"Was weiß diese Zeit von einer anderen"

Julia Schochs zweiter Roman "Mit der Geschwindigkeit des Sommers" erzählt von einer verlorenen Generation

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist eine eindringliche Szene, die Julia Schochs Erzählerin immer dann einfällt, wenn sie an ihre tote Schwester denkt. Sie sieht die Ältere vor sich, wie sie an einem dunklen, regnerischen Abend das Einfamilienhaus, welches sie mit ihrem Mann und zwei Söhnen bewohnt, verlässt. In beiden Händen schwere, schwarze Plastiksäcke tragend, läuft sie bis zur Straße vor dem Anwesen, stellt die Säcke dort ab und blickt dann stumm zum Wald, der sich hinter der kleinen Siedlung erhebt. Das dauert eine Weile, bis sie sich endlich von dem Anblick löst und mit tapfer erhobenem Kopf ihr Heim wieder betritt. An den Zaun gelehnt, bleiben die Säcke im Dunklen zurück, während der Regen gleichmäßig weiter fällt.

Ausgehend von diesem melancholischen Tableau, das das stille Unglück einer Frau, deren Leben festgefahren ist, schon auf der ersten Seite des neuen Romans der 1974 geborenen Autorin bildhaft ausmisst, erzählt "Mit der Geschwindigkeit des Sommers" im Folgenden die Geschichte eines Nicht-Ankommens. Liebevoll, leise und illusionslos führt das schmale Buch zurück zu jenem historischen Schnittpunkt in der jüngsten deutschen Geschichte, als fast wie aus dem Nichts die gewohnten Verhältnisse zu bröckeln begannen und sich für die Menschen im Osten neue Lebensmöglichkeiten auftaten. Doch während die Erzählerin selbst alle damit verbundenen Chancen nutzt, die Ketten ihrer Herkunft sprengt, bleibt ihre Schwester wie paralysiert zurück.

Eine kleine Garnisonsstadt im Nordosten Deutschlands steckt die Lebenskoordinaten für eine vierköpfige Familie ab, die sich nicht aussuchen kann, wo sie leben möchte. Weil der Vater Offizier der Nationalen Volksarmee der DDR ist, wird er in den hastig modernisierten Ort abkommandiert: "Die Kinder sind mit den Frauen gekommen, die Frauen sind ihren Männern gefolgt, die Männer einem Befehl." Nun lebt man in hässlichen Betonwohnblocks, zuerst niedergeschlagen ob der Weite und Leere ringsum, dann mehr und mehr sich gewöhnend an die Abgeschiedenheit, das Fehlen von Partys, Bällen und Festen, das Gefühl, in einer Ewigkeit angekommen zu sein, in der immer schon alles so war, wie es im Moment ist.

Und die Träume? Natürlich gibt es sie, doch sie führen nicht ins Freie. Da ersetzt das Stettiner Haff die in die Ferne lockende offene See - ein "falsches Meer" ohne Sturm und Gefahr, aus dessen flachem Wasser Selbstmörder vor Verzweiflung wieder an Land zurückkehren. Da arten Tanzveranstaltungen - woanders Treffpunkte der zu romantischen Liebesgeschichten entschlossenen Abenteurer beiderlei Geschlechts - in heruntergewirtschafteten Sälen mit ein paar nackten Tischen darin zu Prügelorgien aus. Gewaltexzesse werden zum Ventil für die erlebte Sinnlosigkeit.

Überhaupt die Soldaten - nirgendwo dazugehörig und gehasst von den Einheimischen, vertrödeln sie hier zu Tausenden ihre Lebenszeit. Einer von ihnen - für die Schwestern ist er nur "der Soldat", nie wird er bei seinem Namen genannt, auch nicht, wenn er nach der Wende wieder auftaucht - wird zum Geliebten der noch die Schule besuchenden älteren Schwester. Ein Buch, das ihm bei einer Schlägerei aus der Tasche fällt, weckt sowohl die Verachtung der dumpf-brutalen Kleinstadtjugend als auch das Interesse der jungen Frau. Fortan klammert man sich aneinander, als wäre jeder für den anderen eine Art Rettung, der einzige Grund zu überleben und nicht in den lächerlichen Ritualen, aus denen sich sowohl sein als auch ihr Alltag zusammensetzen, zu erstarren.

Doch der Pakt der beiden, geschlossen gegen eine feindselige Umwelt und von Beginn an ohne Perspektive, endet in dem Moment, da der Soldat in das Leben zurückkehrt, aus dem ihn die Wehrdienstzeit herausgerissen hat. Wenn er nach Jahren wiederkommt und das Verhältnis seine Fortsetzung findet, birgt es dennoch kein greifbares Glück in sich, sondern wird als pure Erinnerung gelebt. Sieht die Schwester den Geliebten in Zivilsachen, kommt sie sich vor wie in einem Bühnenstück - an anderer Stelle ist die Rede vom Leben "in alten Postkarten". Und wenn sie ihm das Hemd aufknöpft, dann ist es eine unsichtbare Uniformjacke, die sie öffnet: "Warum sollte sie mit irgendeinem Zivilisten schlafen?"

Schochs Roman, der intensiv spüren lässt, wie viel von ihrem eigenen Denken und Erleben die Autorin auf ihre Figuren übertragen hat, berichtet von einer Generation, die leicht in Vergessenheit gerät, wenn heute, 20 Jahre später, von Mauerfall und Wiedervereinigung die Rede ist. Weder ist die Schwester der Erzählerin jung genug, um sich bedenkenlos in all das Neue zu stürzen, das sich plötzlich vor ihr auftut, noch gibt ihr ihr fortgeschrittenes Alter die Gelassenheit, stumm zu akzeptieren, was sich nicht ändern lässt. Ihr demonstratives Hinnehmen der Dinge, ihr Sich-nicht-Wehren gegen ihre ereignislose Biografie, ihr Festhalten am Gewohnten, wo andere schon längst aufgebrochen sind zu neuen Ufern, sind letzten Endes nur Tarnung. Die aber ist so gut, dass kaum jemand hinter ihre Masken zu blicken vermag. Dass sich dahinter eine Tragödie vorbereitet, vermögen nicht einmal diejenigen zu erkennen, die ihr am nächsten stehen.

"Mit der Geschwindigkeit des Sommers" ist die behutsam erzählte Geschichte zweier Menschen, die sich den Möglichkeiten, die die Ereignisse der Jahre 1989/90 boten, auf unterschiedliche Art und Weise stellen. Während die eine voller Elan ins Unbekannte hinausdrängt, ihr neues Leben zwischen "Abfliegen oder Ankommen" stattfinden lässt, immer unterwegs und hungrig auf die Welt, gräbt sich die andere in der Stadt ihrer Kindheit ein, heiratet und lässt die Gleichförmigkeit ihrer Tage scheinbar duldsam an sich vorüberziehen. Erst ihre letzte Reise ins ferne New York und ihr dort inszenierter Selbstmord machen deutlich, dass das Bild falsch gewesen ist.


Titelbild

Julia Schoch: Mit der Geschwindigkeit des Sommers. Roman.
Piper Verlag, München 2009.
150 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783492052528

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