Once upon a time

Der etwas andere Jugendstil des György Dalos

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Eigentlich ist es sinnlos, mich dafür zu entschuldigen, Feri K. nicht erkannt zu haben, als er mir am Mittwoch, dem 26. September, plötzlich entgegenkam, an der Ecke Oktogon/Andrásy-Straße, dort, wo früher das Restaurant ,Savoy' war und heute Burger King seine schlichten Speisen anbietet". Ein großartiger Beginn: Ein Ich-Erzähler, ein konkreter Schauplatz, eine mit Erinnerungen an Vor-Burger-King-Zeiten durchsetzte Erzählgegenwart und die Evokation der Frage, was es mit diesem Feri K. (nicht etwa Feri L. oder M.) wohl auf sich haben könnte.

Gebannt liest man weiter in diesem schmalen Roman, den der 1943 in Budapest geborene, seit langem in Berlin lebende Historiker und Schriftsteller György Dalos nicht lange nach seiner großen Erzählung "Balaton-Brigade" (2006) veröffentlicht hat. Der Ich-Erzähler heißt Robert Singer, ist stellvertretender Direktor eines "Instituts für Jugendstil" in Wien und wird bei einem Bummel durch seine Geburtsstadt von einem Fremden angesprochen - doch "als wir uns die Hand reichten, kam mir seine Handfläche unverwechselbar bekannt vor". Es ist niemand anderer als sein alter Schulkamerad Feri K., und die kurze Begegnung mit ihm wird dem Protagonisten zum Auslöser, sich in die Jahre 1961 und 1962 zurückzuversetzen.

Denn als K. aus seinen Augen verschwindet, flammt vor Roberts innerem Auge wie eine Leuchtreklame die Inschrift "Gagarinklub" auf - und schon sind die wechselnden ideologischen Bewertungen von Georg Lukács oder die damaligen Witze über Nikita Chrustschow präsent. Um dieses einstige Ungarn geht es, um die Atmosphäre in der Hauptstadt wenige Jahre nach jenem Aufstand, über den der Autor in seinem Buch "1956 - Der Aufstand in Ungarn" (2006) schrieb. Und darum, wie ein etwas verträumter Junge in dieser Atmosphäre aufwächst, was sie mit ihm anstellt: Individual- und Zeitgeschichte also sowie die dialektische Verschränkung von beidem.

"Ich selbst hatte keine Angst vor der Aufnahmeprüfung für das mit wissenschaftlichem Sozialismus gepaarte Fach Kunstgeschichte", erinnert sich der Erzähler, der damals als "Kleinbürger" galt, was "den Geruch einer Schande, einer Art Erbkrankheit" hatte, der nur durch das Kollektiv gemildert werden konnte. Mit seiner Großmutter teilt er die Wohnung: "So lebten wir also zu zweit, und ich hatte nur den einen Gedanken, aus diesem engen Raum auszubrechen, um sie und ihr ewiges Leiden loszuwerden. Was hatte ich hier schon noch zu erwarten?".

Der ehrgeizige junge Mann weiß, dass man "das rote Büchlein mit den Stempelmarken" braucht, um studieren zu dürfen und damit der gefürchteten Einberufung in die Volksarmee zu entgehen, und wird rechtzeitig Sekretär des Kommunistischen Jugendverbandes. Auch aus Bewunderung für "Brüderchen", den kräftigen kommunistischen Arbeiterjungen, und ganz allgemein aus juveniler Selbstgewissheit: "Wir gehen voll auf in unserem Glauben und sind eins mit uns selbst. Wer uns nicht folgt, den geben wir der Verachtung preis, kanzeln ihn ab und treten seine Bedürfnisse mit Füßen".

Das geschieht zum Beispiel mit dem jungen Feri, dessen Vater bis 1957 Anwalt war und ab 1961 Fabrikarbeiter - ein "Feind unseres Staates", in dessen offiziellem Lebenslauf vier Jahre fehlen. Also wird Feri einem entwürdigenden Verhör unterzogen und kann vorerst kein Mitglied des "Bundes der fortschrittlichen Jugendlichen" werden. Viel wichtiger als er jedoch ist die von der halben Schule angeschwärmte Ilona Fenyvesi, der ein idealistisch-verliebter Robert am Tag von Jurij Gagarins Erdumrundung den ersten Kuss rauben will: "In der Liebe sollten sich zwei Lippen für lange Minuten in einem Sternenhimmel treffen, der die Ewigkeit des Gefühls symbolisierte".

Die Einladung zum Mittagessen in Ilonas Familie aber, durchgestanden wie eine Art Prüfung, bringt dem Helden etwas ganz anderes in Erinnerung - nicht nur Kleinbürger ist er, sondern auch Jude. "Jude. Hatte dieses Wort eigentlich eine präzise marxistisch-leninistische Definition? [...] In der ungarischen Sprache ist sogar grammatikalisch unklar, ob es ein Hauptwort oder ein Adjektiv ist!". Ilona lässt ihn dennoch nicht los, und so kommt es während einer Tanzveranstaltung im "Gagarinklub" zum Unvermeidlichen: Der Funktionär vernachlässigt seine Pflichten, knutscht im Klassenzimmer nebenan mit ihr herum und wird sich zeitlebens an diesen beglückenden "Trancezustand" erinnern. Und genau in diesen zehn Minuten dreht jemand die Sicherung heraus, klaut fünf Wintermäntel und macht den zu Ehren der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution ausgerichteten Tanzabend zunichte.

Die Folge: Robert wird als Verdächtiger verhört und erlebt die Willkür des Systems am eigenen Leib. Die gegenseitige Verdächtigungen und Bespitzelungen zerstören letztlich die Beziehung zu Ilona, deren Vater ihr den Umgang mit Robert untersagt. Ausschlaggebend dafür ist - und das macht Dalos ganz deutlich - die Tatsache, dass Robert Jude ist. "Das Schlimmste aber zu dieser Zeit war das Gericht mit mir selbst, dieser Prozess, in dem ich Angeklagter und Richter zugleich war [...] In den letzten anderthalb Jahren hatte man mir nun schon zum dritten Mal in sanften oder groben Tönen vorgehalten, dass ich Jude bin". Am Ende stellt sich heraus, was der Leser schon erwartet hatte: dass jener Feri K., der "Juden, Kommunisten, Führer und Unterführer" hasst, der Dieb war und Roberts erste Liebe zerstört. Aber im Grunde war er es nicht. Es war die Politik.

Das alles ist spannend und interessant, gerade auch deshalb, weil der Erzähler den Historiker Dalos nicht verleugnen will und man somit, über die Literatur hinaus, viel über den Budapester Alltag der frühen 1960er-Jahre erfährt. Doch seine eigentliche Würze erhält der Stoff durch das subtil reflektierte Erzählverfahren des Autors, der immer wieder Zweifel und Einwände gegenüber seiner Geschichte einzustreuen weiß und damit die Distanz zum erzählten Geschehen aufrecht erhält. "Es fällt schwer und ist beinahe unmöglich, nach so langer Zeit die Gefühlswelten von einst für sich selbst oder gar für andere zu rekonstruieren". Dalos ist genau dies gelungen, und so liest man seine Geschichte über die Verstrickungen eines jungen Mannes in Liebe und Politik mit Gewinn - und mit nachdenklicher Trauer. Denn das Thema Antisemitismus ist keinesfalls eines von gestern. Auch und gerade in Budapest nicht.


Titelbild

György Dalos: Jugendstil. Roman.
Rotbuch Verlag, Berlin 2007.
160 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783867890014

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