Selbstfindungs-Odyssee in Obama-Land

Über Irene Disches neuen Roman „Clarissas empfindsame Reise“

Von Holger DauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Holger Dauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt ein Lesevergnügen, das Unbehagen – ja Misstrauen – bereitet. Meist wird es von Büchern erzeugt, deren Verfasser mit Dingen glänzend zu unterhalten wissen, die einen im Grunde nichts angehen, einen merkwürdig kalt lassen, die weder harschen Widerspruch noch leidenschaftliche Zustimmung hervorrufen, kurz: die keine Angriffsfläche bieten. Oftmals sind es intelligente, aber durch und durch berechnende und berechenbare Augenblicksprodukte, strategisch platziert im Hier und Jetzt und doch mit dreistem Anspruch auf ein Leben nach der Lektüre, amüsante, nicht unsympathische Belanglosigkeiten, die im – exklusiven und doch löchrigen – Gewand der Originalität und Einzigartigkeit daherkommen, vielleicht gar nach Bewunderung und Anerkennung heischen. Vielleicht wäre das auch zuviel verlangt. Doch: Warum sollte der Leser nicht das von jedem Buch verlangen, was Literatur zu geben imstande ist? Es gibt gewiss Autoren, bei denen man eher dazu geneigt ist als bei anderen, sehr hohen Anspruch und Nachhaltigkeit zu erwarten. Irene Dische gehört dazu. Nach ihrem spektakulären, zu Recht gefeierten Debüt „Fromme Lügen“ aus dem Jahr 1989, dem ebenso schmalen wie beachtenswerten Erzählband „Der Doktor braucht ein Heim“ (1990), der bissig-bösen Krimi-Parodie „Ein Job“ (2000) und vor allem ihrem furiosen Familienroman „Großmama packt aus“ (2005) hat sie sich in der Tat ein beachtliches Nachsichtskonto eingerichtet. Das sei ihr gegönnt. Aber: Mit „Clarissas empfindsame Reise“ beginnt seine Plünderung.

Die in New York geborene Deutsch-Amerikanerin Irene Dische ist bekannt für Amüsement auf hohem Niveau, für geschicktes Changieren zwischen Ironie und Melancholie, zwischen spielerischem Ernst und elegischer Komik. Das setzt ein Höchstmaß an stilistischer Abgeklärtheit voraus, die im neuen Roman einen Grad erreicht hat, der nach wie vor beeindruckt, aber nichts zum Klingen bringt. Das liegt zum einen an den konzeptionellen Schwächen: Wendungen und Höhepunkte sind wahllos verteilt oder gleich ganz ausgespart. Das liegt vor allem an der unterkühlten erzählerischen Routine, mit der die Story dargeboten wird. Dische schreibt brillant, aber sie hat nichts zu sagen, was wirklich berührt. Dische gaukelt eine Geschichte vor, aber reiht lediglich Sentenzen, Aperçus und Sophismen aneinander. So ist ein vergnügliches Buch ohne Erregungspotential entstanden – also eine literarische Enttäuschung.

Worum geht es? Clarissa, die Ich-Erzählerin, ist auf der Flucht – vor der Trauer über ihre verlorene Liebe Ivan. Der alternde jüdische Dichter aus Minsk hat das Ende der Liaison beschlossen. Clarissa ist tief getroffen, fassungslos, geradezu empört. Mit dem Verlust männlicher Aufmerksamkeit weiß die attraktive Mitdreißigerin so gar nicht umzugehen und auch die Rolle der Verschmähten will sie nicht unwidersprochen hinnehmen. Dabei ist ihr keineswegs vorzuwerfen, in erotischen Angelegenheiten allzu wählerisch zu sein. Schließlich ist sie stolz auf ihr Talent, sich beim „geringsten Anlass“ verlieben und ihrer Libido freien Lauf lassen zu können. Vor ein paar Jahren hat Ivan ihr Herz mit seiner Intellektualität gewonnen – mehr stand ihm allerdings auch nicht zur Verfügung: Herausragende Charaktereigenschaft des kleinwüchsigen, langweiligen, unscheinbaren, beinahe unansehnlichen und stets nach Aschenbecher riechenden Egomanen ist die irritierende Angewohnheit, nach dem Sex seitenlang aus Dantes „Göttlicher Komödie“ zu zitieren. Eine tragfähige Beziehungsgrundlage sieht anders aus.

Trotzdem ist Clarissa Ivans verführerischer Intelligenz erlegen, auf Gedeih und Verderb, wie es scheint. Bei aller lastenden Seelenpein verfügt Clarissa über einen unbändigen emotionalen Überlebenswillen und ein ungemein robustes Ich. Das gehörte schließlich lange Zeit zu ihrer beruflichen Grundausstattung, denn sie war bis vor kurzem eine erfolgreiche Rallyefahrerin, die mit ihrem 500-PS-Wagen ein Rennen nach dem anderen gewann. Um den Verlust des Geliebten zu kompensieren, ihn womöglich rückgängig zu machen und neues Selbstvertrauen zu gewinnen, gibt es für Clarissa nur eines: Sie muss den „Großschriftsteller“ treffen, sich in einen Dichter verlieben, der noch berühmter ist als Ivan. Den hofft sie in ihrem Geburtsland, in den USA zu treffen – weit weg von Ivan, weit weg von Berlin, wo sie die letzten Jahre als Gattin eines ebenso verständnisvollen wie spendablen Mediziners gelebt hat.

In Amerika angekommen, empfängt sie eine politisch-gesellschaftlich aufgeheizte Szenerie: Die Vorwahlen zur Präsidentschaft sind auf dem Höhepunkt angelangt, das Duell zwischen Barack Obama und Hillary Clinton ist in vollem Gange. Clarissa, eher rudimentär gebildet und politisch desinteressiert, ist dennoch auf unerklärliche Weise vom Kandidaten fasziniert – von seiner frisch-agilen Selbstinszenierung, von seinem ungewöhnlichen Namen, von der frenetischen Begeisterung und der leidenschaftlichen, zuweilen hasserfüllten Abneigung, die seine Person bei ihren Landsleuten hervorruft. Ihrer unreflektierten, spontanen Natur nachgebend, beschließt sie, eine zeitlang als Wahlkampfhelferin zu arbeiten, als Telefonistin in Obamas Hauptquartier in Asheville in North Carolina – mit mäßigem Erfolg. Die Obama-Passagen ziehen sich – leitmotivisch anmutend – durch das ganze Buch. Tatsächliche Bedeutung, atmosphärische oder gar metaphorische Relevanz gewinnen sie für das Ganze indes nicht. Letztlich bleibt es bei Andeutungen von zeitgeschichtlich beliebigen Momentaufnahmen.

Ganz nebenbei: Auch der – wie bei Irene Dische zu vermuten ist – mit Bedacht gewählte Buchtitel suggeriert dort tiefere Bedeutung, wo nur Scherz, aber schon keine tiefere Ironie mehr zu entdecken ist: „Clarissa“ heißt eines der drei Hauptwerke von Samuel Richardson, des führenden Vertreters der englischen Empfindsamkeit, 1748 erschienen, gut 1.500 Seiten stark, Vorbild für Jean-Jacques Rousseau, Christian Fürchtegott Gellert und das bürgerliche Trauerspiel Gotthold Ephraim Lessings. Sicher kann man nach direkten und indirekten Verweisen, ironischen Brechungen und klug konstruierten Parallelen suchen. Aber es bleibt eine gebildete, aufgeplusterte Spielerei, eine Andeutung, die ins Leere läuft, im Grunde unauflösbar und damit funktionslos und verzichtbar.

Auf ihrer Selbstfindungs-Odyssee durch die USA sammelt Clarissa ungewöhnliche Begegnungen und Geschichten. Schon der gutaussehende Sitznachbar im Flugzeug nach Amerika, ein libanesischer Gesichtschirurg namens Rommel, den sie – aus welchen Gründen auch immer – zunächst für einen Dänen hält, eröffnet den Reigen des auf skurril getrimmten Figurenarsenals. Es folgen der schwule Barmann Jake, der Clarissa auf der Suche nach ihrem berühmten Dichter in seinem feuerroten Pick-up durch die amerikanische Provinz kutschiert, die – im übrigen von Dische mit viel Sympathie und Verständnis gezeichneten – Bibelstunden-Teilnehmer einer Trailerkirche, der verklemmte Coffeshop-Angestellte Marius, der zu einem Klavierkonzert von Bach einen wilden, rauschhaften Tanz aufführt und mit Clarissa zur Belohnung weitere körperliche Freuden erleben darf, schließlich der martialische Busfahrer und Korea-Veteran, der die Mitreisenden wie Untergebene in einem Kriegseinsatz behandelt.

So soll ein ebenso groteskes wie liebevoll-humorvolles, schillernd-facettenreiches Bild der gegenwärtigen US-Gesellschaft, der Vielschichtigkeit der amerikanischen Wählerschaft entstehen – und in einigen Kapitel gelingt dies auch. Aber auch hier regiert in der Hauptsache das Prinzip der Beliebigkeit, des Zufalls und des unbedingten Willens, originell zu sein und beeindrucken zu wollen. Ihrem „Großschriftsteller“ begegnet Clarissa übrigens schließlich tatsächlich, doch dieser entpuppt sich als Reinfall, als alkoholisierter Melancholiker, der mit Frauen nichts mehr anzufangen weiß, empfindsam zwar, aber vom Leben gründlich desillusioniert. Am Ende des Romans steht ein überraschendes Telefonat mit dem Vater Clarissas, der seine Tochter in der neuen, alten Heimat willkommen heißt.

Disches Prosa ist gewohnt temperamentvoll, pointiert und witzig, mit gelegentlichem Hang zum Kalauer und erfrischend schnoddriger Eleganz – um hier auch einmal die Stärken des Romans zu nennen. IHm wird, so ist zu vermuten, nur eine kurze Verweildauer im literarischen Bewusstsein gegönnt sein. Dafür ist er – es ist schon gesagt worden – zu routiniert, zu leidenschaftslos, zu konstruiert. Kein Nachhall, keine Erregung, kein leidenschaftliches Vibrato, nirgends. Dische nimmt Deckung hinter ihrer eigenen Virtuosität. Das hat sie nicht nötig. Sie kann es besser, viel besser. Und sie wird wissen: Es reicht nicht, sich auf sein Handwerk zu verlassen. Das hat – zumindest in der Literatur – brüchigen Boden.

Titelbild

Irene Dische: Clarissas empfindsame Reise. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Reinhard Kaiser.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2009.
160 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783455401332

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