Immer mehr Dichter kommen in die Universität
Über die Poetikvorlesungen in Jena
Von Wulf Segebrecht
Besprochene Bücher / LiteraturhinweisePoetikvorlesungen gehören seit geraumer Zeit zum außerordentlichen Lehrangebot zahlreicher deutscher Universitäten. Zu nennen wären hier, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, die Universitäten Frankfurt, Bamberg, Paderborn, Kassel, Hildesheim, Göttingen, Tübingen, München, Leipzig, Rostock, Graz und Innsbruck, die solche Poetikvorlesungen anbieten. Über die Frage, wozu sie eigentlich gut sind, ließe sich lange diskutieren, und eine vergleichende Studie über ihre Geschichte, ihre Erscheinungsformen und ihren Nutzen, die meines Wissens noch aussteht, könnte Aufschlüsse über Veränderungen des Selbstverständnisses und des Beziehungsverhältnisses zwischen der Universität und der Literatur geben. Dabei müssten die Organisation, die Finanzierung, die Auswahl der Poeten, ihre Vortragsthemen, -arten und -formen, die begleitenden Veranstaltungen und Ausstellungen, die Einbeziehung des akademischen und außeruniversitären Publikums, die Öffentlichkeitsarbeit und nicht zuletzt die Publikationen gebührend berücksichtigt werden, die zur Vorbereitung oder zur Dokumentation der Ergebnisse der Poetikvorlesungen verschiedentlich herausgegeben werden. Eine solche Untersuchung kann hier nicht vorweggenommen werden, doch scheint es sinnvoll, wenigstens den Horizont ins Auge zu fassen, innerhalb dessen der Band „Poesie und Praxis“, der sich auf Poetikvorlesungen an der Friedrich-Schiller-Universität Jena bezieht, seinen spezifischen Ort hat.
Zunächst und vor allem war es in Jena nicht ein Autor, der gewissermaßen ex cathedra seine Poetik zum besten gab (so wird es seit jeher in Frankfurt praktiziert), sondern es wurden sechs Autoren eingeladen, in einem Vortrag zum Thema „Poesie und Praxis“ Stellung zu nehmen, das sie ohne Vorgabe „ganz nach eigenem Ermessen für sich auslegen und in die individuelle Gestaltung ihrer Vorträge mit einbeziehen konnten“.
Es handelte sich um die deutschsprachigen Autoren Paulus Böhmer, Jürgen Becker, Raoul Schrott und Michael Krüger sowie um den Niederländer Willem van Toorn und den Litauer Antanas A. Jonynas. Warum es gerade diese Autoren (und übrigens keine Autorin) waren, die zum Vortrag gebeten wurden, wird nicht weiter erläutert, aber die jeweiligen Einleitungen des verantwortlichen Veranstalters, Jan Volker Röhnert, der auch selbst als Lyriker hervorgetreten ist, lassen doch sympathetische Präferenzen erkennen: So hat Röhnert beispielsweise seinen Gedichtband „Metropolen“ dem Dichter Paulus Böhmer gewidmet, der die Jenaer Poetikvorlesungen zu einer unkommentierten Lesung seines emphatischen Langgedichts „Meer“ nutzte, das nun auch den Band eröffnet.
Jürgen Becker gibt als „Praxis“ eine Darstellung seines schriftstellerischen Lebenswegs unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung seiner poetischen Verfahrensweise. Raoul Schrott widmet sich im Anschluss an sein „Weissbuch“ (2004) der Kategorie des „Heiligen“, also einem über die Zeiten hinweg geübten Hinwendungsgestus (einer Anrufung) der Poesie. Michael Krüger ist nicht mit einem vorbereiteten Vortrag vertreten, sondern lediglich – wie auch alle anderen Autoren – mit Passagen aus Gesprächen, die man in Jena mit ihm geführt hat; diese sind allerdings so freimütig, lebenserfahren und beherzigenswert, dass wenigstens zwei seiner Ratschläge an seine Zuhörer hier zitiert werden sollen: Der erste lautet: Lesen Sie Gedichte von Eduard Mörike: „Da gibt es kein einziges schlechtes Gedicht, nicht ein einziges“. Und der zweite: „Schreibt jeden Tag eine Stunde“. Willem von Toorn wendet sich, überwiegend Beispiele aus seinem eigenen Werk heranziehend, dem Thema der Landschaftsdarstellung in der niederländischen Poesie zu, und Antanas A. Jonynas trägt abschließend einige ebenso grundsätzliche wie persönlich gehaltene poetologische Bemerkungen vor.
Zusätzlich zu den Vorträgen der Autoren enthält der Band jeweils Auszüge aus den mit ihnen geführten Gesprächen. Es sind Interviews intelligenter und kenntnisreicher Studenten, die in Schillers Gartenhaus geführt wurden, und zwar im Rahmen einer eigens eingerichteten Seminarveranstaltung, an der neun in dem Buch namentlich genannte und auch im Bild festgehaltene Studenten teilnahmen, was diesem Teil des Buches einen geradezu familiär-intimen Anstrich gibt.
Ob das Ergebnis dieser Gespräche wirklich als „ein einzigartiges Kompendium poetischer Lehrbriefe“ bezeichnet werden sollte, mag man ein wenig in Frage stellen – doch im Zusammenhang mit den oben angesprochenen Erscheinungsformen der Poetikvorlesungen an deutschen Universitäten ist es bemerkenswert, dass die Studenten in Jena nicht nur als stumme Adressaten, sondern als lebendige Mitgestalter der Veranstaltungen und ihrer öffentlichen Präsentation in Erscheinung treten. Sie haben auch zu jedem der Autoren (mit Ausnahme von Jonynas) eigene essayistisch-wissenschaftliche Arbeiten beigetragen: Interpretationen, Untersuchungen, Charakterisierungen.
Die meisten Studien dieser Art gelten dem Werk von Jürgen Becker. Die Schlacken der Seminararbeiten, aus denen diese Beiträge wohl hervorgegangen sind, haben einige von ihnen noch nicht abgeworfen, und Bedenken gegenüber der sich ausbreitenden „Praxis“, studentische Etüden öffentlich als gewichtige Forschungsbeiträge auszustellen, sind nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. In einer Zeit, in der eigentlich nichts mehr gedruckt werden muss, weil man es auch „ins Netz“ stellen kann, wird mehr und mehr alles gedruckt. Das alles sei zugegeben. Dennoch erscheint diese Variante der öffentlichen Präsentation einer Poetikvorlesung unter ausdrücklicher Einbeziehung der Studenten alles in allem nicht nur gerechtfertigt, sondern auch gelungen und zukunftweisend.
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