Die Leiden einer Generation

Kafka und die Psychoanalyse

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Gedanken an Freud natürlich"

In dem enthusiastischen Rückblick auf den rauschhaften Glückszustand der vorangegangenen Nacht, in der er seine Erzählung "Das Urteil" in "einem Zug geschrieben" hatte, notierte Kafka am 23. September 1912 in sein Tagebuch: "Gedanken an Freud natürlich". Gedanken an Freud hatten später auch zahllose Kafka-Interpreten. Sie sind in ihre Interpretationen von Kafkas Werken, gerade auch in die der Erzählung "Das Urteil", eingegangen. Und sie sahen sich durch Kafkas eigene Bemerkung gerechtfertigt. Diese ist jedoch so vage, dass sie fast alle Fragen offen lässt und wie Kafkas gesamtes Werk zu immer neuen Deutungen einlädt. War es eine bestimmte Stelle oder Passage der Erzählung, bei der Kafka an Freud gedacht hat? Etwa bei der Verwendung des Wortes "Verkehr" in letzten Satz, mit dem er nach Max Brods Erinnerung "eine starke Ejakulation" assoziierte? Oder hatte er bei den Gedanken an Freud die gesamte Konzeption des Textes, die Entfaltung der Handlung, die Konstellation der Figuren oder auch seinen tranceartigen Zustand bei der Niederschrift im Sinn? An welche Bestandteile der psychoanalytischen Theorie könnte er dann gedacht haben? An die Mechanismen der Traumarbeit oder der freien Assoziation, an die Symboldeutung, die Theorie des ödipalen Konfliktes? Was davon kannte er zu diesem Zeitpunkt überhaupt? Und hat sein Denken an Freud die Niederschrift des Textes beeinflusst oder fielen ihm erst nach der Niederschrift Parallelen zwischen dem eigenen Text und der Psychoanalyse auf? Und schließlich: Wusste Kafka selbst, woran er genau dachte, als er an Freud dachte?

Auf alle diese Fragen gibt es vielleicht nur eine haltbare Antwort: Woran Kafka vor, bei oder nach der Niederschrift seiner Erzählung wirklich dachte, können wir nicht wissen. Die Geschichte von Georg Bendemanns Beziehung zu seinem Vater, die für beide ein tödliches Ende hat, enthält zahlreiche Einladungen zu Vermutungen, was in ihr von der Psychoanalyse angeregt sein könnte. Doch wie leicht man sich mit solchen Vermutungen täuschen kann, hatten schon früh jene Psychoanalytiker erfahren, die sich damals für zeitgenössische Literatur interessierten.

Als man in der von Freud geleiteten Wiener "Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft" über Jensens "Gradiva" debattierte, erklärten sich manche die erstaunlichen Übereinstimmungen dieser literarischen Krankheits- und Heilungsgeschichte mit den eigenen psychoanalytischen Vorstellungen durch die Annahme, der Autor habe Freuds "Traumdeutung" gelesen und in seinem Text verarbeitet. Sie irrten darin, wie sich schnell herausstellte. Von Kafka weiß man immerhin, dass ihm die Psychoanalyse einigermaßen vertraut war. Die philologische Suche nach Spuren von Kafkas Psychoanalyserezeption vor der Niederschrift seiner Erzählung "Das Urteil" war jedoch nur von begrenztem Erfolg. Die erste, beiläufige Erwähnung Freuds findet sich in einer Tagebuchnotiz vom 10. Juli 1912, die zweite neun Tage später in einem Brief an Willy Haas, der ihm offensichtlich begeistert über seine Lektüre eines Buches von Freud berichtet hatte. Kafka antwortete ihm: "Von Freud kann man Unerhörtes lesen, das glaube ich. Ich kenne leider nur wenig von ihm und viel von seinen Schülern und habe deshalb nur einen großen leeren Respekt vor ihm. Wenn es sich um das Buch von Freud handelt, das Sie in Ihrer Bibliothek hatten, so verdanken Sie eigentlich die Lektüre mir, denn ich hatte, als ich bei Ihnen war, die Hand schon danach ausgestreckt."

Zu den Schülern Freuds, von denen Kafka einiges über die Psychoanalyse erfahren hatte, gehörten vermutlich Wilhelm Stekel, der 1912 im "Prager Tageblatt" einige Artikel veröffentlicht hatte, und Theodor Reik, der in der von Kafka gelesenen Zeitschrift "Pan" seit dem Herbst 1911 etliche Artikel über Flaubert, Schnitzler und Freud publizierte. Unter den Zeitschriften, die Kafka las, hatte schon 1910 "Die neue Rundschau" mit einem Aufsatz des Psychologen und Mediziners Willy Hellpach relativ ausführlich über die Psychoanalyse informiert. Gesprächsgegenstand war sie nachweislich auch in dem Prager Salon von Berta Fanta, in dem viel über Philosophie und Psychologie debattiert wurde und den Kafka sporadisch besuchte, und nicht zuletzt bei den regelmäßigen Treffen mit seinen Freunden Max Brod und Felix Weltsch. 1913 veröffentlichten diese ein Buch, das unter dem Titel "Anschauung und Begriff" eine ambitionierte Wahrnehmungspsychologie menschlicher Urteilsbildung entwarf, die sich stellenweise auf Schriften Freuds berief.

Nach der Erwähnung Freuds in dem Bericht über die Niederschrift seiner Erzählung häufen sich Kafkas Äußerungen zur Psychoanalyse in Briefen erst ab 1917, dem Jahr, in dem er den in Bohemekreisen berühmt-berüchtigten Psychoanalytiker Otto Gross persönlich kennen lernte, Hans Blühers psychoanalytisch orientierte Schrift "Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft" las und in dem die mit einem Blutsturz zu Tage tretende Lungentuberkulose sein Leben veränderte. Er interpretierte sie als psychosomatisches Phänomen und folgte damit Wahrnehmungsmustern, in die auch seine Auseinandersetzungen mit der Psychoanalyse involviert waren.

Kafka und Otto Gross

Am 25. Juni 1920 erzählt Kafka in einem Brief an Milena Jesenská über seine erste Begegnung mit Otto Gross:

Otto Groß habe ich kaum gekannt; daß hier aber etwas Wesentliches war das wenigstens die Hand aus dem "Lächerlichen" hinausstreckte, habe ich gemerkt.

Die ratlose Stimmung seiner Freunde und Verwandten (Frau, Schwager, selbst noch der rätselhaft schweigende Säugling zwischen den Reisetaschen - er sollte nicht aus dem Bett fallen, wenn er allein war - der schwarzen Kaffee trank, Obst aß, alles aß, was man wollte) erinnerte in etwas an die Stimmung der Anhänger Christi, als sie unter dem Angenagelten standen. Ich kam damals gerade aus Budapest, wohin ich meine Braut begleitet hatte und fuhr dann, ganz verbraucht, nach Prag dem Blutsturz entgegen. Groß, Frau und Schwager fuhren mit dem gleichen Nachtzug. Kuh befangen-unbefangen wie immer sang und lärmte die halbe Nacht, die Frau lehnte in einer Ecke im Schmutz - wir hatten nur Plätze auf dem Korridor - und schlief (äußerst, aber ohne sichtbaren Erfolg von Groß behütet). Groß aber erzählte mir etwas fast die ganze Nacht (bis auf kleine Unterbrechungen, während welcher er sich wahrscheinlich Einspritzungen machte) wenigstens schien es mir so, denn ich verstand eigentlich nicht das Geringste. Er erläuterte seine Lehre an einer Bibelstelle, die ich nicht kannte, aber aus Feigheit und Müdigkeit sagte ich es nicht. Unaufhörlich zerlegte er diese Stelle, unaufhörlich brachte er neues Material, unaufhörlich verlangte er meine Zustimmung. Ich nickte mechanisch, während er mir fast vor den Augen vergieng. Übrigens glaube ich, daß ich es auch bei wachem Verstande nicht begriffen hätte, mein Denken ist kalt und langsam. So gieng die Nacht hin. Es gab aber auch andere Unterbrechungen. Manchmal hielt er sich paar Minuten lang stehend an irgendetwas mit aufgehobenen Armen fest, wurde, ganz entspannt, in der Fahrt durch und durch geschüttelt und schlief dabei. In Prag sah ich ihn dann nur noch flüchtig.

Die seltsame Begegnung, die schon drei Jahr zurücklag und Kafka immer noch beschäftigte, hatte nach weiteren zwei Jahren ein dramatisches Nachspiel - für seine Beziehung zu Franz Werfel.

Um Franz Werfels "Schweiger" ging es zunächst, ein bestenfalls zweitrangiges, wenn nicht gar einfältiges, heute allenfalls als Zeitdokument interessantes Drama, das freilich damals mit einigem Erfolg aufgeführt wurde. Kafka war über das Stück empört. Nicht die stärksten Worte scheute er, um seine Betroffenheit angemessen auszudrücken. "Ekel" und "Entsetzen" bekundet er, nennt sich selbst "beleidigt", "unglücklich", "verzweifelt" und das Drama seines sonst so bewunderten Freundes einen "dreiaktigen Schlamm", die Hauptfiguren eine "Höllenerscheinung". Das Stück "geht mir sehr nahe, trifft mich abscheulich im Abscheulichsten", schreibt er im Dezember 1922 an Max Brod. Er selbst sei sich "über die Gründe des Widerwillens nicht ganz im klaren"; dennoch versucht er sie zu formulieren. Dunkel bleibt die Angelegenheit gleichwohl. Geht man ihr nach, lassen sich einige Aufschlüsse gewinnen über Kafka und über das, was ihn zu einem Repräsentanten seiner, der expressionistischen Generation machte.

Kafka liest das Stück, führt darüber mit Werfel, als dieser ihn in Prag besucht, ein quälendes Gespräch. Es belastet ihn "die ganze Nacht über" - wohl auch, weil er einen ihm teuren Freund und ein geachtetes Vorbild zu verlieren fürchtet.

Bald darauf verfasst er jenen kurzen und berühmten Prosatext, der uns unter dem Titel "Gibs auf!" überliefert wurde, das literarische Dokument einer Orientierungskrise. Zahllose Interpreten haben es zu deuten versucht, doch ihnen allen ist entgangen, dass Kafka hier ein Gedicht Werfels umgeschrieben hat. "Der rechte Weg" heißt es. Über ihn vermag Werfel, das Idol der damals jüngsten Literatur, der "Führer der Generation" (so Kafka), keine Auskunft mehr zu geben.

Und auch mit Briefen versucht sich Kafka über seine befremdliche Reaktion Klarheit zu verschaffen. Der erste bleibt ein Entwurf, der zweite ist vermutlich nie an Werfel abgeschickt worden. Die Sprache der Kritik an seinem Freund war wohl zu offen und zu scharf. Das Stück, so lautet der entscheidende Passus, sei "ein Verrat an der Generation, eine Verschleierung, eine Anekdotisierung, also eine Entwürdigung ihrer Leiden".

Wenn man nach 1920 in Prager Literatenkreisen von "der Generation" sprach, meinte man die eigene, die etwa um 1910 mit Nachdruck in die literarische Öffentlichkeit trat und schon am Ende des Jahrzehnts als abgeschlossene, historische Angelegenheit betrachtet wurde. Werfels "Schweiger" hatte die Ideen, Aktivitäten und auch die Leiden dieser Generation noch einmal in Szene gesetzt, dabei freilich entstellt zu dümmlichen Heilslehren, psychopathischen Phantastereien und psychiatrischen Einzelfällen.

Vor allem eine Figur musste, so wie Werfel sie auftreten und reden ließ, auf Kafkas Widerstand stoßen: der Privatdozent und Anarchist Dr. Ottokar Grund. Nicht nur mit dem Namen spielte der Autor auf einen Mann an, dem sich sowohl Kafka als auch er selbst zeitweise eng verbunden fühlten und der auf beide einigen Einfluss ausübte: den Arzt, Psychoanalytiker und Anarchisten Otto Gross. Doch damit nicht genug: Diese in dem Stück höchst unsympathisch, ja widerlich gezeichnete Figur weist zumindest eine Eigenschaft auf, die weniger dem realen Vorbild entsprach, als dass sie für jemand anderen charakteristisch war: für Franz Kafka.

Otto Gross, das wird seit seiner Wiederentdeckung in den späten siebziger Jahren immer deutlicher, hat die expressionistische Generation wie wenige andere mit geprägt. Der "bedeutendste Schüler Sigmund Freuds", so Erich Mühsam, vermittelte den Literaten- und Bohemekreisen in München, Ascona, Berlin, Wien und Prag die Psychoanalyse in einer kulturrevolutionären Version. Freud selbst pries ihn, bevor es zum Bruch kam, als "hochintelligent" und "hochbegabt". An C. G. Jung schrieb er am 28.2.1908, er und Gross seien die einzigen, die zur Ausarbeitung der Psychoanalyse Eigenständiges beizutragen hätten.

Der so Gelobte tat dies indes auf eine Weise, die den Lehrer bald befremdete. Otto Gross war wohl der erste, der, Jahrzehnte vor Wilhelm Reich oder Herbert Marcuse, die Psychoanalyse zum Instrument der Gesellschaftskritik machte und mit nachdrücklichem Blick auf die Leiderfahrungen des einzelnen den Zusammenhängen von sozialen und psychischen Konflikten nachging.

"Wir sind Ärzte und wollen Ärzte bleiben", soll Freud dem Kulturanalytiker einmal entgegengehalten haben. Gerade weil Gross (wie später auch Freud) sich nicht nur als Arzt und Therapeut verstand, konnte er Kafka und seine Generation derart faszinieren. In einem Brief an seine Geliebte Milena Jesenská, die ebenfalls Gross kannte und 1920 in einem Feuilleton seinen Tod angezeigt hatte, erklärte Kafka den "therapeutischen Teil der Psychoanalyse" für "einen hilflosen Irrtum". Menschliches Leiden habe eine Bedeutung, die über jene "Krankheitserscheinungen, welche die Psychoanalyse aufgedeckt zu haben glaubt", hinausgeht.

Ganz ähnlich kritisierte Kafka an Werfels Drama, dass die leidvolle Krankheitsgeschichte der Titelfigur, die früher einmal in einem unvermittelten Wahnsinnsanfall einen Mord begangen hatte, zu einem "Einzelfall" degradiert ist, zu einer "psychiatrischen Geschichte": "Sie erfinden die Geschichte von dem Kindermord. Das halte ich für eine Entwürdigung der Leiden einer Generation. Wer hier nicht mehr zu sagen hat als die Psychoanalyse, dürfte sich nicht einmischen. Es ist keine Freude, sich mit der Psychoanalyse abzugeben, und ich halte mich von ihr möglichst fern, aber sie ist zumindest so existent wie die Generation. Das Judentum bringt seit jeher seine Leiden und Freuden fast gleichzeitig mit dem zugehörigen Raschi-Kommentar hervor, so auch hier."

Die Psychoanalyse, so sieht es Kafka, ist selbst ein Dokument ihrer Zeit, eine Art Begleitkommentar zu den "Leiden einer Generation". Soweit sie jedoch ihren Blick auf individuelle Einzelfälle einengt, muss Literatur über sie hinausgehen und das Allgemeine im Besonderen sichtbar machen.

Mit Nachdruck hatte dies auch Otto Gross getan. Das Thema, das ihn, Kafka, Werfel, die ganze expressionistische Generation und schließlich auch die Psychoanalyse immer wieder beschäftigte, war bekanntlich der Konflikt zwischen Söhnen und Vätern. Und der wiederum bildete nur das Grundmuster für die vielfältigen, mitunter tief ins Unbewusste reichenden Konflikte des einzelnen mit den Autoritäten und Mächten einer patriarchalisch organisierten Gesellschaft. Das Thema mit seinen sozialen, psychischen, existentiellen oder auch religiösen Aspekten zu einer umfassenderen Kulturanalyse ausgeweitet zu haben, darin vor allem bestand Gross´ theoretisches Verdienst.

Auch wenn Kafka nicht, zumindest nicht so radikal und offen wie er, den revolutionären Kampf "gegen Vergewaltigung in ursprünglichster Form, gegen den Vater und das Vaterrecht" propagierte, gibt es zwischen den literarischen Macht-, Abhängigkeits-, Schuld- und Ohnmachtsanalysen des einen und den theoretischen des anderen etliche Berührungspunkte. Und auch die persönlichen Erfahrungen, die dahinter standen, hatten manche Ähnlichkeiten.

Jemand musste Otto G. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. Wie "Der Prozess" könnte eine Erzählung über jenen aufsehenerregenden Fall beginnen, der sich im November 1913, etwa ein dreiviertel Jahr, bevor Kafka an seinem Roman zu schreiben anfing, in Berlin ereignete. Der namhafte und einflussreiche Professor für Strafrecht Hans Gross ließ seinen aus der bürgerlichen Ordnung ausgebrochenen Sohn Otto als angeblich "gemeingefährlichen Geisteskranken" mit Hilfe der Polizei aus Berlin in eine Österreichische Irrenanstalt verschleppen.

Kafka muss von der Affäre gewusst haben. Mehrere expressionistische Zeitschriften, die hier ein reales und zugleich höchst anschauliches Beispiel für ihr literarisches Motiv des Vater-Sohn-Konflikts vor Augen hatten, initiierten eine Protestkampagne. Sie fand so viel Resonanz, dass die Zwangsinternierung in der Anstalt bald wieder aufgehoben wurde. Kafka war Leser der "Aktion", die einige Aufsätze von Otto Gross publizierte. Hier auch wurde mehrfach auf den Skandal hingewiesen, sogar eine Sondernummer widmete die Zeitschrift ihm. Doch aufmerksam musste Kafka schon deshalb auf den Fall werden, weil er den Vater aus seinem Jurastudium kannte. Drei Semester lang hatte er in Prag, wo Hans Gross lehrte, bevor er 1905 nach Graz berufen wurde, seine Vorlesungen belegt.

Hans Gross war jahrelang Untersuchungsrichter gewesen. Ein Untersuchungsrichter ist es auch, der im Fall Josef K. Exponent jenes Gerichtswesens ist, das neben anderem vor allem eines mit den autoritären Übergriffen des Vaters und seiner Helfer im wirklichen Fall Otto Gross gemeinsam hat: die Fragwürdigkeit und die Undurchsichtigkeit. Einen Eindruck davon, wie sehr die Affäre von phantasieanregenden Ungewissheiten, dunklen Machenschaften und Gerüchten umrätselt war, vermittelt Arnold Zweigs Beitrag dazu in der "Schaubühne":

Warum hat die Polizei den Doktor Groß ausgewiesen? Nicht weil er Morphium nahm, heißt es jetzt, sondern weil er keine Papiere besaß. In der Tat hatte Otto Groß seine Ausweispapiere nicht; sie lagen bei seinem Vater, dem Kriminalisten Professor Hans Groß in Graz, und so oft er ihrethalben an den Vater schrieb, erhielt er den Bescheid, er brauche sie nicht, denn jederzeit könne sich die Berliner Polizei direkt an den Vater nach Graz wenden, so daß der Sohn Unannehmlichkeiten nie haben werde. Denn die Polizei aller Länder ist eine große Familie. Derselbe Vater aber hatte schon im Mai die berliner Polizei gebeten, seinen Sohn zu beaufsichtigen (warum?) - sollten ihr also von Graz keine Papiere, sondern Aufträge, Bitten um eine kleine Gefälligkeit zugegangen sein? Sie leugnet. Sie hat nämlich, sagt sie, Otto Groß gar nicht ausgewiesen; er habe sich selber freiwillig, sagt sie, in Begleitung eines befreundeten Arztes bis an die Grenze und von dort aus, freiwillig, in eine Anstalt begeben, damit man ihm dort das Kokain entziehe - sagt sie. Nun, dem gegenüber gibt es Zeugen, die von der Besetzung der Wohnung durch mehrere Männer wissen [...].

Mit der Besetzung von Josef K.s Zimmer durch fremde Männer beginnt "Der Prozess". Und K. kann seine "Legitimationspapiere" nicht finden. Doch wichtiger als vielleicht zufällige Übereinstimmungen oder oberflächliche Einflüsse sind die Analogien zwischen dem realen und dem fiktiven Fall, die übereinstimmenden Konflikte zwischen dem ohnmächtigen einzelnen und den Repräsentanten patriarchalischer Macht. Sie zeigen, dass Kafkas literarische Straf-, Schuld- und Angstphantasien keineswegs so phantastisch und realitätsentrückt sind, wie uns das manche Interpreten einreden wollen; und dass die Motive und Denkformen dieses Dichters keineswegs einzigartig sind, sondern weithin repräsentativ für die Erfahrungen in seiner Zeit und Generation.

Die patriarchalische Allianz von Vaterfiguren, Gerichtsbehörden oder Schlossherren, wie wir sie aus seinem Werk kennen, empörte ganz ähnlich auch Arnold Zweig an dem Fall Otto Gross, wenn er "die Synthese von Vaterschaft und Bürokratie" anprangerte. Die Unzulänglichkeit und Unzugänglichkeit, die Ignoranz oder auch banale Lächerlichkeit der gleichwohl mächtigen Behörden machen Kafkas Erzählwerke provozierend anschaulich; bei Arnold Zweig lesen wir: "Gesetzt den Fall, daß im österreichischen Reichsrat über diesen Otto Groß geredet werden sollte, so wird die Mehrzahl der Abgeordneten frühstücken, der Ministertisch wird leer sein, irgendein Ministerialrat wird strengste und sorgfältige Prüfung zusichern [...]."

Gewiss, Josef K.s Fall ist über allen vordergründigen Realismus hinaus auch und vor allem Metapher für einen inneren Prozess, Bild eines vielschichtigen Schuldkomplexes, der Kafkas eigener war, den er jedoch nie als ein bloß individuelles Problem gesehen und dargestellt wissen wollte, sondern immer literarisch ins Allgemeine stilisierte. Doch gehörte es gerade zu den Einsichten der Psychoanalyse, zumal einer solchen, wie sie Otto Gross vertrat, dass innere Konflikte und Machtkämpfe nur Spiegelbild äußerer, zwischenmenschlicher Auseinandersetzungen sind.

Der "Konflikt zwischen dem Individuum und der Allgemeinheit", schrieb Gross in der "Aktion", "verwandelte sich unter dem Druck des sozialen Zusammenlebens naturnotwendig in einen Konflikt im Individuum selbst, weil sich das Individuum sich selbst gegenüber als der Vertreter der Allgemeinheit zu fühlen beginnt". Die "ins eigene Innere eingedrungene Autorität" führe in der Psyche des einzelnen zum "Konflikt des Eigenen und Fremden", der individuellen, insbesondere sexuellen Bedürfnisse einerseits und des "Anerzogenen und Aufgezwungenen" andererseits.

Noch im selben Monat, in dem Kafka Otto Gross persönlich kennen lernte, trafen sich die beiden in der Wohnung von Max Brod wieder. Dieser gab darüber später in seiner Kafka-Biographie einen kurzen Bericht: "Der 23. Juli sieht dann noch eine größere Gesellschaft bei mir, an der außer Kafka der Musiker Adolf Schreiber, Werfel, Otto Groß und dessen Frau teilnahmen. Groß entwickelte einen Zeitschriftenplan, für den sich Kafka sehr interessierte."

Kafkas eigene Erinnerung an jenen Abend klang, noch vier Monate später, weit begeisterter. An Brod schrieb er: "Wenn mir eine Zeitschrift längere Zeit hindurch verlockend schien (augenblicksweise natürlich jede), so war es die von Dr. Gross, deshalb weil sie mir, wenigstens an jenem Abend, aus einem Feuer einer gewissen persönlichen Verbundenheit hervorzugehen schien. Zeichen eines persönlich aneinander gebundenen Strebens, mehr kann vielleicht eine Zeitschrift nicht sein."

"Blätter zur Bekämpfung des Machtwillens" sollte sie heißen. Sie ist nie erschienen; doch das "Feuer einer gewissen persönlichen Verbundenheit" mit Gross hat im Spätwerk des Dichters deutliche Spuren hinterlassen. Vor allem in dem "Brief an den Vater" und in dem Romanfragment "Das Schloss", in dem Kafka nicht zufällig mit dem "Herrenhof" den Namen jenes Wiener Cafés aufgegriffen hat, in dem sich Anton Kuh, Werfel und Gross zu treffen pflegten, sind sie zu finden. Zwei Begriffe in dem Titel der geplanten Zeitschrift gehören zu den ständig wiederkehrenden Schlüsselwörtern beider Texte: Kampf und Macht. Brief und Roman sind nicht zuletzt subtile Beschreibungen eines Kampfes um und gegen die Macht, in dem der Vater beziehungsweise die Schlossherren freilich hoffnungslos überlegen sind.

Wie Kafka in dem Brief seinen Vater schildert, hat dieser einiges mit dem Vater von Otto Gross gemeinsam: beide waren Sozialdarwinisten fragwürdigster Sorte. Der Strafrechtler hatte sich in diversen Schriften mit Argumenten dafür hervorgetan, biologisch minderwertige und für den Kampf ums Dasein nicht taugliche Verbrecher um der Gesundheit der Gesellschaft willen in die Kolonien Südwestafrikas zu deportieren. Kafkas Vater, der die sozialdarwinistischen Tugenden der Stärke und Gesundheit sowohl verkörpert als auch mit Worten vertritt, denkt in ähnlichen Kategorien. Der schwächliche Sohn ist in seinen Augen ein lebensuntüchtiges Ungeziefer. Darüber hinaus ist er lungenkrank - wie jener Angestellte des Vaters, über den dieser einmal sagte: "Er soll krepieren, der kranke Hund." Abgesehen davon verkehrt der Sohn, wie Otto Gross, mit "verrückten Freunden" und befasst sich mit "überspannten Ideen". In ähnlichem Ton hatte der Vater Gross in seiner Charakterisierung der Entarteten über "sexuell Perverse", "Ewigunzufriedene", "Umstürzler", "Professionsspieler", "Geisteskranke" und dergleichen geschrieben, über einen sozialen Typus also, mit dem man in expressionistischen Bohemekreisen sympathisierte. In Kafkas Beschreibung seines Kampfes mit dem Vater scheint also einiges auch von dem Konflikt zwischen Hans und Otto Gross eingegangen zu sein.

Otto Gross war mit seiner Art des Kampfes gegen das Vater- und für das Mutterrecht gewiss eine problematische Figur. Nach dem ersten Eifer und Enthusiasmus der Wiederentdeckung in den 1970er Jahren, an der in Deutschland der kürzlich gestorbene Nicolaus Sombart mit einem Artikel in der Zeitschrift "Merkur" erheblichen Anteil hatte, bemüht sich seit einem Jahrzehnt die Internationale Otto Gross Gesellschaft um eine angemessene Würdigung seiner Person und seiner Schriften. Welche Faszination von Gross in der Zeit des Expressionismus ausging, davon zeugen zahlreiche Dichtungen und Erinnerungsbücher, in denen er teils offen, teils verschlüsselt auftaucht. Sie weisen auch darauf hin, dass Gross nicht nur genial war, sondern auch psychisch äußerst gefährdet. Er selbst machte daraus kein Geheimnis. Und er war für manche, die unter seinem Einfluss standen, sogar gefährlich. Doch was Werfel in seinem Drama "Schweiger", wie auch später in dem Roman "Barbara oder die Frömmigkeit", aus ihm gemacht hat, ist mehr als eine entwürdigende Verzeichnung, das ist eine Diffamierung.

Dr. Ottokar Grund wird nicht nur als ein "höchst unangenehmer Mensch" charakterisiert, als "abgerissen und gänzlich verwahrlost", ja er ist nicht einmal nur ein gefährlicher Psychopath, der sich von der Autorität befreit, indem er seinen Psychiater erschießt, er ist mehr noch: ein Ungeheuer, das "den grenzenlosen Haß von Millionen Kranken" auf die wohlgeordnete Welt der Gesunden predigt. Und wahrhaft ungeheuerlich sind auch die Pläne, die er andeutet: "Bazillenkulturen in die Wasserleitungen..."

Die Figuren in dem Stück seien "keine Menschen", schreibt Kafka. Otto Gross ist hier zum Unmenschen gemacht, der die Humanität als Lüge entlarven will. Das musste den schockieren, der ihn einmal so hoch schätzte wie Kafka. Zumal er eine Eigenschaft des Dr. Grund, auch wenn sie von Werfel wieder maßlos verzerrt wurde, als eigene wiedererkannt haben dürfte: das ambivalente Verhältnis zur Macht und Autorität.

Dr. Grund schwankt gegenüber der Autorität seines Psychiaters, der das rassistische und nationalrevolutionäre Gedankengut der Zeit verkörpert, zwischen hündischem Gehorsam und heroischer Auflehnung. Ähnlich zerrissen von einem geradezu masochistischen Verlangen nach Unterwerfung und dem Willen zum Kampf gegen fragwürdige Autoritäten hat Kafka sich wiederholt in seinen literarischen Figuren dargestellt. Doch um wie viel menschlicher, um wie viel allgemeingültiger vermochte er dieses Dilemma zu vermitteln, das ein anderer Freud-Schüler, Erich Fromm, später sozialpsychologisch als die "Flucht vor der Freiheit" diagnostizierte.

Nachdem K. sich im achten Kapitel des "Schloss"-Romans in einem Akt der Auflehnung gegen die Macht und die ihr hörige Dorfgemeinschaft dem Befehl zum Verhör entzieht, indem er das Haus und die Menschen in ihm verlässt und sich allein ins Freie begibt, folgt abschließend jener großartige Satz, der die ganze Gespaltenheit dieses modernen Helden zum Ausdruck bringt: "da schien es K. als habe man nun alle Verbindung mit ihm abgebrochen und als sei er nun freilich freier als jemals und [...] habe sich diese Freiheit erkämpft wie kaum ein anderer es könnte und niemand dürfe ihn anrühren oder vertreiben, ja kaum ansprechen, aber - diese Überzeugung war zumindest ebenso stark - als gäbe es gleichzeitig nichts Sinnloseres, nichts Verzweifelteres als diese Freiheit, dieses Warten, diese Unverletzlichkeit."

Das waren die "Leiden der Generation". Sie litt unter den zweifelhaften Autoritäten ebenso wie unter dem Verlust an Orientierung und Geborgenheit, wenn sie sich von ihnen und der durch sie geprägten Gesellschaft frei zu machen versuchte. Unter dem Druck der Väter suchte sie die anarchische Ungebundenheit der Vaterlosigkeit und als Vaterlose wiederum den Vater, den Führer.

Doch waren es nicht nur die Leiden der eigenen Generation, die der empörte Kafka von Werfel zum psychiatrischen Einzelfall degradiert sah, es blieben die Leiden des Jahrhunderts.

Hinweise

Der Beitrag basiert vor allem auf zwei Aufsätzen von mir: Thomas Anz: Jemand mußte Otto G. verhaftet haben... Kafka, Werfel, Otto Gross und eine "psychiatrische Geschichte". In: Akzente 31 (1984), H. 2, S. 184-191. Und: Thomas Anz: Praktiken und Probleme psychoanalytischer Literaturinterpretation - am Beispiel von Kafkas Erzählung "Das Urteil". In: Kafkas "Urteil" und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen. Hg. von Oliver Jahraus und Stefan Neuhaus. Stuttgart: Reclam 2002. S. 126-151.

Die Forschungen zu Otto Gross werden seit einem Jahrzehnt von der 1998 gegründeten Internationalen Otto Gross Gesellschaft intensiviert. Am 3.-5. Oktober 2008 findet in Dresden der siebte Kongress der Gesellschaft statt, unter dem Titel: "Fröstelnde Einsamkeit" und "Schrei nach Liebe" - Otto Gross, Psychoanalyse und Expressionismus. (http://www.ottogross.org/deutsch/Kongresse/2008kongress.html) Die Bände zu den sechs vorangehenden Kongressen und eine Dokumentation zur Pressekampagne expressionistischer Zeitschriften gegen die Verhaftung von Otto Gross im Jahr 1913 sind im Verlag LiteraturWissenschaft.de (http://www.literaturwissenschaft.de/) erschienen.

Hartmut Binder, der schon früh auf die Beziehung zwischen Kafka und Otto Gross aufmerksam machte, weist in seinem neuen, umfangreichen Bildband "Kafkas Welt. Eine Lebenschronik in Bildern" darauf hin, dass die Ehrenvorsitzende der Internationalen Otto Gross Gesellschaft, Sophie Templer-Kuh, die in Berlin lebende Tochter von Otto Gross und Marianne Kuh, der Schwester von Anton Kuh, mit eben jenem Säugling identisch ist, den Kafka in seinem Bericht an Milena über seine erste Begegnung mit Otto Gross erwähnt ("der rätselhaft schweigende Säugling zwischen den Reisetaschen").

Gross gegenüber ziemlich reserviert, erzählt Rainer Stach im Fortsetzungsband seiner großen Kafka-Biographie, "Die Jahre der Erkenntnis", über diese Begegnung und seine Folgen. Die drei Seiten dazu sind ein schönes Beispiel für Stachs Fähigkeit, die von der Kafka-Forschung gesammelten Informationen in eine höchst anschauliche Darstellung umzusetzen und dabei, mehr oder weniger spekulativ, dem schon erreichten Kenntnisstand eigene Nuancen hinzuzufügen. Dass der Titel des Zeitschriftenprojektes von Gross eine parodistische Anspielung auf die Wiener "Blätter zur Bekämpfung des Alkoholismus" sein könnte, ist, soweit ich sehe, bislang noch nicht bemerkt worden. Und dass Max Brod "Kafkas anhaltendes Interesse an Gross als Nadelstich" empfinden musste, weil dieser bei dem "verlockenden" Zeitschriftenprojekt nicht auch an die Zeitschrift "Der Jude" dachte, zu der Brod seinem Freund den Weg gebahnt hatte, wurde so auch noch nicht gesehen.

Die 2005 und nun zum 125. Geburtstag in zweiter, durchgesehener Auflage als preisgünstige Sonderausgabe erschienene Biographie von Peter-André Alt (vgl. in literaturkritik.de die Rezensionen von Oliver Pfohlmann und Jürgen Pelzer) greift mit dem Untertitel "Der ewige Sohn" eine Kafka charakterisierende Formulierung Peter Handkes auf, reichert sie jedoch mit psychoanalytischen Perspektiven an. Alts Biographie geht ziemlich ausführlich auf Kafkas Rezeption und Einschätzung der Psychoanalyse ein. Darüber hinaus enthält sie immer wieder Vorschläge, einzelne Werke Kafkas, insbesondere die Erzählung "Ein Landarzt", mit ihren Bildern und ihrer "Traumlogik" in Kontexten der Psychoanalyse zu lesen. Im Rückgriff u.a. auf Foucaults "Sexualität und Wahrheit" blickt Alt dabei auf die Psychoanalyse in historisch distanzierter Perspektive und akzentuiert die Differenzen zwischen Kafkas körperzentrierter und Freuds logozentrischer Sichtweise. "Als Anhänger der Naturheilkunde war Kafka sich bewusst, dass die Krankheit des modernen Individuums auch durch die zivilisationstypische Einschnürung seines Leibes ausgelöst wurde. Freuds Heilverfahren aber blieben sprachlich begründet und vermochten diese Einschnürungen nicht aufzuheben."

Titelbild

Peter-André Alt: Franz Kafka. Der ewige Sohn. 2., durchgesehene Auflage.
Verlag C.H.Beck, München 2008.
763 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783406575358

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Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
726 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783100751195

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Hartmut Binder: Kafkas Welt. Eine Lebenschronik in Bildern.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008.
688 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783498006433

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