Ein Fetzen Realität

Georges Didi-Huberman diskutiert in seiner Studie "Bilder trotz allem", was von Auschwitz sichtbar bleibt

Von Michael MayerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Mayer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er sollte nicht überleben. Und er wusste es. Wie so viele andere. Aber in einem Akt von verzweifeltem Trotz wird Zalmen Gradowski, Häftling in Auschwitz, seine Erfahrungen auf Zetteln notieren, die er nahe der Krematorien in der Annahme vergräbt, auf dass man sie eines Tages finden werde. Dass man eines Tages lesen könne, was er gesehen hat und erleben musste. Denn Zalmen Gradowski war nicht ,nur' Jude. Er war Mitglied einer jener streng isolierten Spezialeinheiten von Gefangenen, die den Nazis als unmittelbare Helfershelfer bei der Massenvernichtung dienten und die allesamt selbst nach kurzem Interim durch eine andere Mannschaft "ersetzt", sprich umgebracht werden sollten. Diese "Sonderkommandos" führten die Häftlinge in die Gaskammern, leerten und säuberten diese nach der Vergasung, schleppten die Leichen zu den Verbrennungsöfen und den Verbrennungsgräben, häuften sie auf, warfen sie ins Feuer, entsorgten die Asche. Und so weiter. "Die Erfindung und Aufstellung der Sonderkommandos ist das dämonischste Verbrechen des Nationalsozialismus gewesen", schrieb Primo Levi einmal. "Juden mussten es sein, die die Juden in die Verbrennungsöfen transportierten, man musste beweisen, dass die Juden, die minderwertige Rasse, die Untermenschen, sich jede Demütigung gefallen ließen und sich sogar gegenseitig umbrachten."

Beginnt man zu ahnen, was es bedeutete, diese Zettel zu vergraben? Wie wichtig diese Schnipsel hastig bekritzelten Papiers sind? Dass sie der Politik der absoluten Isolation, der absoluten Demütigung, der absoluten Vernichtung etwas entgegenzusetzen versuchten? Nur ein paar Worte. Das schrieb Zalmen Gradowski: "Sag' ihnen, dass wenn Dein Herz zu [Stein] wird, Dein Gehirn zu einem fühllosen Denkinstrument und Dein Auge zu einem bloßen Fotoapparat, Du nicht mehr zu ihnen zurückkehren wirst ...".

Nur ein paar Worte. Oder ein paar Bilder, Fotografien beispielsweise. Im Sommer 1944, wo zwischen Mai und Juli allein in Auschwitz-Birkenau vierhundertfünfunddreißigtausend Juden umgebracht wurden, gelang es einer Gruppe von Gefangenen des Sonderkommandos, in den Besitz einer Fotokamera zu kommen. Mit dem "bloßen Fotoapparat" wollten sie festhalten, was ihre Augen tagtäglich sahen. Tatsächlich machten sie vier Aufnahmen, die über eine Angestellte der SS-Kantine nach draußen geschmuggelt werden konnten. Es sind die bis dato einzigen nicht von der SS veranlassten und vom Erdboden aus aufgenommenen Bilder der Vernichtung, die mit der Fernsicht der von der alliierten Luftwaffe gemachten Luftaufnahmen seltsam kontrastieren. Ihre Nahsicht, einem Augenblick extremer Gefahr abgerungen, zeigen zwei Aufnahmen von der Verbrennung der eben Vergasten, eine Aufnahme weiblicher Gefangener, die, gerade entkleidet, auf dem Weg in die Gaskammer sind, sowie ein Bild, das wegen des Gegenlichts nur noch ein paar Baumwipfel erahnen lässt.

Der Geschichte ihrer Entstehung korrespondiert auf markante Weise mit der Geschichte ihres weiteren Schicksals: weder bewirkten sie eine Änderung der Angriffspläne auf Auschwitz und andere Lager (die Krematorien wurden bis Kriegsende nicht bombardiert); noch billigte man ihnen 1947 Beweiskraft in einem Krakauer Prozess zu. 1956 verwandte sie Alain Renais in seiner filmischen Dokumentation über die deutschen Konzentrationslager ("Nuit et Brouillard"; deutsch "Nacht und Nebel"), 1960 illustrierten sie, retuschiert und um die schwarzen Ränder beschnitten, Gerhard Schoenberners "Der gelbe Stern". Aber weder vor noch nach dem so genannten "iconic turn" wurden sie zum Gegenstand bild- und kulturwissenschaftlicher Forschung oder gar philosophischer Reflexion. Die Doktrin der Nichtdarstellbarkeit der nazistischen Massenvernichtung, ihre Bilderlosigkeit, die die geistige Erinnerungspolitik nach 1945 dominierte, stellte ausgerechnet diese Aufnahmen - entgegen der ausdrücklichen Absicht ihrer verzweifelten Urheber - unter Quarantäne.

Erst der französische Philosoph und Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman durchbrach mit einem Katalogbeitrag zu der 2000 in Paris und Winterthur gezeigten Ausstellung "Mémoire des Camps" die intellektuelle Abwehrhaltung. An welche Empfindlichkeiten er dabei rührte, welche Erbitterung ihm bald entgegenschlagen sollte, wird wohl deutlicher, wenn man seine entwickelte Argumentation thetisch verdichtet: denn das theologisch-moralisch imprägnierte Darstellungs- und Bilderverbot des Genozids an den europäischen Juden berührt sich auf fatale Weise mit dem Bilderverbot der Täter selbst. Die absolute Geheimhaltung, die die Nazis für ihre Vernichtungspolitik durchsetzten, umschloss das Monopol, dass nur von der SS oder von ihr autorisiert meist für erkennungsdienstliche Zwecke in den Lagern fotografiert werden durfte. Die von den Nazis verfolgte "Entbildlichung" der "Endlösung" war integraler Teil ihrer Praxis. Die Menschen wurden nicht einfach nur umgebracht, auch nicht en masse: sie wurden vernichtet. Ziel war nicht der Tod allein, Ziel war ihre umfassende Auslöschung. Sie sollten verschwinden, als ob diese Menschen nie geboren worden wären.

Damit aber zielte die "Endlösung" auch auf die Vernichtung aller Archive, aller Zeugnisse und aller Spuren, die auf die Existenz ihrer Opfer überhaupt noch hätten hinweisen können. Und damit wird der Status dieser vier verwackelten Aufnahmen vom Sommer 1944 erst prägnant: Sie sind Widerlegungen! Widerlegungen einer politischen Praxis, die die Menschen, ihre Sprache, ihre Psyche, die Zeugnisse ihrer schieren Existenz restlos zu tilgen trachtete. Gegen Kriegsende versuchte die SS deshalb nicht nur die Spuren ihres Tuns zu verwischen, sondern auch die ihrer Opfer. "Zusammen mit den Werkzeugen der Vernichtung", so Didi-Huberman, "mussten auch die Archive, das Gedächtnis der Vernichtung, zum Verschwinden gebracht werden - hier zeigt sich ein weiteres Mal die Absicht, die Auslöschung im Bereich des Unvorstellbaren [l'inimaginable] zu halten."

Der Titel seines Buches, "Bilder trotz allem", proklamiert so in denkwürdig schlichten Worten, was der vorherrschende erinnerungspolitische Rigorismus ignorieren zu müssen meinte: dass es diese Bilder gibt und dass sie nicht nichts sind. Dieser Rest an Bildern ist ebenso wie der Rest, der trotz der nazistischen Vernichtungsmaschinerie von den Menschen übrigblieb, ein sowohl physischer wie metaphysischer Widerspruch gegen ihren Furor: Es gibt Asche. Und es gibt Bilder, Lichtspuren. Und weil es sie gibt, ist das Unvorstellbare, das geschah, als Unvorstellbares vorstellbar. Sie machen Auschwitz sichtbar. Das "trotz", das den Titel insgeheim dominiert und im Text Didi-Hubermans demonstrativ wuchert, umspielt nichts anderes als jenes ethische, ästhetische, ja ontologische Paradox, als das die Shoah immer erscheinen wird: dass wir begreifen müssen, was wir nicht begreifen können; dass wir nicht vergessen dürfen, was wir nicht zu erinnern vermögen. "Ein einziger Blick auf diesen Überrest an Bildern, auf dieses erratische Korpus aus Bildern trotz allem genügt, um zu verstehen, dass es nicht länger möglich ist, über Auschwitz in den absoluten Begriffen des 'Unsagbaren' und 'Unvorstellbaren' zu sprechen. Diese Redeweise verfolgt im allgemeinen gute Absichten, sie ist scheinbar philosophisch, in Wirklichkeit aber ist sie bequem."

In der noch von Jean-Paul Sartre gegründeten und mittlerweile von Claude Lanzmann herausgegebenen Zeitschrift "Les Temps Modernes" folgte die Antwort auf dem Fuße. Inwiefern sie von Lanzmann selbst, dessen Film "Shoah" als die bislang maßgebliche Dokumentation zur "Endlösung" bei einer Laufzeit von weit über neun Stunden gänzlich auf historisches Bildmaterial verzichtet, veranlasst worden ist, entzieht sich der Kenntnis. In jedem Fall zeugen Inhalt wie Ton der von dem Psychoanalytiker Gérard Wajcman und der Publizistin Élisabeth Pagnoux verfassten Polemiken nicht nur vom Willen zur Widerrede. Indem sie Didi-Huberman als pervers-fetischistisch, psychotisch, fast geisteskrank diffamieren, sprechen sie ihm - gelinde gesagt - den Status eines Diskutanten von vorneherein ab. Nicht minder apodiktisch ist ihre Haltung dem Bild gegenüber: Unbenommen der Machtart, ihrer Entstehungsbedingungen, der Intentionen ihrer medialen Produktion stellen für Wajcman und Pagnoux alle Bilder der Shoah "Lügen" dar, unstatthafte Versuche konsumtiver Anpassung. Zwischen einer soap opera wie der US-Serie Holocaust (1978), den pittoresken Lichtspielen in Steven Spielbergs "Schindlers Liste" (1993), dem ZDF-kompatiblen Kitsch à la Guido Knopp und den Aufnahmen der Häftlinge selbst besteht aus Sicht eines moralisch überhöhten Ikonoklasmus prinzipiell kein Unterschied.

Der gesamte und deutlich umfänglichere zweite Teil des Buches Didi-Hubermans widmet sich dergestalt der Verteidigung gegen diese Angriffe. Was die Debatte über den Status einer innerfranzösischen Querelle aber hinaushebt, ist nicht allein der Gegenstand, an dem sie sich entzündete. Massivität und Zielrichtung der Attacke zwangen Didi-Huberman nicht nur zur ausholenden Apologie, sondern dankenswerterweise auch zur Präzisierung der bildphilosophischen Prämissen, die sein ganzes Unterfangen überhaupt erst ermöglichen.

Es sind Prämissen von hohem und ebenso unvermeidlichem Abstraktionsniveau. So geben die Bilder zwar erstens Auschwitz zu sehen, aber eben nur "etwas", einen Moment, ein Bruchstück, einen Fetzen Realität. Ihre unmittelbare Evidenz erschließt sich mittelbar, erschließt sich nur der minuziösen Lesbarkeit der Bilder: Sie haben sowohl die Unmittelbarkeit einer Monade, die schlichte Gegebenheit eines "vom Licht fixierten Augenblicks des Entsetzens" als auch die Komplexität der Montage: ihre Entstehungsbedingungen, ihre Planung, die Situation ihrer Realisierung. So etwa ist das Schwarz, das die ersten beiden Bilder rahmt und das man schon als unwesentlich wegschneiden zu können glaubte, Indiz für den Standort des Fotografen. Es ist, wie Didi-Huberman rekonstruiert, die eben geöffnete Gaskammer selbst, aus deren Dunkel heraus die Aufnahmen gemacht wurden. Das Schwarz ist ebenso wenig marginal wie das Verwackelte, die Unschärfe, das Gekippte der anderen Aufnahmen. Sie zeigen nicht nur, was durch den Sucher der Kamera in einem jähen Moment erblickt werden konnte, sie erzählen auch die Geschichte ihrer Entstehung und dessen, der den Auslöser drückte.

Mit dieser unhintergehbaren Verschränkung der Sichtbarkeit und Lesbarkeit der Bilder geht zweitens ein Axiom einher, das Didi-Huberman von Roland Barthes übernimmt und modifiziert: entgegen der verbreiteten Skepsis gegenüber dem historischen Ort einer Fotografie hält er am Kriterium der "Indexikalität" fest; sprich: an jenem stets problematischen, ja gefährlichen und zugleich erkenntnisträchtigen "Punkt, an dem das Bild an das Reale rührt." Die vier Bilder stellen trotz ihrer formalen und situativen Restriktionen (und vielleicht auch wegen ihnen) einen "durch das Medium der Fotografie ermöglichten Berührungspunkt zwischen dem Bild und der Realität von Birkenau im August 1944" dar.

Die Aktualisierung dieser "Berührung" aber obliegt drittens nicht einer willkürlichen Entscheidung, sondern dem Gespür für das "Jetzt der Erkennbarkeit". Es ist der Begriff der Geschichte im Sinne Walter Benjamins, der die gesamte bild- und medienphilosophische Operation Didi-Hubermans stabilisiert. Ein Begriff, der gegen den trivialen Dokumentarismus des Historikers einen Sinn von Geschichtlichkeit freilegt, die in bedrohlich flüchtigen Konstellationen einen Augenblick der Gegenwart mit dem einer Vergangenheit tränkt, die in diesem Moment und für diesen Moment aufgehört hat, bloß vergangen zu sein. Die "Vergegenwärtigung" als ganz eigene Form der Erinnerung, die sich in einem solchen Moment einstellt, ist ebenso wenig kontingent wie sie sich schon auf den bloßen moralischen Appell hin erzwingen ließe. Diese verschütteten Bilder sind an "uns" adressiert, "wir" sind für sie verantwortlich, und es obliegt "uns", sie zu empfangen - wie schwierig, wie schmerzhaft und zuweilen tödlich dieses Empfangen auch immer sein mag.

Sowohl also das Bild, das Reale wie die Geschichtlichkeit selbst nehmen in diesem Buch einen sehr spezifischen Sinn an, ohne den seine Kritik oberflächlich, letztlich fruchtlos bleiben muss. Nicht nur die französischen Autoren der "Les Temps Modernes", auch einige deutsche Rezensenten sind an der Lektüre von Didi-Hubermans Buch exemplarisch gescheitert. Die "Dialektik des Bildes" zwischen dem "Bild als Schleier", das den Zugang zur Wirklichkeit verdeckt, und dem "Bild als Riss", das ihn freisprengt, ist keine Grille eines spekulativ überhitzten Kunsthistorikers, sondern die Conditio sine qua non, ohne die wir den Bildern aus Auschwitz ethisch nicht gerecht werden zu können. Man sollte zur Kenntnis nehmen, dass Georges Didi-Hubermans Buch dazu zwingt, die grundlegenden Vorstellungen von Bild, von Wirklichkeit, Zeitlichkeit, letztendlich von Menschsein selbst zu revidieren. "Die vier Fotografien sind winzige Details einer komplexen Realität, kurze Momente einer Dauer, die sich immerhin über fünf Jahre erstreckt hat. Aber für uns und unseren heutigen Blick sind sie die Wahrheit selbst, ihre Spur, ein armseliger Fetzen, dasjenige, was von Auschwitz sichtbar bleibt."


Titelbild

Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem.
Übersetzt aus dem Französischen von Peter Geimer.
Wilhelm Fink Verlag, München 2008.
260 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783770540204

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