Denkspiel voller Konjunktive

Über Thorsten Beckers Roman "Das ewige Haus"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thorsten Becker ist ein waghalsiger literarischer Trapezkünstler. Mit Friedrich Schiller ("Die Bürgschaft", 1985), Heiner Müller ("Schönes Deutschland", 1996), der Familie Mann und diverser Romanfiguren von Heinrich und Thomas Mann ("Der Untertan steigt auf den Zauberberg", 2001) sowie Preußenkönig Friedrich ("Fritz", 2006) hat er bereits kühne erzählerische Drahtseilakte vorgeführt. Jetzt hat der 50-jährige Autor einmal ganz weit ausgeholt und ein historisches Panorama vorgelegt, das auf mehreren Zeitebenen angesiedelt ist. Von der Reformation bis zur NS-Diktatur reicht der gespannte Bogen - von Martin Luther bis zu einem theologischen Schriftsteller, der 1942 in den Selbstmord flüchtet.

So stehen auch abwechselnd verschiedene Erzählfiguren im Zentrum der Handlungsstränge. Der desertierte Luftwaffen-Pilot und Schauspieler Wolfgang von Wolzogen ist einer der Protagonisten und fungiert als eine Art Nachlassverwalter seines Freundes Gisbert Gutsche. Der Erfolgsschriftsteller Gutsche hat einen opulenten Luther-Roman mit dem Titel "Das ewige Haus" verfasst. Gemeinsam mit seiner jüdischen Frau und seinem Kind hat er aus Angst vor der Deportation durch die Nazis den Freitod gewählt.

Wolzogen, der mit dem "Bund Deutscher Offiziere" aus Alma-Ata zum Kampf gegen Nazi-Deutschland aufruft, bekommt die Aufgabe, "Gisbert Gutsche durch die Herausgabe und Redaktion seines nachgelassenen Romans zum Märtyrer zu verklären."

Autor Thorsten Becker konstruiert in diesem Roman auch einige kühne historische Analogien, mit denen man sich nicht so recht anfreunden kann. Der Kampf der Roten Armee gegen Nazi-Deutschland läuft seltsam parallel zu den Bauernkriegen des 16. Jahrhunderts ab, und Luthers autoritärer Alleinvertretungsanspruch in Sachen Evangelium wird nahe an die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts herangerückt. "Denkbar ist, dass Gisbert im Religionsstreit mit seiner Frau auf Argumentationsmuster aus Luthers antijüdischen Pamphleten zurückgriff, woraus ihr klar geworden sein muss, dass die nationalsozialistische Ideologie sich nicht ohne Anknüpfungspunkte auf den Wittenberger als einen Ur- und Kronzeugen für den massenmörderischen Rassenwahn beruft."

Der begnadete literarische Schelm Becker kann sich hinter seiner Buch-im-Buch-Konstruktion verschanzen und den verstorbenen Gutsche und dessen Nachlassverwalter von Wolzogen für das desillusionierende Luther-Bild verantwortlich machen. Becker schreckt auch vor großen symbolischen Gesten nicht zurück. Wolzogen begann seine redaktionelle Arbeit am Gutsche-Nachlass ("mich in seine Person und Persönlichkeit hinein zu gaukeln und zu schaukeln.") nämlich am Reformationstag des Jahres 1943.

Wie stark am Ende der Fliegerleutnant Einsiedel und der protestantische Schriftsteller Jochen Klepper als leibhaftige Vorbilder tatsächlich in die Romanfiguren Wolzogen und Gutsche eingeflossen sind, spielt ebenso nur eine marginale Rolle wie die Auftritte der realen Schriftsteller Erich Weinert und Johannes R. Becher. Für Becker stehen nicht die nüchternen historischen Fakten, sondern der literarische Spaßfaktor im Mittelpunkt. "Das ewige Haus" ist ein gigantischer Fantasie-Koloss, ein provozierendes Denkspiel voller Konjunktive - und ein widerspenstiges Monstrum, das bezwungen und nicht gelesen werden will und (bei aller Vorsicht vor großen Vergleichen) an Thomas Manns "Doktor Faustus" erinnert.


Titelbild

Thorsten Becker: Das ewige Haus. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008.
510 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783498006563

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