Höher, schneller, weiter

Julius von Voß' Roman "Ini" beschrieb bereits zu Beginn des 19. das 21. Jahrhundert

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht nur in feministischen Kreisen wird Mary Shelley dafür gerühmt, dass sie mit dem 1818 erstmals erschienen Werk "Frankenstein: or, The Modern Prometeus" den ersten Science-Fiction-Roman geschrieben habe. Doch das ist ein Irrtum. Denn bereits acht Jahre zuvor brachte Julius von Voß einen "Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert" mit dem Titel "Ini" auf den Markt.

Der heute vergessene Autor verfasste gut zweihundert Werke, darunter das Theaterstück "Berlin im Jahre 1924", das sich ebenfalls der SF zurechnen lässt. Des weiteren Aufsätze mit wissenschaftlichem Anspruch sowie Beobachtungen aus dem Berliner Bürgertum, vor allem aber fiktionale Werke, die Ulrich Blode im Vorwort zur soeben erschienenen Neuausgabe von "Ini" als "Unterhaltungsliteratur" bezeichnet.

Nicht etwa die titelstiftende junge Frau namens Ini ist die Heldin der Geschichte, sondern ihr Verehrer Guido. Er ist Anfang Zwanzig und ein wahrer Wunderknabe, der nicht nur jeden Kampf siegreich bestreitet und nie um eine Erfindung verlegen ist, sondern sich schließlich auch noch als Sohn des Kaisers entpuppt. Ihn begleiten die Lesenden auf diversen Reisen, die ihn zunächst quer durch Europa, anschließend auf knapp sieben Seiten durch den Rest der Welt bis hin zum "EisPol" und schließlich in die Arme der Angebeteten führen. Die meist ferne und gelegentlich mit Briefen bedachte Ini und seine Liebe zu ihr dienen ihm als inspirierende Quellen all seiner Bestrebungen. Ein Verhältnis, das ganz der Rollenverteilung der Geschlechter in Voß' zukünftiger Gesellschaft entspricht, in der Frauen "daheim im Stillen sinnen", während "der Mann in die Ferne schweift, handelt, wirkt." Offenbar hat der Autor seinen Schiller studiert.

Als Science Fiction und nicht etwa als Utopie weist sich der Roman nicht nur dadurch aus, dass Voß' Gesellschaft des 21. Jahrhunderts durchaus nicht utopisch anmuten mag und sicher auch nicht so gemeint ist, sondern mehr noch durch das Interesse des Autors an allerlei detailliert geschilderten wissenschaftlichen Entwicklungen, Entdeckungen und Erfindungen. Auch stellt Voß seine futuristische Welt nicht einfach vor, sondern umreißt die historische Entwicklung vom beginnenden 19. Jahrhundert bis hin zur Gegenwart der Romanhandlung.

Allerorten und auf fast jedem Gebiet wird die Perfektibilität des Menschen vorangetrieben. Dies geschieht nicht zuletzt mit Hilfe der 'exakten Wissenschaften', die auch sonst weithin das Leben bestimmen und erleichtern. So wurde etwa die "Erziehungskunde einer Arithmetik unterworfen, die schon lange genaue Anzeigen ergab und sich immer erweiterte". Auch leistet die Schädelkunde eine "bedeutende Hülfe" zur "allgemeinen Veredlung" des Menschengeschlechts. Königsdisziplin aber ist die weit fortgeschrittene Chemie, "eine jetzt sehr viel geübte, und auf das Leben überall angewandte Kunst". Namentlich die "Arzneikunst" hat ihr vieles zu danken. Gelingt es ihr in Voß` Zukunftsvision doch, die Krankheiten "nach und nach in ihren Stoffen" zu "vertilg[en]", "welche sonst das Geschlecht entstellten", so dass sie "nicht mehr, wie Ehedem Antlitz und Haltung verunbilden." Auch wurden "künstliche Ohren und Augen mancher Art" erfunden, die "Tauben und Blinden Schall- und Lichtstrahlen wunderbar wieder einführten".

Manches, wie etwa ein neuartiges Musikinstrument namens "Zephirharmonika", dient der Ergötzung, doch meist orientiert sich der menschliche Erfindungsgeist an dem späteren Olympischen Motto höher, schneller, weiter, das im Sinne des Romans zugleich die conditio humanitaire bildet. Oft geht es darum, dass Geschosse weiter reichen, Reiseziele schneller erreicht werden oder Häuser, Fuhrwerke und ähnliches gigantische Ausmaße erlangen. Gelegentlich verblüfft Voß mit Erfindungen und Entdeckungen, die inzwischen tatsächlich in ähnlicher Weise gelangen, wie etwa die "Waagen" für die "Strahlen der Lichtmaterie", mit deren Hilfe nicht nur erklärt wird, "weshalb das Licht vom Sirius weiß, das vom Arktur röthlich sei", sondern die weit über die tatsächlichen Möglichkeiten der Spektralanalyse hinausgehen und "aus der Natur ihrer Lichtstoffe" auf die sie umkreisenden Planeten sowie "die dort nothwendigen Modifikationen der anorganischen und organischen Körper" schließen lassen. Doch findet sich unter den wissenschaftlichen Novitäten auch manch barer Unsinn, wie etwa die geglückte Entwicklung eines perpetuum mobile oder die "endlich gefundene Quadratur der Rundung".

Nicht immer dienen die Erfindungen dazu, den Menschen das Leben zu erleichtern und zu verschönen, öfter noch erschweren es ihnen die findigen Wissenschaftler, indem sie ständig neue Waffen und Mordinstrumente ersinnen. Ihnen gilt das besondere Interesse des Autors. Detailliert schildert er etwa die Funktionsweise von Streubomben: "Die Metallröhre schossen Kugeln von funfzig bis zu dreihundert Pfunden auf zwei oder drei Meilen, die Mörser warfen noch weiter, und schwerere Lasten [...]. Die Bomben, von ungeheurem Umfang, trugen deren andere in sich, die abermal mit kleineren gefüllt waren, welche zuletzt unvertilgbar Feuer in sich trugen. [...] [W]enn die Bombe in Höhe von einigen hundert Schuhen über den Dächern angekommen war [...] breiteten sich die größeren Granaten der Füllung, deren Explosion nach Maaßgabe der Größe des Ortes erfolgte, so aus, daß dieser mit den letzten Kugeln und den Trümmern der schon gesprungenen überdeckt wurde, wobei das nach allen Richtungen sprühende Feuer die Verwüstung vollendete."

Auch eine Gegenmaßnahme hat er ersonnen. Die bedrohte Bevölkerung schützt sich, indem die Städte unter die Erde verlegt werden. Damit ist natürlich nicht das Ende der Rüstungsspirale erreicht, denn im 21. Jahrhundert des Romans wird der Krieg "in den Lüften, auf der Erde, und unter der Erde vollzogen". Manche militärische Neuerung bewährt sich jedoch nicht. So zeitigte die chemische "Konstruktzion einer dichten Gewitterwolke [...], die ein künstlicher Wind über ein feindliches Heer treib[t], wo sie in so viel Blitzen niederwärts sich entladen sollte, als das Heer Köpfe zählt", nicht die gewünschten Erfolge, da sich die Angegriffenen einfach mit Blitzableitern ausstatten. Solche Schilderungen der schrecklichsten Waffen sind nicht etwa als dystopische Warnung an die Lesenden zu verstehen. Vielmehr werden der "grausenvolle Krieg" und die "schauderhafte Anwendung entsetzlicher Naturkräfte" im Roman als "nothwendig" gerechtfertigt, weil man sich "nicht ungestraft an Mordkunst überbieten lassen" dürfe.

Darum hat sich auch jeder "gesunde Jüngling" ein Jahr lang "an den Waffenplätzen einzufinden". Es herrscht also allgemeine Wehrpflicht für Männer. Bevor sie jedoch zu den Waffen greifen dürfen, werden sie erst einmal gründlich getestet. Dabei müssen sie zunächst ihre körperliche Fitness und ihre Kampfkraft unter Beweis stellen. Außerdem werden sie nicht nur im "Gedächtnisrechnen und d[en] ersten Elemente[n] der Meßkunde und Naturlehre" geprüft, sondern es wird sich auch ihrer "wohlbegriffene[n] Religions- und Bürgermoral" versichert. Fallen die Ergebnisse negativ aus und einer der jungen Männer wird nicht zum Wehrdienst zugelassen, lässt sich "kein Mädchen von Zartgefühl" dazu herab, ihm die Hand zur Ehe zu reichen.

Selbstverständlich besteht Guido alle Prüfungen mit Bravour und kann sich auf dem Feld am "strahlende Waffenglanz" und dem "laute[n] Donner so vieler Feuerröhre" erfreuen, "deren Rauchwolken den ganzen silbernen Himmel dunkel umzogen und wieder mit tausendfachem Blitz erhellten." Schnell wird er zum Kriegsheld und Erfinder neuer Waffen. Zuguterletzt aber entscheiden nicht die Massenvernichtungswaffen den Krieg gegen die "Tatarn", sondern unser Held höchstpersönlich im Zweikampf mit dem Anführer des gegnerischen Kriegsheeres.

Voller Stolz sendet er Ini die hierfür erhaltenen "Ehrenzeichen". Sie reagiert jedoch keineswegs mit dem erhofften "warme[n] Lob", sondern schreibt ihm einen kritischen Brief: "Traurig wenn das Vaterland gebieten muß, Blut zu vergeuden. Wer die schreckliche Pflicht übte, ihm zu gehorchen, wozu soll er noch ausgezeichnet sein, daß sein Anblick durch eine schauderhafte Erinnerung empöre. Verheimlichen, tief verheimlichen, sollte unsre Zeit die unglücklichen Heldenthaten." Dennoch, so versichert sie, sieht sie ihn gern "in der Heldenreihe".

Die Gesellschaft, für die Guido in den Krieg zieht, wird als "monarchische Republik" geschildert, die sich über ganz Europa erstreckt. Die "Geburtsfolge" wurde beibehalten und die künftigen Könige einer entsprechenden Erziehung unterworfen. Denn diese Gesellschaftsform erwies sich als praktikabelste, nachdem Versuche, die Könige wählen zu lassen, daran gescheitert waren, dass die "Buhlerei um die Gunst des Volkes" einen "heuchlerischen Sinn" hervorgebracht hatte.

Das Verhältnis zum, wie Voss schreibt, "andere[n] Geschlecht" ist ausgesprochen prüde. Sexuelle Freizügigkeit ist verpönt, auf den Bällen tanzen "sittsam züchtige Mädchen" und den jungen Leuten gilt Treue "schöner als Wollust". Dabei sind die "Krankheiten von Ausschweifungen im Geschlechtstrieb" längst dadurch ausgerottet, "daß einst zum Gemeinbesten, im ganzen Staate, an einem ausgeschriebenen und der Menge geheim gehaltenen Tage, ein jede Person, ohne Ausnahme, Untersuchung traf und ihre Heilung bewerkstelligt wurde."

Von den "künstlerisch erstklassige[n] Leistungen", die Herausgeber Blode Voß attestiert, lässt der vorliegende Roman wenig erkennen. Vielmehr bleibt er mit seiner an klassische Utopien erinnernden Handlungsarmut und den kruden Figuren nicht nur literarisch weit hinter "Frankenstein" zurück. Das dürfte hinreichend erklären, warum Shelleys Buch Karriere machte, Voß' Roman hingegen vergessen ist. "Ini" erneut zugänglich gemacht zu haben, bleibt dennoch anerkennenswert. Es handelt sich immerhin um den ältesten bekannten Science-Fiction-Roman.


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Julius von Voß: Ini: Ein Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert. Eine Utopie der Goethe-Zeit.
Utopica Verlag und Versandantiquariat, Oberhaid 2008.
212 Seiten, 29,98 EUR.
ISBN-13: 9783938083116

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