Stadtrundgang
Laura Biegers „Ästhetik der Immersion“ versucht, Las Vegas und Washington als Erlebnisräume und heterotopische Bildräume zu erschließen
Von Patrick Baum
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Amerikanistin Laura Bieger, derzeit Juniorprofessorin am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin, untersucht in ihrer Arbeit drei urbane Räume als Erlebnisräume: die Glücksspielstadt Las Vegas, die 1893 anlässlich der Columbia Exposition für kurze Zeit erbaute ‚White City’ und Washington D.C., die Hauptstadt der Vereinigen Staaten. Diese urbanen Räume sind – so Bieger – dadurch charakterisiert, dass sie nicht einfach als Konglomerate gewachsen sind, sondern – mit einem spezifischen Interesse – konstruiert wurden; es handelt sich um „wirkungsvolle Bild-Räume“, die jeweils einer bestimmten „Bildpolitik“ verpflichtet sind. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt sichtlich auf der Themenarchitektur neuerer Hotelkasinos in Las Vegas; die Ausführungen zum Washingtoner Regierungsviertel und zur ‚White City’ dienen gewissermaßen als Folie, vor der sich das Eigentümliche des Erlebnisraums Las Vegas entfaltet.
In den Ausführungen zu Washington arbeitet die Autorin heraus, wie das Regierungsviertel durch die klassizistische Architekur der Regierungsbauten (Capitol, White House) und der Gedenkorte (Jefferson Memorial, Lincoln Memorial) das Gefühl der Erhabenheit erregt und so als ein „monumentaler Erlebnisraum amerikanischer Nationalität“ fungiert. Im Anschluss untersucht sie die ‚White City’ von 1893, für die Columbia Exposition (ein amerikanisches Konkurrenzunternehmen zur Pariser Weltausstellung von 1889) gebaut und nach sechs Monaten bereits wieder abgerissen. Es handelt sich gewissermaßen um eine Art potemkinsches Dorf, das als „flüchtiger Bote der Zukunft“ eine städteplanerische Utopie ins Bild setzt. Ebenfalls einer klassizistischen Architektur verpflichtet ist die ‚White City’ aber, wie Bieger hervorhebt, nicht so sehr ein Ort der Repräsention, sondern ein Ort des Spektakels.
Einem anderen spektakulären Ort, der die von Washington und der ‚White City’ vorgezeichneten Linien fortführt, ist der Großteil der Arbeit gewidmet: dem Spielerparadies Las Vegas, das 1905 in der Wüste von Nevada errichtet wurde. Bieger konzentriert sich bei ihren Ausführungen auf die Ästhetik der Hotelkasinos. In einem ersten Schritt rekapituliert sie die Entwicklung der 1950er- und 1960er-Jahre, die zunächst durch die einer Überbietungslogik verpflichteten „Schilderarchitektur“ geprägt war, bis sich schließlich Mitte der sechziger Jahre das Modell des Themenhotels etablierte, das bis heute dominiert. Unterdessen haben, durch den Einfluss dieses Erfolgsmodells, Gastronomie und Erlebniskultur das Glücksspiel als Haupteinnahmequelle abgelöst. Die Autorin beschreibt an vier Beispielen die kohärenten Erlebnisräume, die in den modernen Themenhotels entworfen werden, im Detail und legt die Mechanismen frei, vermittels derer Las Vegas seine „illusionistische Bildpolitik“ verfolgt: ‚Scripted Spaces’, mehrheitlich orientiert an europäischen Vorbildern (Paris, Toskana, Venedig) präsentieren den Besuchern eine „immersive Räumlichkeit“, die aber ausdrücklich nicht als suggestive Manipulation, sondern als „Wahrnehmungsangebot“ zu verstehen sei, da der Betrachter bei der Konstruktion eine aktive Rolle spiele. Hier grenzt die Autorin sich von kulturkritischen Entwürfen im Gefolge der Frankfurter Schule ab, die in Las Vegas natürlich die Hauptstadt der Kulturindustrie sehen müssen.
In ihrem theoretischen Zugriff auf die von ihr untersuchten Bild-Räume kombiniert Bieger rezeptionsästhetische und phänomenologische Ansätze und greift überdies auf den von Michel Foucault geprägten Begriff der Heterotopie zurück. Rezeptionsästhetik und Phänomenologie lassen sich mit Gewinn kombinieren; während erstere die konkreten Konstruktionsleistungen des Rezipienten bei der Erschaffung des jeweiligen Bild-Raums in den Blick rückt, konturiert letztere die atmosphärische Wirkung dieser Räume, die eine Immersion ermöglichen. Biegers theoretische Gewährsleute sind für die Rezeptionsästhetik vor allem ihr Doktorvater Winfried Fluck und für die Phänomenologie Gaston Bachelard, Vivian Sobchak und Gernot Böhme.
Der Rückgriff auf den Foucault’schen Heterotopiebegriff wirkt weitaus weniger schlüssig. Schon in ihrer Anlage blendet die Arbeit die Aspekte aus, die für die Untersuchung von Heterotopien die eigentlich interessanten wären. So schreibt Bieger in einer Fußnote: „Mit der Fokussierung der heterotopischen Funktion […] soll diese ‚realpolitische’ Seite dieser Städte bewusst außen vor bleiben, obwohl sie eine Vielzahl von sozialen Praxen enthält, die diese Ausschnitte [gemeint sind die untersuchten Stadtteile] erst hervorbringen und am Leben erhalten. […] Die vielschichtigen Wechselwirkungen zwischen heterotopischen und alltäglichen Platzierungen einer Gesellschaft zu untersuchen, wäre ein anderes, nicht weniger wichtiges Thema, das diese Arbeit allerdings in der vorgenommenen Ausrichtung nicht leisten kann und will.“
Mit dieser methodischen Entscheidung verfehlt die Autorin die eigentliche Pointe des von ihr bemühten Theorems: Heterotopien zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass in ihnen die in einer Gesellschaft virulenten Diskurse aufgegriffen – mit den Worten Foucaults: „gespiegelt“ – werden, sondern auch dadurch, dass sie diese Diskurse auch in Frage stellen oder sogar subvertieren. Dieses subversive Potential der Heterotopien lässt sich aber nur im Wechselspiel mit dem sie umgebenden Sozialraum thematisieren, und genau dieses Wechselspiel blendet Bieger bewusst aus.
Verwunderlich ist, dass die Autorin die entsprechenden Passagen bei Foucault durchaus zitiert – in der etwas freien und geglätteten Übersetzung von Walter Seitter, obwohl seit 2005 eine wesentlich exaktere Übersetzung von Michael Bischoff zur Verfügung steht – aber daraus nicht die Konsequenz zieht, das subversive Potential dieser „Gegenplatzierungen“ eigens zu bedenken. Ebenso verwunderlich ist es, dass Bieger bei ihrem Versuch, den Begriff der Heterotopie auf urbane Räume anzuwenden, einschlägige Arbeiten – etwa von Edward W. Soja – ignoriert. Soja, Professor für Urbanistik an der University of Californa in Los Angeles, hat das Konzept der Heterotopie schon vor rund 20 Jahren in die Stadtraumforschung eingeführt und mehrere einflussreiche Monografien („Thirdspace: Journeys to Los Angeles and Other Real-And-Imagined Places“, 1996, und „Postmetropolis: Critical Studies of Cities and Regions“, 1999) vorgelegt. In der vorliegenden Arbeit finden diese Texte keine Erwähnung.
Insofern ist das Buch Biegers eine interessante rezeptionsästhetische und phänomenologische Studie der Immersionsästhetiken von Las Vegas, vor allem überzeugend in den Detailbeobachtungen, eine Untersuchung heterotopischer Räume im eigentlichen Sinne ist es nicht.
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