Visionär verschwurbelt

Dietmar Daths neues Science-Fiction-Epos "Die Abschaffung der Arten"

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch wenn Dietmar Dath auf dem Umschlag steht - der Titel lässt im ersten Moment an einen Öko-Thriller denken. Der ginge etwa so: Um seinen Profit zu steigern, versucht ein verbrecherisches Bio-Kombinat aus den USA, sämtliche bedrohten Tierarten auf einmal auszurotten, und zwar mit Hilfe genmanipulierter Mikroorganismen. Nur eine gewissenhafte Biologin und ein mutiger Kommissar stellen sich unerschrocken gegen den teuflischen Plan. In letzter Minute gelingt die Rettung. Kämen Autorin oder Kommissar aus Schweden, die ZDF-Verfilmung wäre garantiert. Stimmiger Vorschlag, falsche Fährte. Der 1970 geborene Dath ist einer der ambitioniertesten Vertreter der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und unternimmt in seinem neuen Roman "Die Abschaffung der Arten" nichts Geringeres als den Versuch, Science Fiction auf höchstem literarischem Niveau zu schreiben.

Erinnern wir uns: Bereits vor vierzig Jahren sah der amerikanische Literaturwissenschaftler Leslie Fiedler den Roman der Moderne an sein Ende gekommen. In seinem berühmten Essay "Cross the Border, Close the Gap" forderte er 1970 eine postmoderne Literatur, die einen Neuansatz auf unverbrauchtem Terrain wagen sollte. Wo ließe sich dies besser finden als in bisher als trivial abgetanen Genres, etwa dem Western, der Pornografie und eben der Science Fiction? Man müsste eben nur mit den avanciertesten Mitteln der literarischen Kunst vorgehen. In der englischsprachigen Literatur ist das teilweise geglückt: Autoren wie Ursula LeGuin und Philipp K. Dick haben seitdem einen enormen kulturellen Einfluss ausgeübt. William Gibson erfand in seinem Roman "Neuromancer" 1984 den "Cyberspace", und zwar sowohl das Wort als auch das Konzept; ohne ihn sähe unsere Vorstellung und Praxis des Netzalltags deutlich anders aus. Und wer wollte ernsthaft den literarischen Rang von Margaret Atwoods Zukunftsvisionen bestreiten?

In Deutschland dagegen wird Science Fiction von Seiten der E-Kultur zumeist nur naserümpfend zur Kenntnis genommen. Natürlich werden Ausnahmen zugestanden - etwa Gustav Meyrink, Arno Schmidt, Friedrich Dürrenmatt - um dann gleichwohl Argumente zu ersinnen, warum sie eben keine "richtigen" Science-Fiction-Autoren seien. Allenfalls gesteht man SF einen Karl-May-artigen Kultstatus zu, etwa den Phänomenen Perry Rhodan oder Raumpatrouille Orion. Viele Texte des Genres sind tatsächlich nicht besser als Groschenromane - aber eben auch deshalb, weil "ernsthafte" Schriftsteller das Gebiet meiden wie Captain Picard die Romulaner. Umso begrüßenswerter ist Daths Vorstoß, der aus dem Herzen der Suhrkamp-Kultur heraus ein verrufenes Genre mitten in die Shortlist des Deutschen Buchpreises katapultiert.

Worum geht es? Die Handlung beginnt zu einem Zeitpunkt, an dem eine Kultur sprechender Tiere, die "Gente", das destruktive Regime des Menschen abgelöst hat. In Europa existieren nur noch drei labyrinthische Städte, über die offiziell der Löwe Cyrus Golden herrscht. Doch sein Regime scheint bedroht - von zwielichtigen Gestalten wie dem Fuchs Ryuneke Nirgendwo, aber auch von neuen halb-organischen Lebensformen, den so genannten Keramikanern (drei Mal darf man raten, von welchem Kontinent sie stammen). Golden will kämpfen, seine Tochter, die Luchsin Lasara, sieht dagegen keine Chance und will einen Teil der Gente auf andere Planeten aussiedeln. Jahrhunderte später machen die Nachfahren der Luchsin und eines Wolfes sich von dort auf, um sich zu vereinigen und zur Erde zurückzukehren.

Vielen dieser Zutaten ist man schon irgendwo begegnet: Dietmar Daths Blick auf die menschliche Gegenwart ist so gehässig wie bei Michel Houellebecq, der in "Elementarteilchen" (1999) und "Die Möglichkeit einer Insel" (2005) den Menschen ebenfalls aus dem nostalgisch-abschätzigen Blickwinkel post-humaner Lebensformen beschreibt - ein Kunstgriff, der selbst mindestens bis auf Friedrich Nietzsches "Zarathustra" zurückgeht. Den manipulierten Tieren begegnet man in H. G. Wells' "Insel des Dr. Moreau" (1896) ebenso wie in Margaret Atwoods "Oryx und Crake" (2003). Noch näher liegt Arno Schmidts "Gelehrtenrepublik" (1957), zu deren Neuausgabe Dath 2006 ein Nachwort beisteuerte, und auf die sich in "Die Abschaffung der Arten" mindestens eine direkte Anspielung findet (falls Sie nachschauen möchten: auf S. 543). Auch bei Schmidt gibt es in den Wüsten von Nevada ein Leben nach dem Menschen, edle Zentauren, böse Spinnenwesen und Schmetterlinge mit Menschengesichtern. In der "Gelehrtenrepublik" werden die neuen Arten noch von Menschen außerhalb der zerstörten Landschaft gezüchtet, während bei Dath umgekehrt die Gente das Aussterben des Menschen nach Kräften befördern. Und feste Tier- und Pflanzenarten werden hier, ja eben, abgeschafft - was für Dath wie für seine Romanfiguren nichts per se Schlechtes ist, denn die Manipulation des Erbgutes wird auch als Möglichkeit der Emanzipation aus den bisherigen Schranken von Natur und Gesellschaft gedacht.

Was Dath in seinem Roman abliefert, ist nicht einfach ein Remix bekannter Versatzstücke. Es ist ein Parforceritt, der die Gattung wie den denkenden Leser zu neuen Ufern führen will; es geht nicht um Fantasy als Eskapismus, sondern um die Fantasie im Dienste einer visionären Zukunftsvorstellung, die in den Gegebenheiten des Hier und Jetzt wurzelt. Das ist weitaus mehr, als das Gros der SF kann und will. Doch immer wenn man meint, man hätte gerade die Konstellation begriffen, nimmt die Fabel eine weitere überraschende Wendung. Die Erzählung verwischt die Grenzen zwischen Mensch, Tier und Maschine, zwischen Geschlechtern und Individuen; Venus und Mars, Raum und Zeit wirbeln munter durcheinander. Ab und zu gleitet ein Theodor-W.-Adorno-Zitat vorbei, und natürlich schafft es Dath auch in der "Abschaffung der Arten", seine Zentralgestalt Cordula/Candela unterzubringen, ständige Bewohnerin des Dath'schen Romankosmos seit dem Debüt "Cordula killt dich" (1995). Das Ergebnis ist ein verwirrender, hypnotischer Strom, der aber - besonders im zweiten Viertel - nicht selten die Grenzen zum bloßen Manierismus überschreitet. Mancher mathematische Spezialbegriff, der hier gedropped wird, scheint eher der demonstrativen Ausstellung von Autorwissen zu dienen; schließlich hat Dath auch einen Mathematikführer namens "Höhenrausch" geschrieben. Hinter diesen Irrungen und Wirrungen stehen viele kluge Gedanken, die man auf einer eigens zum Roman gelaunchten Webseite nachlesen kann, aber auch deren Lektüre nimmt dem Text keineswegs die - gewollte - Sperrigkeit. Dath wünscht sich eben mitdenkende, mitgehende Leser, die vor den immer neuen Haken und Ösen der Geschichte nicht kapitulieren, sondern sich herausgefordert sehen. Im besten Fall gelingt das, doch ziehen sie nicht mit, so suggerieren es Daths Leseanweisungen im Netz, sind sie schlicht zu denkfaul - oder in den Denkbahnen der herrschenden Verhältnisse befangen. Auch wenn man Daths Ansichten teilt (er ist bekennender Marxist), ist diese verordnete Kopplung zwischen ethischer und ästhetischer Programmatik ein echter Kurzschluss.

In manchen Passagen gelungen, anspruchsvoll und mitreißend, pendelt der Roman letztlich doch zwischen Vision und Wirrnis, ohne dass das Pendel eindeutig in eine Richtung ausschlüge. Das Ineinander von Science und Fiction, von realistischen und surrealen Momenten ist Dath andernorts schon besser gelungen, jedenfalls deutlich lesbarer. So etwa in seinem zweiten Suhrkamp-Roman "Dirac" von 2006, der zugleich Biografie eines Wissenschaftlers, UFO-Erzählung und Porträt einer Freiburger Freundesclique sein kann, ohne je seine Stimmigkeit preiszugeben.

Aber auch wenn "Die Abschaffung der Arten" insgesamt einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt: Der Roman bleibt eine literarische Großtat, weil er echte Wagnisse im Hinblick auf Sprache und Genre eingeht, von der die meisten Mitbewerber Daths um den Deutschen Buchpreis nicht einmal zu träumen wagen. Wem das zu anstrengend ist, soll doch verfilmte Ökothriller gucken. Im ZDF.


Titelbild

Dietmar Dath: Höhenrausch. Die Mathematik des XX. Jahrhunderts in zwanzig Gehirnen.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
345 Seiten, 27,50 EUR.
ISBN-10: 382184535X

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Titelbild

Dietmar Dath: Die Abschaffung der Arten. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
552 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783518420218

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