Natürliche Erziehung vor Rousseau?

Die pädagogischen und kulturkritischen Schriften Johann Gottfried Zeidlers

Von Nikola RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nikola Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Philosophie aber die kein Buch binden, keinen Schuch machen, oder keinen Nagel geschicklich einschlagen kan, soll man zum Thore hinaus weisen.“ Johann Gottfried Zeidler (1655-1711), der dies im Jahr 1704 schrieb, war ein streitbarer Gelehrter und Schriftsteller, kritischer Theologe und Satiriker, Lutheraner und Thomasius-Anhänger. Seinen Schriften kann man einen „Hang zu überschäumender Bildhaftigkeit, zu drastischen Tiervergleichen und zur Fäkalsprache“ (Killy-Literaturlexikon) attestieren. Der vorliegende Band profiliert Zeidler vor allem als einen Pädagogen, der lange vor Rousseau und Pestalozzi eine kindgemäße, natürliche Erziehung und Schulbildung forderte. Die These des Herausgebers lautet:

„Erstrangiges Ziel der Zeidlerschen Pädagogik und Kulturkritik ist – in Konfrontation mit dem intellektuellen und manuellen, nach Thomasius’ und Zeidlers Ansicht die Natur des Menschen deformierenden, ihn bevormundenden und ausbeutenden Zunftwesen der Zeit – die Erziehung zu Unabhängigkeit beziehungsweise Selbstständigkeit durch Realisierung von (curricular, anthropologisch und politisch motivierter) Ganzheitlichkeit bzw. Vollständigkeit. Dabei wird dem Prinzip (fremdgesteuerte) Funktionalität das Prinzip (kritische) Kreativität entgegengestellt, sodass von einer ,kopernikanischen Wende in der Geschichte der Pädagogik‘ (Lechner, 1981) beziehungsweise von einer bildungsgeschichtlichen Achsenzeit resp. einem Window of Opportunity einer Pädagogik eines radikalen Humanismus um das Jahr 1700 gesprochen werden kann.“

Ist Rousseau also der späte Nachfolger eines sächsischen Pädagogen, der seine Werke meist anonym veröffentlichte und heute weithin vergessen ist? Elmar Lechner, der am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung der Universität Klagenfurt forscht und lehrt, beschäftigt sich seit einem Vierteljahrhundert mit dem Frühaufklärer Zeidler, hat einzelne Schriften verstreut ediert und immer wieder dessen bildungs- und erziehungsgeschichtliche Bedeutung herausgestellt. Aus heutiger Perspektive erscheinen Zeidlers Ideen in der Tat progressiv: Er forderte als einer der ersten eine professionelle Schullehrerausbildung, plädierte für ein selbstständiges, ganzheitliches Lernen und Arbeiten, für die Wahrnehmung des Kindes als Persönlichkeit, für die didaktische Verbindung von Hand, Kopf und Herz, für die Anwendungsorientierung des Unterrichts (‚realia‘ anstelle von bloßer ‚Maulgelahrheit‘). Dabei ging der ehrgeizige Pädagoge bis zur kühnen Forderung nach einem „Collegium mechanicum“ – einer akademischen Institutionalisierung der artes mechanicae.

Lechner informiert ausführlich über Zeidlers Umfeld, seine Familie und vor allem den Gelehrtenkreis um Christian Thomasius im frühaufklärerischen ‚Saale-Athen‘ Halle. Mit einer Schrift zur Verteidigung seines Mentors griff Zeidler in den berühmten Konflikt zwischen Thomasius und August Hermann Francke um die 1698 gegründeten Franckeschen Stiftungen ein. Der obrigkeitlichen Anordnung, die Thomasius – bei Androhung der Amtsenthebung – zum Verzicht auf theologische Äußerungen und auf Überschreitung der Fächergrenzen verpflichtete, setzte Zeidler ein Plädoyer für grenzen- und zunftüberschreitendes Wissen, Lehren und Lernen entgegen.

Der vorliegende Band präsentiert zunächst zehn „Thesen“ zu Zeidler (wobei nicht alle der reichhaltigen bio- und bibliografischen Informationen als eigentliche Thesen zu bezeichnen sind). Das folgende Literaturverzeichnis enthält eine Auswahl Zeidler’scher Schriften; weitere Titel fanden sich bereits unter These 5 (die keine ist: „Zeidler ist Autor auch anderer für die Pädagogik und Kulturkritik relevanter […] Schriften“). Gerade aufgrund der bisher fehlenden wissenschaftlichen Erforschung Zeidlers wäre hier eine vollständige Auflistung seiner bibliografisch nachweisbaren Schriften wünschenswert gewesen. Dann hätte sich gezeigt, dass die hier edierten ‚kulturkritischen‘ nicht trennbar sind von den um 1700 publizierten wissenschaftskritischen Schriften Johann Gottfried Zeidlers, die bei Lechner unerwähnt bleiben: Die WohlEhrwürdige, Großachtbare und Wohlgelahrte Metaphysica; Die Hoch-Edle/ Veste Hochgelahrte und Hocherfahrene Physica; Die Hoch-Ehrwürdige, Geistreiche und Hochgelarte Pneumatica; Die Wohl-Edle, Groß-achtbare und Rechts-Wolgelahrte Fiscologia; Ihre Praecellentz Die Noologia, Oder Versteherey; Die HochEdle, Veste und HochGelahrte Gnostologia, oder Allwisserey.

Der Herausgeber versammelt auf rund 250 Seiten 18 ausgewählte Werke bzw. Werkauszüge, darunter Sieben Böse Geister, Welche heutiges Tages guten Theils die Küster, oder so genandte Dorff-Schulmeister regieren (1700), Neun Priester-Teuffel (1701), Daß ein jeder Mensch sein eigener Handwercksmann seyn solle und könne (1704), Von der Herrschafft der Männer über die Weiber (1705), Vorschlag einer Jungfer-Academie (1707), Buchbinder-Philosophie Oder Einleitung In die Buchbinder Kunst (1708). Lechner erklärt, bereits früher einige Schriften Zeidlers „in formal recht anspruchsloser Form“ herausgegeben zu haben; diese Beschreibung trifft auch für die vorliegende Edition zu, deren „Anmerkungen zu Formalien der Textwiedergabe“ frei von editionsphilologischer Terminologie sind. Es handelt sich um eine Leseausgabe, deren Textauswahl ein Kenner und Liebhaber verantwortet.

Zeidler war ein wacher, freier, kritischer, satirischer Geist: Ihn zu entdecken ermöglicht der vorliegende Band.

Titelbild

Elmar Lechner: Pädagogik und Kulturkritik in der deutschen Frühaufklärung: Johann Gottfried Zeidler (1655-1711). Zehn Thesen und Edition einiger seiner autobiographischen, pädagogischen und historischen sowie aphoristischen Schriften.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
314 Seiten, 51,50 EUR.
ISBN-13: 9783631535899

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