„Religiös unmusikalisch“

Anmerkungen zum Verhältnis von Jürgen Habermas zu Max Weber

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Zweimal bereits hat Jürgen Habermas die markante Selbstbeschreibung „religiös unmusikalisch“ in der Öffentlichkeit eingesetzt: zuerst in seiner Dankrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 2001, dann nochmals in der Diskussion zwischen ihm und dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger in der Katholischen Akademie in München im Jahr 2004. Dass er dabei, ohne es besonders zu erwähnen, eine semantische Anleihe bei Max Weber machte, war ihm ebenso bewusst wie seinem gebildeten Publikum.

Ich möchte diese überaus diskrete Reverenz des Sozialphilosophen aus Starnberg an den Sozialwissenschaftler aus Heidelberg zum Anknüpfungspunkt nehmen, einige Anmerkungen zu machen, zum einen zur eigenartig gestrickten Konstruktion dieser Art des Sprechens über Religion und zum anderen über das Verhältnis des Theorieproduzenten Jürgen Habermas zum Werk Max Webers.

Mit der Formel von der „religiösen Unmusikalität“ als Selbstprädikation will der Sprecher sagen, dass er über Religion in distanzierter, selbstbeobachtender Weise spricht. Er redet nicht aus der Perspektive eigener religiöser Erfahrung, also eines Gläubigen, sondern aus der Reflexion der Praxis anderer, von denen er sich durch sein Sprechen absetzt. Es gibt, so sagt er, Menschen, die das praktizieren, sogar gekonnt und zuweilen virtuos praktizieren, was ich nicht praktizieren kann. Dennoch sage ich nicht, dass ich das, was jene anderen praktizieren, für unsinnig, ja blödsinnig halte, sondern eher für sachlich erforderlich, ja vielleicht sogar für notwendig. So wie uns Musik umgibt und jeden angeht, so umgibt uns auch Religion, auch die Nichtpraktizierenden. Und beides, Musik wie Religion, ist wichtig, vielleicht sogar schön.

Über Religion, so die Botschaft, kann und muss man reden, auch außerhalb der Frage nach ihrer Wahrheit, vor allem dadurch, dass man in wissenschaftlicher Manier ihre gesellschaftlichen Funktionen und Auswirkungen thematisiert. Solches distanzierend-beobachtende Sprechen über Religion wird, als Fortsetzung der früheren Ideologie- und Religionskritik, zuweilen auch eingesetzt beim Versuch einer produktiven Überwindung der Funktionen von Religion, die zumeist als problematisch eingeschätzt werden.

Wer sich selbst als „religiös unmusikalisch“ bezeichnet, sagt eben nicht, er sei „unreligiös“, sondern signalisiert vielmehr: Seht her, eigentlich bin ich ja überzeugt davon, dass Religion notwendig ist, ja wunderbar sein kann. Aber, ich selbst kann nicht religiös sein, ich bin dazu nicht begabt. Religiosität wird analog zu Musikalität gesetzt, als etwas beschrieben, wofür man sich nicht entscheiden kann („ich will musikalisch sein!“), als eine Begabung, die manche „haben“, andere nicht.

Dieses Reden über Religion entspricht einer alten theologischen Einsicht, derzufolge der Glaube dort entsteht, „wo und wann es Gott gefällt“. Wer das durchschaut hat, verabschiedet sich von der naiven Lesart, dass es sich bei solcher Selbstbeschreibung um eine unbeschwerte Aussage handelt. Wenn jemand von sich sagt, dass er eben unsportlich, mathematisch ungebildet, unmusikalisch sei, kann die Leichtigkeit des Tons über das Leiden hinwegtäuschen, dass mit solcher Selbstdiagnose unter Umständen verbunden ist.

Bei Max Weber bezeichnete diese Formel jedenfalls ein tiefes Leiden, das am deutlichsten in seinem Brief an den älteren und zu jener Zeit weitaus berühmteren Kollegen Ferdinand Tönnies vom 19. Februar 1909 dokumentiert ist. Dort nimmt Weber zum einen diese sprachliche Metapher erneut auf, zum anderen offenbart er jedoch zugleich seine von ihm darüber empfundene „Krüppelhaftigkeit“ in religiöser Hinsicht: „Denn ich bin zwar religiös absolut ‚unmusikalisch’ und habe weder Bedürfnis noch Fähigkeit irgendwelche seelischen ‚Bauwerke’ religiösen Charakters in mir zur errichten – das geht einfach nicht, resp. ich lehne es ab. Aber ich bin [,] nach genauer Prüfung, weder antireligiös noch irreligiös. Ich empfinde mich auch in dieser Hinsicht als einen Krüppel, als einen verstümmelten Menschen, dessen inneres Schicksal es ist, sich dies ehrlich eingestehen zu müssen, sich damit – um nicht in romantischen Schwindel zu verfallen – abzufinden, aber […] auch nicht als einen Baumstumpf, der hie und da noch auszuschlagen vermag, mich als einen vollen Baum aufzuspielen. Aus dieser Attitüde folgt viel […].“

Der deutsche Gelehrte Max Weber (1864-1920) wuchs in einer Familie auf, in der die Auseinandersetzung mit der christlichen Religion auf vielen Ebenen stattfand. Sein Vater, der erfolgreiche Berufspolitiker Max Weber Senior (1836-1897), kann als typischer Repräsentant eines staatskirchlich gefassten Protestantismus betrachtet werden, in zunehmender Nähe zum zeitgenössisch verbreiteten liberalen Freidenkertum stehend. Für den überzeugten preußischen Magistratsbeamten Max Weber Senior bewegte sich alle Religiosität immer bedenklich nah an Heuchelei. Max Webers Mutter, Helene Weber, geb. Fallenstein (1844-1919), entstammte dem liberalen Milieu hugenottischer Protestanten. Für sie war das tägliche Ringen um eine christliche Deutung der Geschehnisse um sie herum sowohl Pflicht als auch Zuflucht.

Der erstgeborene Sohn wuchs auf in der gelebten Spannung zwischen diesen beiden Polen: Konfirmation mit 14 Jahren (Spruch: „Der Herr aber ist der Geist, und wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit.“ 2. Corinther, 3. Kap. Vers 17), kirchliche Trauung, lebenslange Mitgliedschaft in der unierten Landeskirche Badens. Das Verhältnis Max Webers zu „seiner“ Kirche blieb zeit seines Lebens ein überaus gespanntes. Es ist hier nicht der Platz, um über Max Webers Verhältnis zum Katholizismus zu berichten, es sei jedoch auf die leidenschaftliche Korrespondenz mit der Mitbegründerin des „Katholischen Frauenbundes Deutschland“ (KFD), Elisabeth Gnauck-Kühne, aus dem Jahr 1909 hingewiesen. In dieser bezeichnet er vor allem „die virtuose Maschinerie der katholischen Kirche als eine Macht, „die ich trotzdem und eben deshalb mit aller geringen Kraft, die ich noch besitze, zu bekämpfen für ein Gebot meiner Menschenwürde halte.“

Für die uns hier interessierende Frage nach der Verortung des Motivs der „religiösen Unmusikalität“ muss vor allem auf die besonders wichtige Reise durch die USA im Herbst des Jahres 1904 hingewiesen werden. In seinem Zeitungsbericht von 1906 begegnen wir diesem Motiv bei Weber zuerst: „Wir modernen, religiös ‚unmusikalischen’, Menschen sind schwer imstande, uns vorzustellen oder auch nur einfach zu glauben, welche gewaltige Rolle in jenen Epochen, wo die Charaktere der modernen Kulturnationen geprägt wurden, diesen religiösen Momenten zufiel, die damals, als die Sorge für das ‚Jenseits’ den Menschen das Realste von allem war, was es gab, alles überschattete. […] Eine an Goethe sich orientierende ‚Bildungsreligion’ vollends ist dem genuinen Sektentum ebenso absolut entgegengesetzt, wie jede, und gerade eine liberale, Theologie.“

Wie unschwer zu erkennen ist: Die Sorge, die Weber empfunden haben mag, in ein Land zu geraten, in dem ihm möglicherweise eine gelebte Religiosität begegnen würde, wie er sie bis dahin allenfalls in Italien erlebte, nahm er sich selbst. Konnte er sich im Falle Italiens noch mit der von ihm behaupteten Nähe des Katholizismus zur Magie der praktizierten Volksfrömmigkeit beruhigen, so hätte ihn die mögliche Erfahrung einer Gesellschaft ernsthaft gläubiger Protestanten eventuell doch in gefühlsmäßige Unruhe und in „Schuldgefühle“ über die eigene religiöse Inkompetenz versetzt. Oder ihn vielleicht dazu ermutigt, sich dieser Seite seiner Persönlichkeit stärker auszusetzen. Nun jedoch, nachdem er zu erkennen glaubte, dass es angesichts einer „zunehmenden Säkularisation des Lebens“ letzten Endes doch immer nur um gesellschaftliche und insbesondere um ökonomische Chancenverbesserung ging, zeigte Weber sich so beruhigt, dass er seinen Spott auch über das „Namenschristentum in Deutschland“ gießen konnte, dem er sich wohl selbst zurechnete. Während der drei Monate seiner Amerika-Reise finden wir Weber geradezu permanent auf der Suche nach Hinweisen oder vielmehr „Beweisen“ dafür, dass es mit der Religiosität in Amerika auch nicht so weit her sei. Gerade in Amerika entpuppten sich Max Weber und Marianne Weber als Repräsentanten einer deutscher Unkirchlichkeit, wie sie im staatskirchlichen Protestantismus bildungsbürgerlicher Kreise im späten Wilhelminischen Deutschland weit verbreitet war. Max und Marianne Weber waren weder konventionelle Kirchgänger, noch glaubten sie an die dogmatischen Glaubensfundamente des Christentums. Insgesamt ging Max Webers zunehmendes Interesse an religionssoziologischen Fragen Hand in Hand mit seiner wachsenden Distanz zum Christentum. Die Jahre nach seiner akuten Krankheit ließen diese Distanz immer größer werden, so dass Marianne Weber in einem Brief an Eric Voegelin im Februar 1936 schreiben konnte: „M[ax] W[ebers] Beziehungen zum Christentum waren in der 2. Hälfte seines Lebens stark verblaßt – allerdings bewegte ihn die religiöse Erscheinung und Vorstellungswelt.“

Wie es um das Verhältnis von Jürgen Habermas zum Christentum steht, können wir aus vielem Veröffentlichten der letzten Jahre ablesen. Und da bekommt man schon den Eindruck, dass es so einfach nicht ist, für den Enkel eines Pfarrers und Seminardirektors aus Gummersbach, unbeschwert über sein Verhältnis zum Christentum zu reden, wie es bei der Selbstprädikation „religiös unmusikalisch“ in unsensiblen Ohren klingen mag.

Gerade wer den langen und kurvenreichen Weg der Rezeption Max Webers im Gesamtwerk von Jürgen Habermas rekonstruiert, wird das noch besser nachvollziehen können. Im gedanklichen Umfeld der „Frankfurter Schule“ diente Weber für die längste Zeit vor allem als Kontrastfolie zur eigenen Theoriearbeit, als zentrale Hintergrundfigur einer so genannten „Konventionellen Soziologie“, wie sie vor allem in den USA (Talcott Parsons) und in Deutschland in Köln (René König) und in Hamburg, Münster oder Bielefeld (Helmut Schelsky, Niklas Luhmann) praktiziert wurde. Mit der übervereinfachenden Lesart seiner Kapitalismus-Theorie fungierte Weber als Repräsentant einer „idealistischen“ Erklärung des Kapitalismus, wohin gegen Marx mit seiner „materialistischen“ Erklärung analytisch und politisch als überlegen eingeschätzt wurde. In den Seminaren von Theodor W. Adorno vollzog sich der Bezug auf Weber allenfalls peripher und polemisch; davon konnte sich auch sein erster Assistent, Jürgen Habermas, lange Zeit nicht vollkommen lösen. Adornos und Habermas’ Studierende wurden nicht sonderlich animiert, Weber zu lesen.

Auch noch in der Zeit des so genannten „Positivismus-Streits“ in den 1960er Jahren diente der nur sehr selektiv gelesene Weber als Erzpositivist, als Kulturpessimist, als ideologischer Wegbereiter des Existentialismus. Weber war zur Hintergrundfigur gemacht worden, für alles, was in der zeitgenössischen Soziologie und empirischen Sozialforschung produziert wurde, vor allem in den USA und ihren Entsprechungen in Deutschland. Weber wurde zum Totempfahl einer „Bürgerlichen Soziologie“, deren systemstabilisierender, latent faschistoider Charakter immer mitgedacht wurde.

Erst mit der „Theorie des kommunikativen Handelns“ von 1981, vor allem bei der Auseinandersetzung mit der zentralen Frage: Wo kriegen wir unsere eigenen Normen her?, wandte sich Habermas dem Werk Max Webers in neuer und neugieriger Weise zu. Nun war Weber nicht mehr nur der Anti-Marx, ein Heiliger hinter der „Konventionellen Soziologie“, sondern ein wissenschaftlicher Autor, den man systematisch lesen musste, auch wenn er einem politisch und ideologisch höchst unangenehm war. Und so kam es, dass die Position von Weber in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ eine so prominente Stellung einnimmt, nicht nur was den Umfang der Darstellung, sondern auch was die Disposition des Buches insgesamt angeht. Es geht von zentralen Ideen Max Webers aus, an denen die gesamte Rationalitätsproblematik des Buches aufgehängt wird, auch wenn die Antworten, die Weber selbst geliefert hat, von Habermas höchst kritisch bewertet werden. Das zentrale Konzept von Habermas, das der „kommunikativen Rationalität“ wäre ohne die theoretischen und empirisch fundierten Arbeiten Max Webers vermutlich nicht entstanden. Der Begriff des „kommunikativen Handelns“ als eines Rationalisierungsmittels, das geradezu konstitutiv ist für soziale Verhältnisse, ist im Kern die schöpferische Weiterführung Weberscher Vorarbeiten, auch wenn an dessen (vermeintlicher) Engführung des Rationalitätsbegriffs sowie der davon abhängigen Handlungs- und der (vermeintlich verunglückten) Rechtstheorie ein bisschen herumgenörgelt wird. Weber wurde insgesamt zum überaus brauchbaren Steinbruch für diesen, auch in dieser Hinsicht rücksichtslosen Meisterdenker aus Deutschland, dem zum 80. Geburtstag alles Gute gewünscht sei.