Bildlyrik im Symbolismus

Zu Viviane Kafitz' Studie über "Gemälde- und Skulpturengedichte des russischen Symbolismus"

Von Evelyne von BeymeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Evelyne von Beyme

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im vergangenen Jahr ist eine erste Monografie über Gemälde- und Skulpturengedichte des russischen Symbolismus erschienen, die sich für eine Ausweitung der begrifflichen Definition des Terminus 'Bildlyrik' auf die Epoche des Symbolismus stark macht. Es handelt sich dabei um die erweiterte Fassung der von Viviane Kafitz Ende 2004 an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg eingereichten Dissertation. Ziel der Arbeit ist die Bekräftigung der These, "daß die Bildlyrik als eine für den russischen Symbolismus charakteristische Gattung angesehen werden kann, an deren inneren Funktionsweisen die Prinzipien symbolistischer Denkmuster zur idealtypischen Vollendung gelangen".

Der erste Teil der Arbeit widmet sich dem Gattungsbegriff der Bildlyrik und dem dazugehörigen Forschungsstand. Im zweiten Teil erfolgt die methodische Grundlegung, während der dritte Teil die fünf Einzelanalysen zu ausgewählten Bildgedichten russischer Symbolisten enthält. Im vierten Teil schließlich unternimmt die Literaturwissenschaftlerin den Versuch der theoretischen Einordnung der Gattung der Bildlyrik in den ideengeschichtlichen Zusammenhang der Jahrhundertwende. Als Anhang beigefügt findet sich ein tabellarischer Überblick über die Bildgedichte des russischen Symbolismus.

Zu den fünf poetischen Texten, die die Verfasserin analysiert, zählen Bildgedichte von Dmitrij Merežkovskij, Vjaceslav Ivanov, Valerij Brjusov und Aleksandr Blok. Kafitz wählt eine induktive Vorgehensweise, bei der Gemälde- und Skulpturgedichte der oben angeführten russischen Symbolisten aus dem Entstehungszeitraum zwischen 1891 und 1911 einer detaillierten Textanalyse unterzogen werden. Um die bestehende Relation zwischen Gemälde beziehungsweise Skulptur und dem jeweiligen poetischen Text zu erhellen und zum Zwecke der näheren Bestimmung des autonomen Werts des einzelnen Bildgedichts, hat die Literaturwissenschaftlerin die entsprechenden Reproduktionen derjenigen Kunstwerke, auf die innerhalb der zu untersuchenden Gemälde- und Skulpturgedichte des russischen Symbolismus rekurriert wird, ihrer Monografie beigefügt. Zum Ausgangspunkt ihrer Studie wählt Kafitz dabei das Bild.

Gerade das Kapitel zu dem russischen Symbolisten Ivanov und dessen Gedicht "Fejerverk" zeigt, dass sich Kafitz' Studie nicht allein auf den intermedialen Vergleich beschränkt, sondern zugleich Auskunft gibt über das mitunter recht enge Verhältnis der zeitgenössischen symbolistischen Künstler aus den Bereichen der Dichtung und Malerei (beispielsweise zwischen Ivanov und Somov oder Brjusov und Vrubel') und somit implizit zu einer Erhellung der auf nationaler Ebene wirkenden Netzwerke russischer Symbolisten beiträgt.

Von Interesse für die Symbolismusforschung erweisen sich auch die Ergebnisse der Einzelanalysen zu den Bildgedichten russischer Symbolisten. So gelangt Kafitz im Hinblick auf Brjusovs Bildgedicht "M.A. Vrubelju'", das sich dem Werk des symbolistischen Malers Vrubel' widmet, zu der Erkenntnis, "daß Brjusov sowohl den symbolischen Gehalt der behandelten Kunstwerke als auch deren formale Gestaltungsmedien in das Medium der Sprache transponiert". Insofern Brjusov aber einen Konnex zwischen der Bildfigur des Dämons und seines Erschaffers Vrubel' kreiert, verlässt er das Feld deskriptiver sprachlicher Reproduktion und gelangt mittels seines poetischen Textes über die malerische Vorlage hinaus. Die "Konzeption einer Kunsteinheit", die Kafitz als eine wesentliche Motivation der Bildgedicht-Autoren des russischen Symbolismus erachtet, erfahre bei Blok - der wie Brjusov ebenfalls die poetische Auseinandersetzung mit den Bildern Vrubel's sucht - eine Intensivierung mittels einer "das übliche Maß überschreitende[n] Beschäftigung des Dichters mit der darstellenden Kunst". Im Werk Aleksandr Bloks nehme die Gattung der Bildlyrik einen zentralen Stellenwert ein, was sich an den bestehenden Entsprechungen zwischen dieser und seiner Poetologie offenbare.

Auf den intermedialen Charakter der Bildgedichte im russischen Symbolismus kommt Kafitz im vierten Kapitel "Intermediale Orientierung und symbolistisches Konzept" zu sprechen. Das in der russisch-symbolistischen Kunstkonzeption vertretene Ideal des Gesamtkunstwerks finde sich auf individueller Ebene in dem interdisziplinären Wissensschatz, der Favorisierung des Poeta doctus, wider. Die sich um die Jahrhundertwende "bis in die Gestaltungs- und Einrichtungstendenzen des privaten Lebensraumes" durchsetzende Idee des Zusammenspiels verschiedener Kunstmedien finde sich auf poetischem Gebiet bei den russischen Symbolisten in dem bewussten Streben nach einer Synthese der Künste wieder. Im Hinblick auf die Interdisziplinarität macht Kafitz darauf aufmerksam, dass sich die russischen Symbolisten mit den Ideen des Impressionismus intensiv befassten und diese für ihre Poetiken und Dichtungen nutzbar machten. Zur Untermauerung ihrer These verweist die Literaturwissenschaftlerin auf den Stil der Titelseitengestaltung symbolistischer Publikationen.

Ein Nachweis mittels expliziter Äußerungen über das bildlyrische Schaffen der russischen Symbolisten sei nicht lieferbar. Allerdings - so räumt Kafitz ein - erlauben manche Äußerungen einen indirekten Rückschluss auf die bildlyrischen Arbeiten.

Mitunter etwas in den Hintergrund gerät bei Kafitz' detaillierter Studie über Gemälde- und Skultpurengedichte der zweite Gegenstand der Untersuchung: der russische Symbolismus. So wird beispielsweise nicht erörtert, was genau Kafitz unter Frühsymbolismus versteht und wie sie diesen zeitlich verortet. Wohl aber ist zu vermuten, dass sich die Literaturwissenschaftlerin hier - wie auch an anderen Stellen, beispielsweise im Falle der interdisziplinären Ausrichtung russischer Symbolisten - an Hansen-Löves mehrbändigen Publikationen und Aufsätzen über den russischen Symbolismus orientiert. Ein zusätzliches Kapitel, das den russischen Symbolismus knapp skizziert hätte, wäre geeignet gewesen, das Bild der literarischen Epoche zu erhellen und die eigene Ausgangsbasis für den Leser transparenter zu gestalten. Denn so einheitlich, wie Kafitz darlegt, ist der russische Symbolismus keineswegs in Erscheinung getreten, was bereits am Symbolistenstreit von 1910 evident wird, der zu einer Spaltung innerhalb der russischen symbolistischen Bewegung führte. Auf das heterogene Erscheinungsbild des russischen Symbolismus verwies erst kürzlich wieder Annette Werberger in ihrer 2005 publizierten Dissertation über "Postsymbolistisches Schreiben". Eine der zentralen Fragen, die sich aus Kafitz' Studie für die Symbolismus-Forschung ergibt und zu der eine - zumindest spekulative - Stellungnahme erforderlich gewesen wäre, ist, ob davon auszugehen ist, dass Gemälde- und Skulpturengedichte quantitativ ähnlich stark auch innerhalb anderer nationaler Symbolismen vertreten sind und die Bildlyrik dort gleichermaßen zu einer Gattung geriert.

Dieser Unterlass hängt möglicherweise damit zusammen, dass es der Literaturwissenschaftlerin in erster Linie um die Herausarbeitung der Gattung der Bildlyrik per se ging. Zu bestätigen scheint diese Vermutung die Schlussbetrachtung der Arbeit, die als eines der wesentlichen Untersuchungsergebnisse die Erweiterung der bisher geläufigen Bildgedicht-Definition anführt. Die Erweiterung sieht Kafitz insbesondere in der Herausarbeitung des Merkmals der "sprachliche[n] Rekreation bildlicher Darstellungsmittel" geleistet. Innerhalb der Schlussbetrachtung findet der Leser zudem eine Zusammenfassung der Ergebnisse der fünf Einzelanalysen.

Ein formaler Fehler bei der Erstellung des Buches scheint der Herstellungsabteilung unterlaufen zu sein. So gibt die rechte Kopfleiste innerhalb des dritten Kapitels zu "Ivanov: Sfinsky nad Nevoj (1911)" nicht dessen Titel wieder, sondern enthält bereits denjenigen des darauf folgenden vierten Kapitels zu Brjusov.

Ungeachtet dessen hat Kafitz eine Studie vorgelegt, die nicht allein im Hinblick auf die Gattung der Bildlyrik von entscheidendem Interesse ist, sondern auch der Symbolismus-Forschung neue Wege weist. Mit der Statuierung der These, die Bildlyrik entwickle sich zu einer bezeichnenden Gattung innerhalb des russischen Symbolismus, betritt die Verfasserin ohne Zweifel Neuland.


Titelbild

Viviane Kafitz: Sprachartistische Lyrik. Gemälde- und Skulpturengedichte des russischen Symbolismus.
Böhlau Verlag, Köln 2008.
224 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783412201302

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