Lebendige Stadt der Toten
Joanne Berrys Bildband über "Pompeji"
Von André Schwarz
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs ist ein seltsames und zugleich faszinierendes Gefühl, durch die Ruinen Pompejis zu spazieren. Trifft man am Amphitheater und am Forum noch hunderte Touristen, die versuchen, den winzigen Knöpfen ihrer Digitalkameras Herr zu werden, so ist es in den entlegeneren Gegenden der Stadt, die im Jahr 79 Opfer eines verheerenden Vulkanausbruchs wurde und unter meterdicken Schichten von Asche und Gestein begraben wurde, geradezu unheimlich still. Ungestört kann man sich in den Resten der ausgegrabenen Häuser, Läden und öffentlichen Bauten bewegen und entdeckt so manches Detail, das inmitten der Menschenmassen verborgen geblieben wäre. Da finden sich Graffiti, die von Anhängern verschiedener Gladiatoren an die Wände gemalt wurden, Werbetafeln von Geschäften, auf Stein gemalte Wahlwerbungen und Überreste von kunstvollen Mosaikböden. Hier findet man sie tatsächlich noch, diese "alte, schweigende Stadt der Toten", die Mark Twain in seinen "Reisen ums Mittelmeer" beschrieb.
Doch Pompeji bietet nicht nur romantisch überwucherte Ruinen und pittoreske Ansichten, sondern die Stadt ist auch und vor allem für die Forschung von unschätzbarem Wert. Eine Art Zeitkapsel in die Welt der Antike - wie oft behauptet wird - ist der Ort aber nur bedingt, die Verheerungen, die der Ausbruch, der Zahn der Zeit und nicht zuletzt Heerscharen von Plünderern, Abenteurern und Touristen angerichtet haben, sind immens. Kaum ein Haus wurde von den Räubern verschont und noch in jüngster Zeit gab es Versuche von Besuchern, Kunstgegenstände aus dem Areal herauszuschmuggeln. Ein weiteres Problem sind die oft unsystematisch und rücksichtslos erfolgten und nur unzureichend dokumentierten Ausgrabungen früherer Jahre - erst in den letzten Jahrzehnten wurden verbindliche Dokumentations- und Konservierungsrichtlinien festgelegt. Und dennoch birgt die Stadt am Mittelmeer noch so manches Geheimnis und so manche Erkenntnis über das Leben im antiken römischen Reich.
Einen ungeheuer informativen und zugleich - meist - gut gemachten Überblick über die wichtigsten Aspekte des Lebens in Pompeji und die aktuelle Forschung zum Thema bietet der von Joanne Berry, Dozentin für antike Geschichte und Archäologie an der Universität von Swansea, verfasste Bild- und Textband "Pompeji", jüngst im Verlag Zweitausendeins erschienen. Die Autorin befasst sich zunächst mit der Katastrophe selbst, zeigt in einem kurzen Überblick die geografischen Besonderheiten, die zum Untergang der Stadt führten, und beschreibt kurz die Folgen und den Erhaltungszustand der Fundstätte. Auf knapp dreißig Seiten fasst Berry dann die "Wiederentdeckung der verschütteten Vergangenheit" und die ersten Ausgrabungen zusammen - hier findet sich eine der wenigen Schwächen des Buches, die Geschichten wirken anekdotisch und bleiben, unterstützt von einigen wenig aussagekräftigen Illustrationen, zumeist an der Oberfläche. Etwas weniger Heldengeschichte und etwas mehr Hintergrund hätte hier sicher nicht geschadet.
Weitaus besser gelingt ihr der drei Viertel des Buches einnehmende Hauptteil, der anhand zahlreicher Fotos, Skizzen und Illustrationen dem Leser den Alltag und die Probleme einer Rekonstruktion einer antiken Stadt vor Augen führt. Das öffentliche Leben, das Familienleben, die Bereiche Religion und Wirtschaft werden angesprochen, in informativen Exkursen erläutert Berry dabei Details etwa zur Bautechnik, zum sozialen Gefüge oder zur politischen Situation, ohne dass dies trocken wirken würde. Dennoch schafft sie es, dem eher für ein interessiertes Laienpublikum gedachten Band einigen Tiefgang zu geben, ohne das Ganze hölzern zu gestalten und das Publikum zu langweilen. Die Texte hätten zwar hier und da etwas ausführlicher ausfallen können, sind zumeist aber ebenso interessant wie informativ. Ein paar Redundanzen schleichen sich bei Berry aber schon ein, doch sind diese anhand der Materialfülle und der damit verbundenen Vielzahl an Themen kaum zu vermeiden.
Einige der Aspekte, die Berry anspricht, findet man in vergleichbaren Werken sogar eher selten, wie etwa ihre Ausführungen zum Umland der Stadt und dessen landwirtschaftlicher Nutzung oder die über die bloße Beschreibung von Geschäftshäusern hinausgehende Darstellung des Handels mit und in Pompeji sowie ein Exkurs zum Hafen der Stadt belegen.
Man kommt schwerlich an diesem Buch vorbei, wenn man sich für die Geschichte und die Rekonstruktion der antiken Stadt am Vesuv interessiert. Ein intelligentes Nachschlagewerk ist es ebenso wie eine gelungene Einführung ins Thema, einen Einstieg in die Forschung bietet darüber hinaus die umfangreiche Bibliografie am Ende des Buches - über die kleinen Schwächen des Bandes kann man getrost hinwegsehen. "Sonntag waren wir in Pompeij", schrieb Johann Wolfgang Goethe in seiner "Italienischen Reise" 1787, "Ich weiß nicht leicht etwas Interessanteres". Diese Erkenntnis gilt auch noch 222 Jahre später.