"Lifesense" im "Real Life"

Was den "magischen Realisten" Daniel Kehlmann mit Karl Marx und Bertolt Brecht verbindet

Von Gunther NickelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunther Nickel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Karl Marx hat einen beträchtlichen Teil seines Lebens mit der Untersuchung verbracht, wie und mit welchen Folgen eine Abstraktion namens "Kapital" unser aller Leben beherrscht. Eine Vorstufe und Bedingung der Möglichkeit dieser Abstraktion ist Geld als jenes allgemeine Äquivalent, mit dem Menschen Waren tauschen. Geld macht, sofern man darüber verfügt, das Leben einfach, aber auch anonym, denn mit den Produzenten all der Gegenstände, die wir zum Leben dringend benötigen oder die es einfach nur angenehm machen, müssen wir, seit es Geld gibt, nicht mehr direkt in Verbindung treten. Nutzt man Geld indes nicht als - wie es in der Sprache der Systemtheorie genannt wird - "symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium", sondern als Kapital, potenziert sich nochmals jene Abstraktion, die schon im Warentausch mit Hilfe eines allgemeinen Äquivalents steckt.

Mutiert zum Kapital wird Geld von einem Tauschmittel zu einer vertrackten selbstzweckhaften Angelegenheit. Damit es sich erhalten und vermehren kann, muss sich Kapital erst "materialisieren", zum Beispiel in Gestalt von Maschinen. Die Abstraktion nimmt dann wieder eine sinnliche Gestalt an. Ihr ist jedoch nicht im Geringsten anzusehen, dass sie ihren Ursprung einer Abstraktion verdankt. Die Menschen, die derlei Maschinen bedienen, kümmert das meist wenig. Im Verein mit ihnen sorgen sie gegen Entlohnung vielmehr dafür, dass, wenn alles gut geht, am Ende mehr Kapital als vorher da ist, Kapital, das sich dann wiederum "materialisieren" kann und, wenn es Kapital bleiben soll, auch muss.

Was das alles mit Daniel Kehlmann und seinem neuen Roman "Ruhm" zu tun hat? Auf den ersten Blick nichts, denn der Gedanke an eine Kritik des Kapitalismus stand Kehlmann bei der Arbeit an diesem Buch zweifellos ganz fern. Bei näherem Hinsehen erkennt man allerdings eine Verwandtschaft, denn sein Thema ist gleichfalls die Kolonialisierung der Lebenswelt durch mediale Vermittlungen. Diese bringen auch bei ihm Effekte mit sich, die in einer einfachen Tauschgesellschaft genauso unmöglich wären wie eine Weltwirtschaftskrise als Folge von massenweise gewährten Immobilienkrediten an insolvente Kunden.

Mit Phänomenen, die die Ersetzung der Unmittelbarkeit menschlicher Beziehungen durch abstrakte bereithält, beschäftigte sich Kehlmann schon in der Erzählung "Bankraub", die vor elf Jahren in seinem Buch "Unter der Sonne" erschienen ist. Dort wird ein Mann Dank moderner Computertechnik durch ein kleines Versehen aus Liebeskummer zum Millionär. Darüber könnte man sich für ihn freuen, erschiene der Mechanismus, der dieses Glück hervorbringt, nicht auch beängstigend.

In dem jetzt erschienenen Roman "Ruhm" ist die wachsende Medialisierung menschlicher Beziehungen nicht mehr aufs Monetäre beschränkt. Mobiltelefon und Internet bringen nicht nur eine permanente Verfügbarkeit mit sich, sondern auch eine neue Art von Pluralisierung personaler Identität. So wird in der vierten Geschichte des in neun Erzählungen aufgeteilten Bands ganz plausibel gezeigt, wie dem Schauspieler Ralf Tanner seine soziale Identität, die ihm ob ihrer Scheinhaftigkeit ohnehin längst zweifelhaft geworden ist, unwiederbringlich genommen wird: Ein Doppelgänger übernimmt seine gesellschaftliche Rolle und spielt sie besser als er selbst. Und in der siebten Geschichte lebt Mollwitz, ein leidenschaftlicher Blogger, permanent zwei Leben parallel - ein reales und ein virtuelles, wobei er seinen "Lifesense" nicht im "Real Life (dem wirklichen!)" findet, sondern im Netz: "In meinem Fall Schreiben von Analysen, Betrachtungen und Debatten: Kontributionen zu Kultur, Society, Politikzeug."

In Kehlmanns neuem Roman wird deutlich, wie substantiell die Kommunikationsmedien in unser Leben eingreifen. Diese Eingriffe werden immer wieder an einen Punkt getrieben, an dem die mediale Pluralisierung von Identität letztlich Identität auflöst, zumindest aber sehr stark gefährdet. Der von Lothar Müller in seiner Rezension des Buchs für die "Süddeutsche Zeitung" gemachte Vorwurf, es gebe keine Figuren, die Gewicht, Schärfe und Charakter besäßen, geht deshalb ins Leere. Denn dargestellt wird ja gerade die Schwierigkeit, in einer Welt ernsthaft noch Persönlichkeit und Authentizität reklamieren zu wollen, die vom ubiquitären medialen Flottieren bloßer Charaktermasken bestimmt ist. Dass Kehlmann, wie Ina Hartwig in der "Frankfurter Rundschau" einwandte, "einem altmodischen Menschenbild verhaftet" bleibe, ist ein nicht minder unsinniger Einwand. Nichts führt Kehlmanns Roman drastischer vor Augen, als dass im Zeitalter von Mobiltelefonen und Internet bürgerliche Identitätskonstrukte aus dem 19. Jahrhundert ausgehöhlt werden.

Aus dieser Einsicht zieht Kehlmann eine Konsequenz, die sich im formalen Aufbau seines Romans niederschlägt. Zwar kann man mit Ausnahme der letzten alle Geschichten, aus denen er besteht, isolieren und unabhängig voneinander lesen. Nimmt man die gewählte Gattungsbezeichnung aber ernst und achtet auf ihren Zusammenhang, wird man feststellen: Das, was aus dem Buch mehr als nur eine Sammlung von Kurzgeschichten macht, ist nicht als Summe von Handlungen verschiedener Charaktere beschreibbar. Die "eigentliche Realität", könnte man mit einer Formulierung Bertolt Brechts aus dem "Dreigroschenprozeß" sagen, ist in die Funktionale gerutscht. Diese besteht aus dem - im Wesentlichen durch Technik vermittelten - Verbindungsnetz zwischen den Figuren.

Da Kehlmann mit seinem Roman vor allem auf das ungreifbare "Dazwischen" zwischen den Akteuren aus ist, erscheint es nur folgerichtig, ihn episodisch, also auch mit Zwischenräumen zu erzählen. Dadurch kommt nicht nur viel zur Sprache, ohne überhaupt gesagt zu sein, sondern erst diese Konstruktion lässt sinnfällig werden, dass es mediale Vermittlungen sind, die das soziale Leben maßgeblich bestimmen. Denn wenn das Wesentliche der Wirklichkeit sich nur noch in der "Funktionale" abspielt, dann ist, um das zu zeigen, nicht die Herstellung einer Wirklichkeitsillusion, sondern tatsächlich Kunst nötig. "Aber", wie es bei Brecht heißt, "der alte Begriff der Kunst, vom Erlebnis her, fällt eben aus. Denn auch wer von der Realität nur das von ihr Erlebbare gibt, gibt sie selbst nicht wieder. Sie ist längst nicht mehr im Totalen erlebbar." Eben das ist das Thema von "Ruhm".

Kehlmann geht mit Brecht politisch nicht konform, wie er in seiner Eröffnungsrede zum Augsburger Brecht-Festival 2008 deutlich zum Ausdruck brachte. Es lassen sich bei ihm aber Motive ausmachen, die denen Brechts nahekommen. Sie münden bei ihm nicht in politische Wirkungsabsichten, sondern in eine Kritik an den Selbstermächtigungen und Anmaßungen wirklichkeitshungriger Schriftsteller, die sich als Repräsentanten der Menschheit aufspielen.

Das geschieht in "Ruhm" mehr noch als durch die boshaft-karikierende Zeichnung des erfundenen Autors Leo Richter, indem er jenen unhintergehbaren Rest "wirklicher" Wirklichkeit ins Spiel bringt, den Leo Richter vor lauter Eitelkeit gar nicht wahrnimmt und an dem alle wirklichkeitsüberformenden Abstraktionen wie Kreditblasen zerplatzen. Ins buchstäbliche Spiel dieses Romans kommt dieser Rest in allen Momenten, die vom Sterben handeln und von dem mal mehr, mal weniger großen Elend, das diesen Momenten vorausgeht. Leo Richters Lebensgefährtin Elisabeth, die als Ärztin in einem Kriegsgebiet mitten in Afrika arbeitet, erfährt sie so hautnah und in einer solchen Häufung, dass sie jede Regungen des Mitleids unterdrücken muss, um überhaupt helfen zu können: "Morgen würde sie die ersten Verletzten behandeln, und sie wusste, dass etwas in ihr ab diesem Moment nichts mehr empfinden würde. Alles würde dann weich und wattig sein und in ihrem Inneren nur dumpfe Taubheit, während sie tat, was zu tun war."

"Stunden der wahren Empfindung" à la Peter Handke stehen ihr bei ihrem medizinischen Einsatz also nicht bevor. Aber es ist nicht nur aus diesem Grund konsequent, dem Leser die ausführliche Schilderung des Leidens zu ersparen. Denn dass die Unmittelbarkeit von Kriegen Resultat von Vermittlungen ist, die Ursachen von Kriegen also in Abstraktionen gründen, hat sich längst so weit herumgesprochen, um auf eine ausufernde Darstellung und Erörterung dieses Sachverhalts verzichten zu können. In "Ruhm" genügt allein die Anwesenheit Leo Richters, um die absurde Gleichzeitigkeit von Unvereinbarem im Kriegsgebiet - von Zivilisation und ihrem Gegenteil - plastisch werden zu lassen. Denn Leo Richter dient das Elend lediglich als Kulisse seiner permanenten Selbstinszenierung, die er durch reichlich selbstgefälliges Schwadronieren begleitet: "'Hier abstürzen', sagte er. 'Das wäre was. Macht sich gut in der Biographie. Verschollen in Afrika.'" Leo Richter nutzt seine Reise so wie sein Leben auch sonst: Er sammelt Erlebnisse wie Großwildjäger Trophäen.

Kehlmann karikiert diesen egomanischen "Kulturträger" nicht nur, in dem er ihn als Kriegstouristen vorführt, er spielt auch ein metafiktionales Spiel mit ihm: Erst setzt er ihn als Autor der zweiten Geschichte von "Ruhm" ein, in dem die von Richter erfundene Rosalie sich verzweifelt dagegen wehrt, sterben zu müssen. Dann lässt er in der letzten Geschichte Maria Gaspard, eine andere von Richter erdachte und mit Zügen Elisabeths versehene Frau, "leibhaftig" auftreten, so dass Richter schwant, auch er sei womöglich nur das Produkt einer schriftstellerischen Fantasie.

Die Rückbindung an eine Wirklichkeit außerhalb der Fiktion ist damit unmöglich. Man reibt sich wie bei Bildern von M. C. Escher, die einem vorgaukeln, dass Wasser auch bergauf fließen kann, eine Weile die Augen, um dann gewahrzuwerden, welche Absicht sich hinter dieser künstlerischen Erhebung über das dem pragmatischen Verstand nach Mögliche in der "wirklichen" Wirklichkeit verbergen dürfte. Denn indem Kehlmann die Artifizialität seiner Konstruktion derart ausstellt, markiert er zugleich, dass er über Realität tatsächlich nur gebietet, solange sie von ihm erfunden ist.

Der krebskranken Rosalie könnte er im "richtigen" Leben so wenig das Leben schenken wie Leo Richter. Gleichwohl löst sich nicht alles in ein selbstreferenzielles Spiel auf, da die "wirkliche" Wirklichkeit tatsächlich von jenen Abstraktionen dominiert wird, die auch das unsichtbare Netzwerk zwischen Kehlmanns Geschichten zusammenhalten. Sein "Magischer Realismus" entführt den Leser daher nicht nur in eine fiktionale Welt, er verschiebt Realismus nicht nur ein wenig ins Surreale, sondern er macht auch anschaulich, was es heißt, in einer Welt zu Leben, die von "Realabstraktion" beherrscht wird.


Titelbild

Daniel Kehlmann: Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009.
202 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783498035433

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