Sex total - und ganz schön queer: In den von Rüdiger Campe herausgegebenen "exemplarischen" Studien zu Heinrich von Kleists "Penthesilea" geht es ans Eingemachte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man könnte meinen, zu so ollen Kamellen wie Heinrich von Kleists "Penthesilea" (1808) sei alles gesagt. Literaturwissenschaftler haben es allerdings so an sich, nie Ruhe zu geben. Und wenn man den von Rüdiger Campe herausgegebenen Band "Penthesileas Versprechen. Exemplarische Studien über die literarische Referenz" aufschlägt, stellt man einmal mehr fest, dass das auch ganz gut so ist.

Kaum ein deutschsprachiges Drama hat die sexuelle Raserei dermaßen mit Gewaltexzessen assoziiert und auf die Spitze getrieben wie Kleists Stück. Schon zu seiner Zeit wurde der monströse Text nicht nur von Johann Wolfgang von Goethe mit einiger Ratlosigkeit zur Kenntnis genommen. Und auch heute noch erscheint es dem Leser eventuell nicht ganz okay, wenn Penthesilea ihren geliebten Achill am Ende 'aus Versehen' mit Pfeil und Bogen abschlachtet und zusammen mit ihrer Hunde-Meute aufisst: "Sie schlägt, die Rüstung ihm vom Leibe reißend, / Den Zahn schlägt sie in seine weiße Brust, / Sie und die Hunde, die wetteifernden". Was ist hier passiert? Einfach nur dumm gelaufen? Wer ist hier schief gewickelt? Und was soll uns das Ganze 'eigentlich' sagen?

Ähnliche Fragen stellt sich im vorliegenden Band zum Beispiel auch Kleist-Deuter-Altmeister Gerhard Neumann (seit 2005 Honorarprofessor an der FU Berlin): Das ganze Drama besitze überhaupt keine "zielgerichtete Handlung" und sei nicht zuletzt theatertechnisch bis heute schlicht "skandalös". Die "Geschlechterbegegnung" sei wohl das "fundamentale Rätsel des Stücks", gehe sie doch auf allen Ebenen schief und erschöpfe sich in der "nicht arretierbare[n] Friktion zwischen Sexualität und Aggression", sprich: "Was ist eigentlich das Ordnungsmuster und welches ist die Legitimationsinstanz dieses enigmatischen Geschehens in der Penthesilea?".

Tja. Verblüffend einleuchtend ist hier zum Beispiel die These von Katrin Pahl. Die meisten Leser würden merkwürdigerweise von derselben Amnesie befallen wie Penthesilea, nachdem sie im Stück mit ausgefahrener Lanze in Achill hineingerasselt ist und eine Art Gehirnerschütterung erlitten hat, meint die Germanistin von der John Hopkins University in Baltimore. Würden sie doch schlicht vergessen, dass die Amazone, genauso wie übrigens auch Achill, ganz klar homosexuell sei und nun einmal zu allererst ihre Volksgenossinnen liebe, nicht aber Männer. Und tatsächlich: Es steht ja alles drin im Text!

Zu den Kollegen, die das bislang nicht blickten, gehört Pahls Meinung nach der Literaturprofessor Christian Moser (Amsterdam). Der wiederum lässt sich im selben Band auch nicht lumpen und liest das Stück noch einmal ganz neu vor dem Hintergund von Claude Lévi-Strauss' Amazonas-Expeditionsbericht "Traurige Tropen" (1955), worin es unter anderem auch um die Frage geht, was Kannibalen 'eigentlich' wollen.

Kurz: Dies hier ist nicht irgendein Buch voller germanistischer Raunereien über längst Bekanntes, sondern es geht, nunja, einmal mehr an's Eingemachte: Kannibalische Körper, Frauen, "die sich haben" und vieles dergleichen mehr. Da sage noch einer, ewige Relektüren seien 'sinnlos'!

J.S.


Titelbild

Rüdiger Campe (Hg.): Penthesileas Versprechen. Exemplarische Studien über die literarische Referenz.
Rombach Verlag, Freiburg 2009.
378 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783793095361

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