieren musste, war ganz sicher nicht frei von Kompromissen. Mühelos lassen sich weitere Klischees finden. Dass Reventlow der „absolute Mittelpunkt des [Schwabinger] Treibens“ gewesen sei, kann schon alleine darum nicht stimmen, weil die Bohème aus etlichen Grüppchen und Kreisen bestand und daher gar keinen Mittelpunkt hatte. Ein weiteres Klischee, das wie andere vor ihr auch Wendt aufgreift, ist der gerne auf ihre Protagonistin angewandte Topos von der Schriftstellerin „wider Willen“. Als Beleg hierfür zieht sie zwar auch die eine oder andere Briefstelle heran – die sich allerdings nur auf die gerade zu erledigende Arbeit an einem bestimmten Buch beziehen –, zuvorderst sucht sie sich ihre ‚Belege‘ jedoch aus Reventlows literarischem Werk zusammen und identifiziert nun auch die Protagonistinnen aus „Von Paul zu Pedro“ und „Der Geldkomplex“ kurzerhand mit der Autorin. Einen von ihr selbst früher zitierten Brief an Michael Georg Conrad, in dem Reventlow 1893 erklärt, es dränge sie „mächtig“ zu schreiben, denn es gebe so vieles, was sie „künstlerisch gestalten“ möchte, aber „noch nicht in der Malerei ausdrücken“ könne, scheint Wendt da entfallen zu sein.
Wo Klischees sich breit machen, ist der Kitsch oft nicht fern. So auch bei Wendt. Zwei besonders ’schöne‘ Beispiele mögen genügen: „Wie oft hatte sie im Husumer Schloss die Madonna mit dem Kind betrachtet und ihren liebevollen Blick in sich aufgesogen.“ und „Es war allein die Liebe zum Leben, die Begabung zum Glück und der Adel ihrer Autonomie, die sie leiteten.“
Gar so dick trägt Wendt die rosige Tinte zwar selten auf, doch bleibt noch weiteres zu monieren. Dass die Autorin wiederholt auf biografische Ähnlichkeiten mal zwischen Reventlow und Emmi Ball-Hennings, mal zwischen Reventlow und Paula Modersohn-Becker hinweist, dürfte weniger in etwaigen ganz besonders hervorstechenden Gemeinsamkeiten von Lebensläufe und Persönlichkeiten der drei Frauen begründet sein als in dem Umstand, dass die Autorin zu allen dreien Biografien beziehungsweise biografische Texte verfasst hat und sie sich hier besonders gut auskennt. Insofern mögen die Vergleiche gerechtfertigt sein. Dass Wendt der Einfachheit halber dem vorliegenden Buch aber auch gleich noch die selben Zeilen der Sängerin Marianne Faithfull als Motto voranstellt wie bereits im Jahre 2000 ihrem Ball-Hennings gewidmeten Text „Fluchtlinien einer Performance“: „I drink and I take drugs, / I love sex and I move around a lot“, ist denn doch zu einfallslos.
Auch verwendet die Autorin nicht immer allzu viel Energie darauf, eine treffende Formulierung zu finden. So etwa, wenn sie meint, Reventlow habe Paul Stern während des Ersten Weltkriegs „gestand[en]“, sie habe „überhaupt keine ‚Begabung zur Heldenmutter‘“, gerade so, als schäme sie sich eines Vergehens oder einer Unzulänglichkeit. Das war ganz gewiss nicht der Fall. Ebenso beging Reventlows Mutter sicher keinen „Vertrauensbruch“, als sie den Schreibtisch ihrer Tochter aufbrach und deren Briefe las. Denn Reventlow vertraute keineswegs darauf, dass ihre Mutter ihre Privatsphäre respektieren würde, wie der verschlossene Schreitisch, ihre Briefe an Fehling und auch Wendts Buch selbst deutlich machen. Zu solchen Flüchtigkeiten passt, dass Wendt das Spannungsverhältnis nicht zu bemerken scheint, das zwischen ihrer Behauptung, „Bequemlichkeit“ sei „nie ihr [Reventlows] Lebensideal“ gewesen und den Ausführungen ihrer Protagonistin über „die Frau“ besteht, wie sie Reventlow in dem Essay „Viragines oder Hetären?“ niedergeschrieben hat. Dabei paraphrasiert und zitiert Wendt den Text ausführlich: „Die Frau […] sei nicht zur Arbeit, nicht für die schweren Dinge des Lebens geschaffen – ’sondern zur Leichtigkeit, zur Freude, zur Schönheit – ein Luxusobjekt in des Wortes schönster Bedeutung, einbeseeltes, lebendes, selbstempfindendes Luxusobjekt, das Schutz, Pflege und günstige Lebensbedingungen braucht, um ganz das sein zu können, was es eben sein kann.‘ […] Sie leidet darunter, ihr Leben nicht so führen zu können, wie es einer Frau eigentlich zusteht: in Leichtigkeit, Freude und Schönheit.“ All das ist einer Apologie der Bequemlichkeit denn doch recht nahe.
Wie zahlreiche literarische Werke Reventlows liest Wendt deren „fulminante Essays“ – das genannte und „Das Männerphantom der Frau“ – gnadenlos autobiografisch: Nicht nur dass sich die Schriftstellerin „genau wie in ihren autobiographisch-fiktiven“ Texten auch in ihren beiden „theoretischen Schriften“ „radikal subjektiv“ äußere, sie mache in ihnen zudem „ihr Schicksal öffentlich“. Da scheint Wendt schon vergessen zu haben, dass sie zuvor zurecht konstatiert hatte, wie sehr Reventlow daran gelegen war, „ihr Schicksal allein zu tragen“ und „alles Belastende mit sich selbst […] auszumachen“. Aus beiden Schriften referiert die Autorin seitenweise, aber kommentarlos Reventlows antifeministische Klischees.
Aber natürlich ist nicht alles an Wendts Reventlow-Biografie schlecht oder verkehrt. Die Abfolge der historischen Stationen auf dem Lebensweg ihrer Protagonistin sind durchaus korrekt wiedergeben, was für eine Biografie ja nicht ganz unwesentlich ist. Auch etliche Charakterisierungen sind treffend. Sehr berechtigt etwa ist die negative Schilderung Adolf Hersteins. Wichtiger noch: Auch das „Besondere der Persönlichkeit“ ihrer Protagonistin bringt Wendt gelegentlich auf den Punkt: „ihr Bestreben, mit ihren Sorgen und Problemen möglichst niemanden zu behelligen, ihr Schicksal allein zu tragen, alles Belastende mit sich selbst – in ihrem Tagebuch – auszumachen und niemals die Haltung, die Würde, die Anmut zu verlieren. Hilfsmittel war dabei die Ironie.“ Das ist zweifellos zutreffend, wenngleich Reventlow die Anmut vielleicht doch nicht ganz so wichtig war.
Wendts Reventlow-Biografie kann also trotz aller Schwächen ohne weiteres als seriös gelten. Auf eine Biografie, die den durch die Kritische Edition der Tagebücher und den Briefwechsel mit Suchocki gewonnenen Kenntnisstand angemessen reflektiert, wird man gleichwohl weiter warten müssen.
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