Im Buche lesen wir Schriftzeichen

Vom Hochsitz der Lektüre: nachgeborene Anmerkungen zu Karl Schlögels "Terror und Traum. Moskau 1937"

Von Christian LuckscheiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Luckscheiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Städte liest man nicht wie Texte, ist in Karl Schlögels Buch "Im Raume lesen wir die Zeit" aus dem Jahr 2003 zu lesen. Das Stadt-Lesen erfordere nämlich eine ganz andere Anstrengung: Man müsse sich für dieses spezielle Lesen in Bewegung setzen, die Bibliothek verlassen, sich herabbewegen vom "Hochsitz der Lektüre" und hinaus-, aus dem Lesesaal herausgehen, in den Raum hinein (in dem die Zeit zu lesen ist). In diesem bibliotheksexternen Lesesaal wird der bewegliche Leser dann mit dem "struggle of the fittest for survival", wie es Schlögel in einer nicht unproblematischen Zusammenstellung und Anwendung Darwin'scher Leitbegriffe nennt, konfrontiert, also mit dem wirklich wirklichen Leben. Dieses zeigt sich natürlich überall außer- (oder unter-)halb der Bibliothek, nur nicht in ihr, und besonders soll es sich, wie in einem Prisma, in den Städten zeigen. Der elitäre Bücher-Jäger, der sich auf seinem elfenbeinernen Hochsitz die Lungen verstauben und die Augen verderben und den Kopf durch Theorien (etwa Maos) verwirren lässt, die ihn immer weiter von der wirklichen Wirklichkeit entfernen, soll sich draußen in der wirklichen Wildnis der chaotischen Masse stellen und mit eigenen Augen und Beinen die Städte aufsuchen. An diesen von brutalsten (Über-Lebens-)Kämpfen gezeichneten Schauplätzen muss der Ex-Jäger umlernen zum Stadt-Schnüffler, zum Lebens-Inspektor, der, so die Terminologie Schlögels: Tatorte zu inspizieren, Verhältnisse auszuleuchten, Spuren zu sichern und Zeugen zu befragen hat. Nur dann werde der Wissenschaftler eine Sprache finden, die den Ereignissen angemessen ist, nur dann habe er ein Recht, weiter mitzureden.

Offensichtlich versteht sich Schlögel auf Kampf-Rhetorik, wie man es von politisch Engagierten der 1960er- und 1970er-Jahre zu erwarten hat. Vielleicht muss er sich auch darauf verstehen, in einem Umfeld, das seinen brillant geschriebenen Büchern und seinem essayhaften Stil bis heute oft mit Skepsis begegnet: dem Umfeld der sich eher selten durch Brillanz und weite Leserkreise auszeichnenden Historikerschar. Formuliert für die lieben Kollegen, mag die Gegenüberstellung des 'lesend verweichlichten Hochsitzbesserwissers' hie und des 'harten, der Wirklichkeit in die Fratze Schauenden' da notwendige Abgrenzungen auszeichnen. Außerhalb dieser disziplinären Scharmützel wirken sie zumindest fragwürdig und machen den Zugang zu dem, worüber Schlögel dann eigentlich schreiben möchte, unnötig unattraktiv.

Das In-die-Bresche-Springen für den Augenschein, für die Anschauung, für das Vertrauen auf die Augen, auf das eigene Sehen, gibt sich bewusst anachronistisch und kann bestimmten Ausrichtungen der Kulturwissenschaften nur gut tun. Im bloßen trotzigen Insistieren ohne Diskussion der Problematik ist es allerdings ärgerlich: Ein regelrechter Jargon der Diskriminierung des Anschaulichen sei von den arroganten Nachgeborenen, "die selber nichts mitgemacht haben", entwickelt worden. "Als gäbe es etwas Härteres als das subjektiv Erfahrene und das individuell Erlittene". Gut, dass Schlögel auch ein Nachgeborener ist, sonst müsste man wahrscheinlich noch ganz andere Dinge über die Nachgeborenen lesen. Im Gegensatz zu ihnen will er zwar den Hochsitz verlassen haben - hat er dadurch aber auch das Reich der Fragen verlassen, die die Wissenschaft zu stellen und nach Möglichkeit zu beantworten hat?

So ist ja beispielsweise die berühmte Aussage, dass wir das, was wir über die Welt wissen, durch die Massenmedien wissen, und dass selbst Soziologen ihr Wissen nicht mehr im Herumschlendern oder Flanieren und auch nicht mit bloßen Augen und Ohren gewinnen können, weder reine Besserwisserei noch die eines Nachgeborenen, der selber nichts mitgemacht hat (im Gegenteil ist es die Beobachtung eines vom Zweiten Weltkrieg unmittelbar Betroffenen). Bei über 1.000 Fußnoten, die sein neues Buch auszeichnen, kann auch Schlögel nicht den reinen Augenschein behaupten wollen. Weshalb sieht es dennoch danach aus?

Außerdem wäre interessant zu wissen, wie Schlögel zu der Behauptung kommt, mit seinen zwei Augen vor Ort über das individuell Erlittene anderer Menschen besser Auskunft geben zu können, mehr davon zu sehen, es angemessener oder wirklicher beschreiben und speichern zu können als andere, die sich über Medien (und mit anderen Theorien) damit auseinandersetzen. Viele weitere Antworten auf drängende Fragen wären wünschenswert, zum Beispiel auf die Frage, inwiefern sich der für ein räumliches Denken eher typische Abstraktionsprozess vom sinnlich wahrnehmbaren Ort hin zu den "buchstäblich virtuellen Orten, die den eigentlichen Raum der Wissenschaft darstellen" (Michel Serres), also der Weg, den auch Schlögel gegangen ist, umkehren lässt als Empfehlung an Stubenhocker. Und was hätte Schlögel konkret zu der wiederholt bestätigten Beobachtung zu sagen, dass ganz reale Weltdurchquerungen und Ortsaufsuchungen immer schon stark an ganz reale Textdurchquerungen gebunden waren und sind, soll heißen, dass selbst aufmerksamste Beobachter von ihren Reisen mit Beschreibungen zurückkamen, die mehr an vorgegebenen diskursiven Deutungen als an der empirischen Beobachtung orientiert waren. In Schlögels Furor gegen Theorien und seiner Gleichsetzung von Theorie mit Ideologie und Hochsitz liegt die Gefahr, weit hinter die im Vergleich zu den Theorien etwa der 1970er-Jahre viel ausdifferenzierteren und vorsichtigeren Theorien der letzten Jahrzehnte zurückzufallen, mit denen Schlögel nicht umzugehen weiß, vor allem weil ihm Sprache und Schrift in ihrem Verweischarakter unproblematisch sind. So wird an keiner Stelle etwa darauf eingegangen, dass eben auch eine Raumgeschichtsschreibung mit Schrift operieren muss.

Sein in diesem Jahr erschienenes Buch "Terror und Traum. Moskau 1937" widmet sich nur einem Ort, Moskau; diese Ein-Raum-Geschichtsschreibung wird hier verschränkt mit der Idee einer "histoire totale", einer "Geschichte der Gleichzeitigkeit", zentriert um ein Jahr, 1937, das Jahr der Schauprozesse ("Terror") und der gigantomanischsten (Bau-)Projekte beziehungsweise Volksfeste ("Traum"). Das Buch war bereits angekündigt - ebenfalls in "Im Raume lesen wir die Zeit" von 2003. Schlögels Muse, die er anruft, um zu helfen, den historischen Ernstfall Moskau 1937 zu bewältigen, war dort Herodot. Mit ihm wollte er in die Welt des Moskaus von 1937 hinausgehen und wie der alte Grieche an jenem Ort alle seine Sinne gebrauchen, um etwas zu verstehen, was nicht zu verstehen ist. "Was aus den Wanderungen durch das Moskau im Jahre 1937 sich ergeben wird [...] - wir werden sehen" - es sind über 800 Seiten, von außen zweifelhaft geschmückt mit dem vollendeten Palast der Sowjets, der indes nie auch nur ein Richtfest feiern konnte.

Das Buch ist als "Versuch" ausgewiesen: als Versuch, die extremen Erfahrungen von Terror und Traum im Jahr 1937 in Moskau (und der Sowjetunion) in einer Geschichte der Gleichzeitigkeit zusammenzubringen und zu vergegenwärtigen. Es beeindruckt dabei mit einer Fülle von Daten und einem Wissen, das auf Jahrzehnten intensiver Auseinandersetzung mit der Sowjetunion beruht. Eine große These hat es indes nicht - bis auf diejenige, dass sich der Terror nur dann verstehen lässt, wenn man neben ihm gleichzeitige Ereignisse (20 Jahre Oktoberrevolution, Puschkin-Jubiläum, Nordpol-Expeditionen et cetera) mit in den Blick nimmt. Die fehlende These ist Absicht. Für die "Vergegenwärtigung des Spiels der Kräfte vor Ort" bedürfe es keines Systems und keiner Logik. Angesichts des Umfangs überraschend als vorläufig gedacht, als fragmentarischer, eröffnender Versuch, möchte Schlögel lieber das Rätselhafte, das Moskau 1937 bis heute unterscheide, festhalten, ohne eine Großthese, die alles erklären will. "Das Buch liefert die Bilder, die sich dann im Kopf zum Panorama eines heillosen Geschehens zusammensetzen lassen", heißt es suggestiv; und weiter: "Unübersehbar sind die Anteile an Zitaten, von denen Gebrauch gemacht wird, wo sie unüberbietbar genau fixieren, was keine eigene Darstellung einholen könnte." Dennoch sei das Buch keine Montage, in der alles in der Schwebe bleiben kann, sondern eine Erzählung. Denn plötzlich abbrechende Lebensgeschichten könnten nicht montiert werden, sondern müssten erzählt werden.

Meistens ist es kein gutes Zeichen, wenn ein Text die Interpretation seiner Form gleich mitliefert. Und genau hier ist die Stelle, an der eine Rezension bei aller Hochachtung vor dem Gewaltakt, der die Realisierung dieses Buches ist, einzuhaken hat. Denn gegenüber der Form, dem Aufbau, der Komposition des Buches und also dieser sich als neu ankündigenden Verfassung einer Geschichte der Gleichzeitigkeit bleibt man ziemlich ratlos.

"Terror und Traum" ist weniger Erzählung als eben doch größtenteils Montage; es erscheint manchmal beinahe als Textsammlung, die noch zu bearbeiten ist. Der Stil, die Form dieser Geschichtsschreibung erinnert an ein anderes bekanntes Geschichts-Buch der letzten Zeit, nämlich an Hans Magnus Enzensbergers Roman "Hammerstein oder Der Eigensinn". Nicht von ungefähr, heißt es doch in der Danksagung am Ende von "Terror und Traum": "Über Probleme der Darstellung zu sprechen gab es in der Münchner Zeit keine[n] besseren Gesprächspartner als Hans Magnus Enzensberger (über den 'Skandal der Gleichzeitigkeit')".

Vielleicht hätte es den ja doch gegeben - zum Beispiel Hans Ulrich Gumbrecht. Immerhin hat Gumbrecht mit "1926" ein prominentes Buch geschrieben, dem es ebenfalls um historische Gleichzeitigkeit zu tun ist. Doch dieses Buch ist Schlögel unverständlicherweise lediglich eine Fußnote wert: dessen alphabetisches Ordnungsprinzip erweise sich einem Narrativ für Moskau als wenig angemessen.

Die Form-'Lösung', die Schlögel anbietet, ist aber kaum befriedigender. Die zentrale Arbeit der Verknüpfung des über Jahre angesammelten Wissens findet in "Terror und Traum" ebenso wenig wie bei "Hammerstein" statt. Die Aneinanderreihung von 38 Kapiteln, die zum Teil aus Collagen seitenlanger Zitate ohne ausführlichere Kommentare bestehen, liefert zwar Bilder, aber diese bleiben als Einzelbilder bestehen und setzen sich im Kopf entgegen der Behauptung nicht zu einem Panorama Moskaus im Jahr 1937 zusammen. Das ist angesichts der immensen Arbeit schade. Vor allem aber bietet das Buch in keiner Weise die Form einer neuen Geschichtsschreibung, eines neuen Narrativs. Es hätte wohl in dieser Weise auch ohne die Rahmenüberlegungen zu einer Raumgeschichte und einer Geschichte der Gleichzeitigkeit geschrieben werden können. Was als neues Narrativ auftritt, fällt oft sogar in etwas zurück, was man positivistische Zahlen- und Faktenhuberei nennen könnte, wobei auch die Zahlen meist nicht weiter kommentiert werden - nur ein Beispiel: "Die Bilanz der in den Volkskommissariaten verhafteten 'Schädlinge und Saboteure' ist eindrucksvoll. Zwischen Oktober 1936 und März 1937 sind als 'Mitglieder trotzkistischer Organisationen' verurteilt worden: in Schwerindustrie und Rüstung 585 Personen, in der Volksbildung 228, in der Leichtindustrie 141, im Verkehrswesen 137, in der Landwirtschaft 102, in der Lebensmittelindustrie 100, im Binnenhandel 82, im Gesundheitswesen 64, in der Forstwirtschaft 62, im Post- und Fernmeldewesen 54, im Finanzsektor 35, in der Wasserwirtschaft 88, im Ressort Sowchosen 35, in der für den nördlichen Seeweg zuständigen Behörde 5, im Außenhandel 4, in Akademien und Hochschulen 77, in Verlagen und Redaktionen 68, in Gerichten und Staatsanwaltschaft 17".

Die neuen Einsichten, die eine "Raumgeschichtsschreibung der Gleichzeitigkeit" bieten soll, wären noch zu erweisen. Die Suggestionen und Behauptungen, mit denen Schlögel meistens arbeitet, überzeugen nicht. Man darf skeptisch sein, dass sich etwa das Nichtvorhandensein von Kanalisation und Wasserleitungen im Moskau von 1937 besser verstehen lässt, "wenn man slums und favelas gesehen hat". Und man darf auch skeptisch sein, wenn allein die Montage für Multiperspektivität und Gleichzeitigkeit sorgen soll und die Arbeit des Bezüge-Herstellens und Verknüpfens von Material an die Leser weiterdelegiert wird. Gleichzeitigkeit lässt sich nicht behaupten, sondern höchstens über theoretische Entscheidungen simulieren. Dabei drängt sich unter anderem der Gedanke an andere Medien als das gute alte Buch, nämlich an die neuen Medien, vehement auf.


Titelbild

Karl Schlögel: Terror und Traum. Moskau 1937.
Carl Hanser Verlag, München 2008.
812 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783446230811

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