Kennt ihr eigentlich Kafka
Ein Symposion zum 100. Geburtstag des Romanisten Werner Krauss
Von Geret Luhr
Wohl kaum ein akademischer Lebenslauf spiegelt das moralische und politische Schicksal des deutschen Hochschullehrers im 20. Jahrhundert auf spektakulärere und erschütterndere Weise wider als der des Romanisten Werner Krauss. Wie der inzwischen zur Fernsehberühmtheit avancierte Victor Klemperer war auch Krauss ein Schüler von Karl Vossler, der ihn in den 1920-er Jahren zum Studium nach Spanien schickte, wo er, mit den dortigen Anarchisten sympathisierend, erstmals in Haft gekommen ist. In den 1930-er Jahren wurde Krauss Assistent des jüdischen Gelehrten Erich Auerbach, dessen Marburger Lehrstuhl er vertrat, nachdem Auerbach 1933 von der Universität vertrieben worden war. Nach einer Phase der inneren Emigration beteiligte Krauss sich seit Anfang der 1940-er Jahre am antifaschistischen Widerstand. 1942 wurde er als aktives Mitglied der "Roten Kapelle" verhaftet und zum Tode verurteilt. In der Todeszelle, die Hinrichtung täglich vor Augen, verfaßte er zwei seiner bedeutendsten Werke, den Roman "PLN" und die Darstellung von "Gracians Lebenslehre". Auf Intervention namhafter Gelehrter wurde das Todesurteil in eine Zuchthaushaft umgewandelt, aus der er 1945 entfliehen konnte. Maßgeblich wirkte Krauss am geistigen Wiederaufbau und an der Entnazifizierung der Marburger Universität mit, wurde in seiner wissenschaftlichen Arbeit als KPD-Mitglied jedoch von der Militärzensur behindert. Hans-Georg Gadamer holte ihn 1947 nach Leipzig, wo auch Ernst Bloch und Hans Mayer lehrten. In der DDR wurde Krauss Mitglied des Parteivorstandes der SED, erhielt 1949 den Nationalpreis und 1975, kurz vor seinem Tod, den Vaterländischen Verdienstorden in Gold - hatte aber wiederum mit der Zensur zu kämpfen. Seine Form des Widerstandes fand er nun darin, sich zu einem der international angesehensten Aufklärungsforscher zu entwickeln.
Zweifellos eine beeindruckende Vita. Genauso sicher aber ist, dass Krauss' geistige Entscheidung für den Sozialismus noch heute, im wiedervereinigten Deutschland, die Rezeption seiner Werke beeinträchtigt. Dementsprechend nachdrücklich beschwor Martin Vialon, Mitveranstalter einer Marburger Tagung zu Ehren des 100. Geburtstags von Werner Krauss, dass dessen facettenreiches Werk mit dem Marxismus als einer "Parteiwissenschaft" nicht das Geringste zu tun habe. Zumindest indirekt wurde diese These durch den feingeknüpften Anekdotenteppich bestätigt, den Fritz Rudolf Fries, Leipziger Schüler von Krauss und Autor des kürzlich von der Darmstädter Akademie prämierten "Roncalli-Effekts", über seinen Lehrer legte. Mitglied der KPD sei Krauss im Namen der ermordeten Kameraden aus der "Roten Kapelle" geworden; auch später sei es nie seine Sache gewesen, dem Politbüro in Hegelscher Manier die letzte Stufe der Aufklärung zu bescheinigen; als Professor habe er seinen Schreibtisch nicht auf die Straße gestellt, sondern seine Schüler schlicht die schwierige Aufgabe des richtigen Lesens gelehrt, wobei das in seiner Diele hängende Konterfei Stalins lediglich die Funktion gehabt habe, unerwünschte Besucher zu vergraulen, die ihn bei dieser Tätigkeit störten; und schließlich reizte Krauss seine linientreueren Kollegen aus der Germanistik gern mit der boshaften Frage: "Kennt ihr eigentlich Kafka?"
Kein Wunder, dass Krauss sich 1963 nach seiner desillusionierenden Kubareise von dem realexistierenden Sozialismus innerlich lossagte. Die Distanzierung erfolgte nach Fries vor allem deshalb, weil Krauss so dem "Traum der Vernunft", den er im theoretischen Sozialismus verwirklicht sah, habe treu bleiben können. Genau diese dialektische Denkbewegung spiegelt sich deutlich auch in Werner Krauss' Einstellung zur Utopie wider. Während Krauss Anfang der 1960-er Jahre noch die Auffassung vertrat, dass die Utopie im Sozialismus funktionslos geworden sei, weil er sie gesellschaftlich ja schon realisiert habe, widerspricht er diesem Abgesang in seinem bislang unveröffentlichten utopischen Roman "Die nabellose Welt", an dem Krauss seit Mitte der 1960-er Jahre arbeitete, vehement. In dem experimentellen Werk, das von Elisabeth Fillmann (Potsdam) in diesem Herbst herausgegeben wird, reitet Krauss eine scharfe Attacke gegen eine sozialistische Wirklichkeit, die auch für ihn längst "den Charakter einer Kaserne" angenommen hatte, hält aber an dem Glauben, dass der Mensch zu einem besseren Bewußtsein erziehbar sei, fest. Für Krauss war das keine ideologische Position, sondern Grundlage eines aufklärerischen Denkens, dessen Wurzeln er in der französischen Literatur und Philosophie des 18. Jahrhunderts situierte.
In welchem Maß die Ideen der französischen Aufklärung auch lebensgeschichtliche Bedeutung für Krauss gewannen, zeigte Ulrich Ricken (Halle) an Hand des Krauss nicht nur wissenschaftlich beschäftigenden Themas von der Ablehnung des Martyriums in der Aufklärung: um der Sache willen war das Leben des Aufklärers nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen, sondern zu schützen. Eine Einschätzung, die er auch 1942 im Schulze-Boysen/Harnack-Widerstandskreis vergeblich durchzusetzen versuchte. So zeichnete sich immer deutlicher auf der Tagung ab, dass sich bei Werner Krauss Leben, Literatur, Wissenschaft und Politik stets zu einem schwer trennbaren Amalgam verschmolzen haben. Gerade dieser Umstand aber scheint einer aktualisierenden Rezeption seines Denkens im Wege zu stehen. Sabine Kebirs (Berlin) mit einigem Applaus bedachter Versuch, aus der geschichtsphilosophischen Analyse des Krauss'schen Werks die Forderung abzuleiten, dass wir heutzutage genau so militant für republikanische Ziele bzw. für den demokratischen Sozialismus einzutreten hätten wie die Intellektuellen im faschistischen Ausnahmezustand der 1930-er Jahre, signalisierte jedenfalls eher die momentan herrschende theoretische Hilflosigkeit der radikaleren Linken als politische und historische Kohärenz.
Wenn der bei Autoren wie Walter Benjamin und eben Werner Krauss anscheinend notorische Ruf nach einer "Aktualisierung" ihres Denkens schon Gehör finden soll, dann wenigstens in der Form, in der Peter Jehle (Potsdam) ihn formulierte: Als Forderung, Totes und Lebendiges im Werk von Krauss so voneinander zu scheiden, dass man mit dem letzteren weiterarbeiten könne. Unterscheiden aber setzt Kritik voraus, und die gehört bekanntlich nicht zum Tugendkatalog derartiger Veranstaltungen. Was aber gab es auf der Tagung, die das "Zusammenwachsen der Wissenschaftskulturen" von Ost und West recht vorbildlich praktizierte, jenseits der unbestrittenen Integrität der Krauss'schen Persönlichkeit und jenseits des ästhetisch sensiblen Schriftstellers auf der literaturwissenschaftlichen Haben-Seite von Werner Krauss zu verbuchen? Seine Leistung für die internationale Aufklärungs- und Moralistik-Forschung steht außer Zweifel. Erfolgreich kämpfte er, die Traditionslinie kritischer Philologie von Vossler, Spitzer und Auerbach fortsetzend, gegen den Einfluss der vulgär-marxistischen Ästhetik von Georg Lukàcs und rehabilitierte zudem die Frühromantik in der DDR als Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung (Richard Faber, Berlin). Er öffnete sich als einer der ersten im Osten der Komparatistik und löste durch seinen Einfluss auf die in den 1960-er und 1970-er Jahren sich entwickelnde materialistische Literaturwissenschaft des Westens dort seinerseits einen methodischen Paradigmawechsel aus. Doch das sind alles Verdienste, die man historisch würdigen, aber nicht gut aktualisieren kann. Philologische Genauigkeit und vor allem die Dialog-Fähigkeit seines Denkens (Manfred Naumann, Berlin) wiederum betrachtet man lieber als Qualitäten, die wieder Schule machen, sich aber eigentlich von selbst verstehen sollten.
Was bleibt? Durch sein Beharren auf der Beschäftigung mit den poetae minores, den Autoren aus der zweiten, dritten und vierten Reihe (Roland Desné, Reims), streift seine wissenschaftliche Arbeit die Diskursanalyse und böte mit ihrer Einsicht, dass über eine historische Entzifferung des Stils der Kapitalschlüssel zum Kunstwerk gefunden werden kann, gar eine Bereicherung neo-historistischer Verfahrensweisen. So leicht sich der Anschluß an aktuelle Strömungen wie etwa die proklamierte Aufhebung der Grenzen zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften in der Science-Fiction von Werner Krauss imaginieren lässt (Karlheinz Barck, Berlin), so schwer trägt sein methodisches Werk letztlich am materialistischen Erbe und seiner ungebrochen ontologischen und teleologischen Geschichtsauffassung.
Krauss' frühe Einsicht aus den spanischen Tagebüchern, dass ein "Traum dadurch nicht wahrer wird, weil man ihm glauben will", findet in seinem späteren Werk eine direkte Entsprechung: "Ein Irrweg wird dadurch nicht gangbar, dass man ihn behutsam einschlägt." Die Vermutung, dass diese Erkenntnis auch auf Texte wie Krauss' methodische Hauptschrift "Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag" zutrifft, wird auch für jene Leser einige Plausibilität besitzen, für die das Denken von Karl Marx nicht von vornherein ein rotes Tuch ist. Doch diese Tatsache ist nicht Krauss anzulasten. Sie gehört zur geistigen Phänomenologie des 20. Jahrhunderts.