In 14 Schritten auf den Abgrund zu

Philipp Blom erzählt mit seinem Buch "Der taumelnde Kontinent" die Zeit im Europa von 1900 bis 1914 neu

Von Nadine IhleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nadine Ihle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kann man die vierzehn Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ohne Krieg denken? Kann man die Jahre von 1900 an betrachten, ohne dabei die Urkatastrophe im Kopf zu haben, aus der das 20. Jahrhundert geboren wurde? Man kann und sollte, wie Philipp Blom in seinem neuesten Buch "Der taumelnde Kontinent. Europa 1900 - 1914" beweist.

Bloms Abhandlung setzt im Jahr 1900 mit der Weltausstellung in Paris an. Die zeitliche Begrenzung mag im ersten Moment thematisch zu eng erscheinen, aber schon im ersten Kapitel zeigt sich, dass Blom souverän durchdacht das selbstgesteckte Zeitfenster nach beiden Seiten hin verlässt, wenn es das Thema erfordert. Eine zwingende zeitliche Beschränkung hätte bei aller Logik des Konzeptes zu einer verkürzten und oberflächlichen Darstellung geführt. Oberflächlich ist Bloms Schreibe wahrlich nicht - und so sind die einzelnen Kapitel mit erstaunlich umfassendem, aus der gesamten europäischen Geschichte angesammeltem Wissen geschrieben.

Denn dies ist eine Stärke des noch recht jungen Autors, die er bereits in seinen Vorgängerwerken bewiesen hat: er hat den Blick eines europäischen Historikers. Blom wurde 1970 in Hamburg geboren, er hat in Wien und Oxford studiert, lebte in Paris und London und wirkt nun wieder in Wien. Diese kosmopolitische Prägung merkt man seiner Art, Geschichte zu erzählen, erfreulich deutlich an. So erschien "Der taumelnde Kontinent" zuerst 2008 auf Englisch unter dem Titel "The Vertigo Years" - einem sehr gut gewählten Bild zum Thema, das sich leider so nicht ins Deutsche übertragen lässt, da hier Taumel und Schwindelgefühl nicht synonym sind.

Zurück also auf den taumelnden Kontinent: Das Buch behandelt in je einem Kapitel ein Jahr des ausgewählten Zeitabschnitts in Hinblick auf einen thematischen Schwerpunkt. Es beginnt bei der Weltausstellung, geht über den Tod Queen Victorias, die Ernennung Sigmund Freuds zum Privatdozenten, die Verleihung des Nobelpreises an Marie und Pierre Curie, den Massenmord in Belgisch-Kongo, den "Blutsonntag" in St. Petersburg, das Wettrüsten mittels neuer Panzerschiffe, die erste Friedenskonferenz in Den Haag, die Suffragetten-Demonstrationen, die ersten Flugpioniere, die neuen Gesellschaftsformen und Menschenbilder, die ersten Konsum- und Filmtempel bis hin zur Eugenik und dem Amoklauf des größenwahnsinnigen Ernst August Wagner 1913.

Das letzte Kapitel zum Jahr 1914 schließlich ist überschrieben mit dem Titel "Ein politischer Mord". Feinsinnigerweise spielt dies natürlich mit den Erwartungen des Lesers, über das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand informiert zu werden - eine Erwartung, die Blom im Sinne seiner Forderung, diese Jahre nicht alleine unter dem Primat des Ersten Weltkriegs zu betrachten, postwendend enttäuscht. Stattdessen stellt er zwei völlig andere Mordfälle vor, die in den späten Julitagen 1914 die französischen Medien wegen ihrer politischen Brisanz ausführlich beschäftigten.

Mit diesem geschickten Schachzug nutzt Blom dann das letzte Kapitel weiterhin als Zusammenfassung der vorangegangenen Themen und als Bestärkung seiner These, dass die Jahre von 1900 bis 1914 eine vorurteilsfreiere Darstellung verdienen, als alleine als Weg in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs zu gelten. Ein Argument, welches er am Beginn und Ende anführt, ist der Gedanke, dass doch auch niemand die Jahre von 1990 bis 2001 alleine unter dem Vorzeichen der Attentate vom 11. September erklären und betrachten würde. Das mag für unsere heutige Zeit ja durchaus stimmen - allerdings sind wir Zeitgenossen dieser Anschläge. Wer mag schon vorauszusagen, was die Historiker im Jahre 2101 über unsere Zeit denken werden, ob sie nicht eben genau so vorgehen werden - den Beginn des 21. Jahrhunderts vorrangig unter dem Eindruck der Jahre nach 2001 zu betrachten?

Im "taumelnden Kontinent" beweist sich einmal mehr, was schon die Stärke von Bloms vorhergehenden Werken war: ein auch im Deutschen eloquenter, erzählender Stil, gepaart mit universellem fachlichen Wissen. Es ist die Fähigkeit, Geschichte in exakter Weise spannend und literarisch anspruchsvoll zu erzählen - ohne dass dabei die Popularisierung auf Kosten des gehobenen Niveaus geht. Allein die beeindruckende Fülle an Themen und Motiven führt zu einer notwendigen Verdichtung. Die Kapitel eignen sich hervorragend als erste Einstiegslektüre. Eine fachliche Vertiefung und weitere Sondierung kann in einem solchen Kompendium nicht möglich sein und war wohl auch nicht angestrebt. Allein manches Mal ahnt man, dass Blom bestimmte Themen mehr und andere etwas weniger gut liegen.

Dem Laien mögen die Abkürzungen, die er an mancher Stelle nimmt, nicht weiter auffallen. Allerdings darf bezweifelt werden, ob das erstarkende Selbstbewusstsein der Frauen am Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem Rückgang der Geburtenrate geführt hat - oder ob es nicht vielmehr genau andersherum war: der Rückgang der Sterbeziffern von Säuglingen und Kindern, bedingt durch die sich im alltäglichen Leben stärker manifestierenden Verbesserungen der Daseinsfürsorge, führte zu größerem weiblichem Freiraum und Selbstbewusstsein im privaten wie im beruflichen Leben. An solchen Stellen wagt Blom manchmal einen etwas schnellen Zugriff auf komplexe Probleme. Ärgerlich ist zudem, dass in dem ansonsten sehr ansprechend gestalteten Buch etwas zu häufig Flüchtigkeits- und Tippfehler auftauchen. Da wäre ein sorgfältigerer Blick sowohl dem eleganten Layout als auch dem gekonnt erzählenden Autoren angemessen gewesen.

Insgesamt schmälern diese Einwände aber den Eindruck des Buches keineswegs. Es handelt sich um einen zur allgemeinen Nachahmung empfohlenen Erzählstil, der sich zumeist eher im anglo-amerikanischen Wissenschaftsraum finden lässt und in der deutschsprachigen Geschichtsschreibung leider nur allzu selten vorkommt. Es ist ein informatives und kurzweiliges Vergnügen, sich von Blom über den "taumelnden Kontinent" führen zu lassen. Sicherlich ein Buch, dass man wegen seiner beindruckenden Informationsdichte nicht nur einmal zur Hand nimmt.


Titelbild

Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914.
Carl Hanser Verlag, München 2009.
528 Seiten, 25,90 EUR.
ISBN-13: 9783446232921

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