Celan - Jahr für Jahr

Das informative neue Celan-Jahrbuch zeigt auch die Probleme des deutenden Umgangs mit dessen Dichtung

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das neue umfangreiche Celan-Jahrbuch 9 umgreift die Jahre 2003 bis 2005 und enthält 14 Aufsätze, 2 Rezensionen und eine Bibliografie der Celan-Forschung für den Zeitraum 2001 bis 2005.

Einer auch für andere Jahrbücher geltenden Usance folgend stehen am Beginn des Bandes Aufsätze mit neuen Materialien. Massimo Pizzingrilli präsentiert einen Briefwechsel zwischen der Prinzessin Caetani und dem Dichter, der sich auf Celans Mitarbeit an der von der italienischen Mäzenin unterstützten Zeitschrift "Botteghe Oscure" in den 1950er-Jahren bezieht, für die Celan weitere deutschsprachige Autoren gewann. Die in den USA geborene Prinzessin hatte mit ihrem Ehemann Roffredo nach dem Ersten Weltkrieg in Paris die exklusive literarische Zeitschrift "Commerce" ins Leben gerufen und nach dem Wechsel nach Rom ein neues Projekt realisiert, in dem internationale Autoren in ihrer Muttersprache zu Wort kamen. Ingeborg Bachmann, aber auch die in Rom lebende Marie Luise von Kaschnitz könnten den Kontakt zu Celan hergestellt haben, der im Jahr 1956 seine Rimbaud-Übersetzung dort publizierte.

Ein weiteres Quellendossier mit dem Abdruck eines Briefwechsels bietet erhellende Einsichten in die Verbindung Celans zu den Dichtern, die in der Bundesrepublik die Nachfolge des Surrealismus antraten. Im Briefwechsel mit Johannes Hübner fällt neues Licht auf die Aktivitäten des Freundeskreises um Lothar Klünner, Rudolf Wittkopf, Max Hölzer und anderen, der in den 1950er- und 1960er-Jahren, von der französischen Avantgarde inspiriert, eine Reihe von Übersetzungen, Lyrikbänden und Zeitschriften produzierte. Es war der Dichter René Char, der durch seine Bekanntschaft mit Klünner und Hübner das Dreieck um Celan erweiterte und im Jahr 1969 diesen zur Mitarbeit an der Zeitschrift "Speichen" veranlasste. (Auf der Website des Berliner Vereins "Herzattacke" finden sich Faksimiles der hier abgedruckten Briefe. Übrigens waren Klünner und Hübner auch in "Botteghe Oscure" vertreten.)

Mit Wolfgang Emmerichs Aufsatz über die Hintergründe der Verleihung des Bremer Literaturpreises an Celan im Jahr 1958 wird eine neue Abteilung eröffnet, die man "Topografische Kontextualisierung" überschreiben könnte und der auch der Beitrag von Barbara Wiedemann über Celan in Köln ("Zwischen Pestkreuz und Bocklemünd") und Yoshihiko Hirano über Celans Berlin evozierende Gedichte zuzuschreiben wären. Aber letzterer Versuch über Celans Brecht- und Huchel-Rezeption gehört wegen seiner immanenten Vorgehensweise bereits eher in die Abteilung der motivgeschichtlichen, interpretierenden und philologischen Aufsätze, die Marlies Janz mit einer eingehenden Untersuchung von Celans "Gespräch im Gebirg" und seiner Bedeutung im Kontext der "Atemwende" als eine der deutsch-jüdischen Problematik eröffnet. Drei Aufsätze widmen sich dem 1960 veröffentlichten Gedichtzyklus der "Niemandsrose": Axel Gellhaus mit Anmerkungen zur Präsenz von Heidegger'scher Überlegungen in dem Gedicht "Zu beiden Händen" (die als solche Martin Bubers erkannt werden), Klaus Bruckinger projiziert den zyklischen Zusammenhang des Bandes in den Sternenraum und Ralph Zschachlitz geht den erotischen Motiven nach.

In den frühen und mittleren Gedichten folgt Christine Ivanovic Celans Rainer-Maria-Rilke-Lektüre im Zusammenhang mit seinen Evokationen von Schmerz und Gedächtnis. Weit ausholend interpretiert Mona Zaraza-Troubat das Gedicht "Leseast" auf der Basis von Zeitungsausschnitten aus der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" als "Sehhilfe für Blinde". Zwei Aufsätze widmen sich vor der Abteilung "Rezeption" Celans Übersetzungen: Ludwig Lehnen versucht entschieden die Beziehung von Stefan George und Celan am Beispiel ihrer Shakespeare-Übersetzungen neu zu akzentuieren. Martin A. Hainz reflektiert Celans oft als misslungen bezeichneten Übersetzungen seines "Landsmannes" Emil Cioran als Widerstandsakt oder latente Aggression gegen dessen biografische und intellektuelle Statur. Ein Aufsatz von Larissa Neiditsch zur - von Celans in die Sowjetunion geflohenem Czernowitzer Freund Erich Einhorn initiierten - schwierigen Rezeption in der Sowjetunion beziehungsweise Russland und zwei Rezensionen von Thomas Strässle beziehungsweise John Felstiner zu Büchern von Anja Lemke respektive James K. Lyon beschließen den Band gemeinsam mit der Celan-Auswahlbibliografie für den Zeitraum 2001-2005 von Jerry Glenn und Jeffrey M. Packer.

Die in ihren literaturhistorischen Teilen äußerst informative Publikation lässt in den Beiträgen mit Schwerpunkt auf Interpretation eine Vielgestaltigkeit der Zugänge zur Lyrik Celans und ihrer Rezeption deutlich werden, die keiner salvatorischen 'Zusammenschau' bedarf. Vielmehr soll hier ein Problem akzentuiert werden, das etwa Lehnen und Zaraza-Troubat polemisch formulieren: Lehnen hinterfragt die "lange Zeit repräsentative 'Adornisierung' des Dichters", nämlich die Annahme, Celans Dichtung und Übersetzung sei eine komplett negativ zum Schönen stehende, dekonstruktivistisch zu lesende und könne, ja dürfe etwa mit der Georges (der für manche Exegeten ja sowieso lediglich "als Faschist aus künstlerischem Unvermögen" gelte), oder Rilkes nichts zu tun haben. Auch Zaraza-Troubats Feststellung, die "Aussage des Celanschen Spätwerks [lasse] sich keineswegs auf die Symptomatik einer zerbrochenen Welt im Spiegel der gebrochenen sprachlichen und metrischen Strukturen reduzieren", versucht, auf die besonderen Beziehungen der Gedichte zu Realität konstituierenden kommunikativen Strukturen hinzuweisen, die über eine in ihrer Dunkelheit und Gebrochenheit vermeintlich sich erschöpfende Negativität hinaus reiche. Ganz im Gegensatz etwa zu Marlies Janz, die die Bedeutung der Involution bei Celan und Theodor W. Adorno hervorhebt und in kulturkritischer Emphase konstatiert: "Celans, wie auch Adornos, Fixpunkt ist die Erfahrung der Entmenschlichung der Juden als Bedingung dafür, daß Auschwitz überhaupt möglich geworden ist. Eben darauf reagieren beide mit der Infragestellung von Kunst als Teil jener Kultur, die den Genozid hervorgebracht hat."

An diesen extremen Positionen kann man einen Teil der ästhetischen Problematik aber auch der Hintergründe der Innovation Celan'scher Lyrik ermessen. Janz' Hinweis auf die gewollte Dunkelheit mancher Gedichte lässt grundsätzlich nach den ästhetischen Möglichkeiten einer solchen Sprache fragen. Die Exegese und ihre Möglichkeiten, ein bestimmtes Verstehen darzustellen, werden angesichts der Lyrik Celans einer 'Spaltprobe' unterzogen, eine Herausforderung auf die einzelne der Exegeten offensichtlich mit einer - der Celan'schen Haltung scheinbar 'adäquaten' - Abwendung vom Leser reagieren zu müssen glauben und dabei die nicht leicht nachzuvollziehenden Sprachmuster Celans auch noch zur Sprache ihrer philologischen Analyse machen. Es dürfte aber auch kein Zufall sein, dass an Celans Werk manch angestrengter germanistischer Erklärungsversuch sich als Floskel oder Stilblüte entlarvt.

Wenn Axel Gellhaus einen knappen, äußerst konzentrierten Überblick über die Bedeutungsstruktur des Gedichtes "Zu beiden Händen" als Antwort auf Heideggers und Martin Bubers Konzepte der Entfremdung gibt ("Die Gedankenkette endet also in der Konklusion, daß die Schizophrenie die transzendentale Poesis der Erkenntnis ist, die sich im folgenden artikuliert."), so fragt sich der Leser, 'wo denn da die Erotik bleibt', in deren "Diskurs" Ralph Zschachlitz selbiges Gedicht in polemischer Abgrenzung etwa zu den "mystischen Bahnen" des von Jürgen Lehmann herausgegebenen Kommentars zur "Niemandsrose" stellt, wo "Selbstversenkung und Gottesschau" gesehen werden. Wiewohl Bubers Anrufung jüdischer Traditionen bereits nahelegt, erotische Motive in die Interpretation einzubeziehen, verzichtet Gellhaus darauf, während für Zschachlitz Martin Heideggers Seins-Philosophie trotz seiner Entfaltung der Identitätsproblematik nicht herangezogen wird. Natürlich soll nicht die Tatsache, dass es unterschiedliche Interpretationen eines Gedichts gibt, angezweifelt werden, sondern vielmehr die Art und Weise, in der einerseits die eigene gegen die andere immunisiert wird und zugleich mitunter die sprachlichen Grenzen der plausiblen Darstellung unreflektiert überschritten werden.

Martin Hainz' Skizze eines Jacques Derrida'schen "Trapezkünstlers" weist für die nicht unwichtige Frage nach Celans Umgang mit Emil Cioran zutreffend auf die notwendig zu berücksichtigende Komplexität nicht nur von Celans persönlichen Beziehungen hin. Er versteht Celans Werk als in Derrida'schem "Geiste der Auseinandersetzung" geschrieben, und macht damit des Dichters Gesprächsbereitschaft gegenüber Heidegger und Cioran jenseits ideologischer Plattitüden beschreibbar. Dennoch produziert Celans zu vermutende Ausblendung der früheren antisemitischen Positionen dieser Gesprächspartner eine weiterhin sich jeder vorschnellen Plausibilisierung entziehende offene Frage - und damit eine Problematik, die auch für die Sprache des rekonstruierenden Verstehens seiner Lyrik Konsequenzen anmahnt.


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Hans-Michael Speier (Hg.): Celan-Jahrbuch 9. 2003-2005.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2007.
399 Seiten, 75,00 EUR.
ISBN-10: 3825351823

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