Männer am Rande des Zusammenbruchs

Reclams Genre-Lexikon zum Film Noir

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Genres mögen Konstruktionen ohne jeden essentialistischen Kern sein, wie Kathrin Mädler unlängst darlegte. Dies spricht jedoch keineswegs dagegen, Werke etwa der Literatur oder auch des Films nach Genres zusammenzustellen wie etwa die im Reclam Verlag erscheinende Reihe "Filmgenres", in der Norbert Grob nun den, dem Film Noir geltenden, dreizehnten Band vorgelegt hat.

Dem Genre, legt der Herausgeber in der unter dem Titel "Kino der Verdammnis" stehenden Einleitung dar, sei eine "pessimistische, zynische und nihilistische Sichtweise" auf das von den Filmen entworfene "Universums der Verdammnis" eigen, in dem alles menschliche Bemühen von einer "Aura der Vergeblichkeit" und der Aussichtslosigkeit durchdrungen sei. Dabei seien die erzählten Geschichten zwar stets "sozial verankert", zugleich sei die "Noir-Perspektive" der Realität aber nur "im Ansatz" verpflichtet.

Auch Lesenden, denen das Genre gänzlich unbekannt wäre, dürfte im Laufe der Lektüre die dezidiert männliche Perspektive nicht nur des Film noir, sondern auch der Einleitung ins Auge fallen. Grob bemerkt zwar, dass "[i]m Zentrum" der Filme meist "Männer am Rande des Zusammenbruchs" stehen, die "vom besseren Leben, von einer neuen Frau, von einer Menge Geld" träumen, dabei jedoch stets "auf der Stelle treten oder sich in Traumwelten verlieren". Doch arbeitet er die Geschlechterspezifik der Themen und ihrer Darstellungsweise weder weiter heraus, noch reflektiert er sie. Vielmehr ist sie ihm offenbar so selbstverständlich, dass er sie kaum wahrzunehmen scheint. So findet er denn auch kein kritisches Wort für den oft sexistischen Inhalt oder zumindest Subtext der Filme, in denen - wie er sich ausdrückt - "[v]erführerische Frauen als femme fatales" auftreten, "die kühl kalkulieren - und durchtrieben sind, Spinnenwesen, die die Männer nach Gutdünken einsetzen und ausnützen", die ihrerseits - wie etwa in dem Film "Frau ohne Gewissen" (Billy Wilder 1944) - "zum bloßen Opfer schrumpf[en]". Statt sich an den misogynen Weiblichkeitsklischees zu stoßen, richtet der Autor sein Interesse ganz auf die "Tragödie", die den männlichen Hauptdarsteller "umgibt".

Grob, der der Einfachheit halber gleich eine ganze Passage der Einleitung fast wörtlich aus dem von ihm selbst gemeinsam mit Ivo Ritzer verfassten Artikel zu dem Film "Maschinenpistolen" (Raoul Walsh 1949) übernommen hat, gliedert die Entwicklung des Film noir in fünf zeitliche Phasen: die "Frühzeit", eine "zweite (eher kurze) Phase", an welche als dritte die "zentrale Epoche von 1944 bis 1958" anschließe, sodann viertens die "großen Hommages an den Classic Noir" und schließlich die fünfte von "postmodernem Stilwillen" geprägte Phase, die noch immer andaure. Sabine Horst meint in ihrem Artikel zu David Lynchs Werk "Blue Velvet" (1985) gar, der Film noir sei "ein Lieblingskind der Postmoderne" gewesen.

Als Ziel des vorliegenden Lexikons nennt Grob, "die Verengung üblicher Kategorisierung zu sprengen - und einen frischen, neuen Blick auf die Filme zu werfen. Nicht auf das feste Korpus der Filme, die immer wieder genannt sind, sondern auch auf die Paradigmen am Rande, auf Ergänzungen, Kontraste, Widersprüche."

Erwartungsgemäß lösen die gut siebzig Beiträge diesen Anspruch in unterschiedlichem Maße ein. Wie sich versteht, ist es unmöglich, sie alle in einer Rezension zu würdigen. Darum sei hier nur ein einziger etwas näher in den Blick genommen: Achim Podaks Text über David Finchers Film "Se7en" (1995). Podak hat ihn zu dem vorliegenden Lexikon beigesteuert, obwohl er der Auffassung ist, der vorgestellte Film sei gar nicht dem Genre des Film noir zuzurechnen - und er nutzt seinen Beitrag dazu, diese These überzeugend zu begründen. Zwar drücke sich Finchers Werk "in den schummrigen Ecken des 'Genres' herum", doch belasse es der Regisseur beim "visuellen Zitat". Wenn zudem allein schon die "pessimistisch-verhangene" Weltsicht der beiden Protagonisten Doe und Somerset ausreichen würde, um den Film dem Genre zuzurechnen, büße der Begriff "Film noir" "jegliche Trennschärfe" ein. Man lässt sich ohne weiteres von Podaks Ausführungen überzeugen, was allerdings leicht zu dem Schluss führen könnte, dass Finchers Film und Podaks Artikel im vorliegenden Lexikon fehl am Platz seien. Das sind sie aber keineswegs, macht Podak doch wie kein anderer deutlich, was dem Genre nicht mehr - oder eben noch nicht - zuzuschlagen ist.

Zu Finchers Film selbst ist anzumerken, dass der Serienkiller - oder gar die Macher des Films selbst - keinen blassen Schimmer von dem tristen Dasein einer Prostituierten hat. Andernfalls hätte er schwerlich auf die Idee kommen können, ausgerechnet sie für die 'Sünde der Wollust' zu ermorden. Auch macht der Killer es sich mit seiner eigenen 'Bestrafung' ziemlich leicht. Während alle anderen 'SünderInnen' langsam zu Tode gefoltert werden oder sich wie der Polizist lebenslang mit ihrer 'sündhaften' Tat quälen müssen, gönnt er sich selbst einen schnellen und selbstbestimmten Tod.

Abschließend noch ein Hinweis für all diejenigen, die sich von der Spannung der Filme in den Bann schlagen lassen möchten und das Lexikon zuvor konsultieren wollen, um sich darüber kundig zu machen, welche Filme überhaupt sehenswert sind. Sie sollten nur mit spitzen Fingern zu dem Büchlein greifen. Denn so mancher Plot und so manches Ende werden ganz ohne Vorwarnung verraten. Aber das muss ja auch so sein, in einem Nachschlagewerk, das über die Filme verlässlich und, wenn auch nicht umfassend so doch ausreichend, informieren will.


Titelbild

Norbert Grob (Hg.): Film Noir.
Reclam Verlag, Stuttgart 2008.
408 Seiten, 8,80 EUR.
ISBN-13: 9783150185520

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch