Das Gesicht hinter der Maske

Bettina de Cosnac beschreibt das Leben der Fotografin Gisèle Freund

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den meisten ist sie wahrscheinlich durch ihre "Portraits von Schriftstellern und Künstlern" bekannt: Ob James Joyce oder Virginia Wolf, Jean Cocteau oder André Breton, Paul Valéry oder Walter Benjamin - Gisèle Freunds Farbaufnahmen ihrer Zeitgenossen bestechen durch ihre Einfühlsamkeit und Offenheit. Ihnen gelingt es, die Zurückhaltung und Unnahbarkeit der Intellektuellen zu durchbrechen, wobei die Weigerung der Porträtistin, ihre Bilder zu retuschieren, keine unbedeutende Rolle spielt: "Es liegt an uns, sie [die Modelle] zu überzeugen, dass sie so schön aussehen und das wir sie auf diese Art so lieben". Mit ihrer "Wahrheitsliebe" verbindet Freund aber auch die Absicht, eine vielleicht bisher unbekannte Seite der Porträtierten offen zu legen: "Wir tragen eine Maske, um unsere Ängste und Zweifel zu verbergen. Der Fotograf hat die Aufgabe, uns zu enthüllen, was wir geheim halten wollen".

Die gleiche Aufgabe, nämlich das Innere nach außen zu kehren und das Verborgene sichtbar zu machen, hat sich Bettina de Cosnac angesichts des eher unbekannten, dabei aber äußerst facettenreichen Lebensweges der oft schwierigen Fotografin gestellt und vor kurzem eine Biografie mit dem schlichten Titel "Gisèle Freund. Ein Leben" vorgelegt: "Die berühmte Fotografin war kein einfacher Mensch, sondern eine Frau von Charakter. Gisèle Freunds Leben galt der Leica - und der Literatur. Aber ihre Interessen waren im Grunde weitaus vielschichtiger. Das Gesicht hinter der Maske, die sie, wie alle Menschen, trug, zeigte eine vom Exil geprägte mutige Frau, eine Pionierin, eine Abenteurerin, eine Wissenschaftlerin, eine kritische Zeitzeugin und eine begeisterte Geschichtenerzählerin - besonders wenn es um ihre Vita ging".

Fast genau zwanzig Jahre währt die Beziehung der 1960 in Berlin geborenen und mittlerweile in Paris lebenden Journalistin und Universitätsdozentin zu Leben und Werk der 2000 verstorbenen Künstlerin, die es, wie de Cosnac betont, stets abgelehnt hat, als solche bezeichnet zu werden. Anlässlich einer großen Ausstellung ihrer Fotos im Berliner Martin-Gropius-Bau 1988 interviewt die junge Frau die mittlerweile weltberühmte und vielfach ausgezeichnete Fotografin und entschließt sich, ein Porträt zu schreiben. Doch je weiter de Cosnac in deren Lebensgeschichte vordringt, desto mehr werden ihre Recherchen zu einer "Lebensreportage", die die politischen und gesellschaftlichen Höhen und Tiefen des 20. Jahrhunderts reflektiert.

"Ein deutsche Kindheit und Jugend 1908-1933" lautet der Titel des ersten Kapitels und erinnert nicht zufällig an die Erinnerungen Walter Benjamins, eines Mannes, dem Freund in ihrem Leben mehrmals begegnen wird. Ähnlich wie er, so wächst auch die 1908 geborene Sophia Gisela in einer wohlhabenden jüdischen Familie in Berlin auf. Der Vater Julius Freund, ein Handelsdirektor, Textilkaufmann und Sammler bedeutender Kunstwerke wie der "Kreidefelsen von Rügen" von Caspar David Friedrich, ist der Tochter mit seinem Charakter und auch seinen Interessen näher als seine Ehefrau Clara, die unglücklich mit ihrer Situation, stets auf Distanz zu Gisela steht, worunter diese leidet: "Zeitlebens quälte sie das Gefühl, dass ihre Mutter sie ,nicht lieb hatte'. Richtig verarbeitet hat sie es nie".

Mit 16 Jahren wird Gisela zur Rebellin: Da ihr die Eltern im Gegensatz zum drei Jahre älteren Bruder Hans das Abitur verweigern, verlässt sie ihre großbürgerliche Umgebung und legt die Reifeprüfung auf einer Schule für Arbeiterkinder ab. Kurz danach, 1928, schreibt sie sich an der Universität Freiburg für Soziologie, Kunstgeschichte und Volkswirtschaft ein, um dann 1930 nach Frankfurt am Main zu wechseln. Ihr großer Wunsch ist es, bei Karl Mannheimer zu studieren, der am 1923 gegründeten "Institut für Sozialforschung" lehrt. Sie hört in der Folge Vorlesungen bei Friedrich Pollock, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Dabei lernt sie auch Mannheims wissenschaftlichen Mitarbeiter Norbert Elias kennen, der die junge Frau auf die Fotografietheorie aufmerksam macht.

Ihre erste eigene Kamera, eine Voigtländer, bekommt Gisela mit 13 oder 15 Jahren von ihrem Vater geschenkt. Er ist es im Wesentlichen, der ihr Interesse darauf lenkt. So zeigt er ihr Fotografien von Karl Blossfeldt und schenkt der Maturandin eine Leica, damals eine technologische Neuentwicklung, die es erlaubt, durch den neuartigen Rollfilm 36 Aufnahmen hintereinander zu machen. Ist das Fotografieren anfangs lediglich ein Hobby, gewinnt es neben dem Schreiben zunehmend an Bedeutung für die Studentin. So nutzt sie ihren Fotoapparat auch für ihr Engagement in linken Gruppierungen, um damit beispielsweise Demonstrationen gegen die Nazis festzuhalten. Es entstehen erste Bilderreportagen, die sie an Zeitschriften verkaufen kann.

Nicht nur politisch, auch wissenschaftlich widmet sie sich dem Medium. Bereits während ihres Studiums beginnt sie für die erste fototheoretische Abhandlung in der Geschichte der Fotografie zu recherchieren. Eine Frage, die sie in diesem Zusammenhang interessiert, lautet: "Wie nehmen wir uns selbst wahr, und welchen Einfluß hat der Photograph auf das Bild, das jeder Mensch von sich hat?"

Doch die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland macht es der jüdischen Studentin unmöglich, ihren Abschluss in Frankfurt zu machen. Ende Mai 1933 emigriert sie nach Paris, um dort ihre Recherchearbeiten fortzusetzen. Erstmals muss sie ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten. Dabei kommt ihr ein Bekannter zu Hilfe: Walter Benjamin lädt sie in den Burgund ein, wo er im Rahmen der "Décades de Pontigny" ein Referat halten soll. Die Gastgeber geben ihr die Erlaubnis, die anderen prominenten Gäste zu fotografieren. So kann sie die Bilder vermarkten und sich allmählich auch in Paris einen Namen machen.

De Cosnac beschreibt beschwerliche Jahre im Leben der jungen Frau - Jahre, in denen Glück und Leid eng beieinander liegen. Denn während Freund nur deshalb in Frankreich bleiben kann, weil sie wie viele andere deutsche Exilierte eine mariage blanc eingeht, schreibt sie an ihrer Dissertation, die im Frühjahr 1936 abgeschlossen werden kann und zu ihrer großen Freude von Benjamin und Louis Aragon lobend besprochen wird. Ein Wendepunkt setzt ein, als Gisèle, wie sie sich nun nennt, eine Frau kennenlernt, die ihre nächsten Jahre entscheidend prägen wird: Adrienne Monnier, die Besitzerin von "La Maison des Amis de Livres". Über diese "Kulturmanagerin" wird die junge Frau mit einer Reihe von Schriftstellern und Künstlern ihrer Zeit wie André Malraux oder Jean-Paul Sartre, George Bernhard Shaw oder T.S. Eliot bekannt, die sie in der Folge porträtieren darf.

Doch ähnlich wie im Jahre 1933, als sie gerade dabei ist, erste Erfolge mit ihrer fotografischen Arbeit zu erzielen, kommt ihr auch sechs Jahre später wieder die Politik dazwischen: Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schränkt ihre Tätigkeit in Paris mehr und mehr ein. Wieder muss sie emigrieren, wieder eine neue Sprache lernen und sich eine neue Existenz aufbauen. Ihre "Lebensreise" führt sie anfangs nach Argentinien, dann aber auch in zahlreiche andere Staaten Lateinamerikas.

Nach dem Krieg geht ihr abenteuerreiches Leben weiter. So reist sie immer wieder in die USA, die in ihrem späteren Leben zu einer neuen Heimat für sie werden. Frankreich, in das sie zurückkehrt, wird diese Rolle trotz aller eigener Bemühungen und offizieller Ehrungen nicht spielen können - genauso wie Deutschland, das ihr ab den 1970er-Jahren die ersten großen Einzelausstellungen widmet, was den Auftakt zu ihrer endgültigen Etablierung und Kanonisierung in den Jahrzehnten bis zum ihrem Tod im Jahre 2000 auch in anderen westlichen Ländern bildet.

Die Autorin hat die Begabung, die Biografie Freunds auf spannende Weise und in einem flüssigen Stil zu erzählen. Immer wieder zitiert sie aus bisher unveröffentlichten Briefen, die sie in öffentlichen und privaten Archiven entdeckt hat, so beispielsweise an den Bruder Hans Freund oder an Benjamin. Indem sie sie auch selbst öfter zu Wort kommen lässt, gelingt es der Biografin, den Eindruck des Lesers von Freund als einer äußerst selbstbewussten und impulsiven Frau zu verstärken. Gleichzeitig werden aber auch die Spuren sichtbar, die das harte und oft entbehrungsreiche Dasein als mehrfache Außenseiterin, nämlich als deutsch-jüdische Emigrantin, als eine der ersten Fotojournalistinnen ihrer Zeit und schließlich auch als Bisexuelle bei ihr hinterlassen haben. Zu Letzterem wäre allerdings zu sagen, dass de Cosnac das Liebesleben der Fotografin größtenteils nur andeutet - gerade wenn es um Beziehungen zu Frauen geht.

Mit ihrer Lebensdarstellung, der ein Anhang mit Anmerkungen und einem Quellenverzeichnis beigegeben ist, erreicht die Autorin dennoch das gesteckte Ziel, nämlich die "Frau hinter der Kamera" hervorzulocken und diese, die sich selbst ungern fotografieren ließ, einzufangen. Ergänzt wird ihre wirklichkeitsnahe "Aufnahme" dabei von 28, bisher unpublizierten Bildern aus dem langen Leben der in Paris verstorbenen Künstlerin. Sie vervollkommnen die Biografie, die schließlich tatsächlich einem "Tanz in vier Sprachen" beziehungsweise einer "faszinierenden Reise durch das 20. Jahrhundert und drei Kontinente gleicht", wie de Cosnac im Prolog selbst schreibt.


Titelbild

Bettina de Cosnac: Gisèle Freund. Ein Leben.
Arche Verlag, Zürich 2008.
296 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783716023822

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