Wo lag Europa?

Richard Wagners „Es reicht“ enthält unterhaltend-provokante Thesen über Europa und seinen Wertezerfall

Von Evelyne von BeymeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Evelyne von Beyme

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gegen die zunehmende ,Amerikanisierung‘ Europas und den Zerfall seiner Werte rüstet sich Richard Wagner in seinem recht unterhaltsam geschriebenen Essayband „Es reicht. Gegen den Ausverkauf unserer Werte“, das sich gleichzeitig als eine Aufforderung an den Bürger und die Politiker zur Wahrung der europäischen Interessen liest.

Wie aktuell Wagners Buch ist, zeigt sich auch an der derzeitigen Debatte um die Aufnahme der Türkei in die EU. Wagner selbst spricht sich explizit gegen die Aufnahme aus. Als Begründung führt er an, dass die Türkei nicht mehr dem ,westlichen Kulturkreis‘ angehöre und verweist dabei auf die islamische Prägung ihrer Geschichte und Kultur. Man könne sich „der Türkei gegenüber auf nichts berufen“, insofern sie „die EU als Zollverein und Finanzinstrument“ betrachte. Auch über die kürzlich durch das Interview des ehemaligen Berliner Finanzsenators und Bundesbankvorstands Thilo Sarrazin ausgelöste Integrationsdebatte finden sich in „Es reicht“ antizipierende Überlegungen. Im Rahmen seiner Gedanken zum Fundamentalismus kritisiert der Autor das Kopftuch, wettert gegen den Kölner Moscheenbau und kreidet die Politik der sogenannten ,Beschwichtiger‘ wie etwa des Schriftstellers Feridun Zaimoglu an. Der Haupteinwand, den Wagner gegen die Genehmigung des Baus einer Moschee anführt, ist die Gefahr der politischen Instrumentalisierung islamischer Gotteshäuser. Diese Gefahr, auf die der Verfasser anspielt, ist zwar nicht völlig unbegründet, doch sollte nicht gerade ein Europäer in einer Zeit, wo die Säkularisierung längst hinter uns liegt, sich in der religiösen Toleranz üben? Auch die Kirchen wurden einst, als Religion und Staat noch „eng miteinander verzahnt“ waren, als Kontrollmittel der Gemeinde genutzt, die in erster Linie eine religiöse Gemeinde war. Nun liegt diese Zeit vor dem Westfälischen Frieden. Doch die Gefahr, die Wagner im Moscheenbau auf deutschem Boden sieht, ist ungeachtet seiner fundamentalistischen Sorge auch ein Verdacht, der sich derzeit nicht bestätigen lässt. Einen Verdacht der politischen Instrumentalisierung könnte man auch gegenüber den Kirchen und anderen Gotteshäusern aussprechen. Dies tut jedoch keiner – vielleicht, weil sie seit langem leer sind. Das heutige Europa zeichnet sich auch durch Toleranz aus, insbesondere religiöser Art. Es ist genau dies, was Europa zu Europa macht.

An mehreren Stellen ist in Wagners Buch anstelle von ‚Europa‘ vom ‚Abendland‘ die Rede. Der Begriff des Abendlandes ist seit dem 16. Jahrhundert nachweisbar und bildet das westliche Antonym zum Morgenland. Neben dem geografischen rekurriert diese Bezeichnung jedoch zugleich auf einen religiösen Gegensatz: Das Abendland als Sinnbild der westlichen Welt ist christlich geprägt, während das ,Morgenland‘ beziehungsweise der Orient einen griechisch-orthodoxen und islamischen Hintergrund aufweist. Seit dem 18. Jahrhundert entwickelte sich die Bezeichnung ‚Abendland‘ zu einem ideologisch gebrauchten Begriff, der heutzutage zumeist von vielen Intellektuellen als Anspielung auf das zweibändige Werk des Geschichtsphilosophen Oswald Spengler, „Der Untergang des Abendlandes“, verstanden wird. Politisch vertritt Spengler darin eine rechts-konservative Position, die ein Preußentum propagiert, dessen Kultur auf den drei Pfeilern Ordnung, Pflicht und Gerechtigkeit fußt und nicht wie die ‚dekadente‘ Zivilisation auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Über den Gebrauch des Wortes ‚Abendland‘ ist sich Wagner durchaus bewusst.

Vehement stellt er sich die Frage nach der Bedeutung von europäischer Identität, die durch Migration und Globalisierung mehr denn je gefragt ist. Seine Verwendung des Begriffs ‚Abendland‘ zielt in diese Richtung, indem sie den Rezipienten auf die christlichen Wurzeln Europas verweist. Die Aufklärung und damit einhergehend auch die demokratische Denkweise, sei ohne das Christentum – das heißt ohne die Reformation – nicht denkbar gewesen. Die Begriffe ,Westen‘ und ,Abendland‘ müssten Wagner zufolge zusammengeführt werden, da ersterer einen pragmatischen Gesichtspunkt berücksichtige, während der zweite auf die geistig-religiösen Wurzeln verweise.

Vermehrt beruft sich Wagner auf das Abendland, um dem kulturellen Aspekt Europas Rechnung zu tragen und ihn der EU-Politik gegenüberzustellen. Durch die Beschlüsse der EU verändern sich die Grenzen Europas, meist stehen dabei wirtschaftliche Gesichtspunkte im Vordergrund, was eine Gefährdung der europäischen Identität zur Folge habe. Ohne das Bewusstsein kultureller Wurzeln sei diese nicht aufrechtzuerhalten. Christentum und Demokratie stellen für Wagner zwei wesentliche Bestandteile Europas dar. Für ihn ist Europa folglich nur begrenzt expansionsfähig. Das Fazit seines Buches könnte daher auch lauten: Ohne Kultur kein Europa.

Dass die kulturellen Wurzeln Europas, die Wagner dem Leser ins Gedächtnis zu rufen sucht, zum Teil bereits vergessen wurden, zeigen die leeren Bankreihen in den Kirchen. Die „Begegnung der Kulturen“ erfordert für Wagner „nicht nur Aneignungsbereitschaft […], sondern auch einen ausgeprägten Verwerfungswillen“.

„Es reicht“ setzt sich aus zehn Kapiteln zusammen, die durchschnittlich nicht mehr als zehn bis fünfzehn Seiten umfassen und mit ihren metaphorischen Titeln wie „Die Freiheit und ihre Trojaner“ oder „Der abrufbare Jesus“ die Neugier des Lesers wecken sollen. Als Abschluss wartet Wagner seinem Leser im zehnten Kapitel mit einem umstrittenen Europäertest auf, der weitaus mehr über die politischen Ansichten des Verfassers verrät, als dass er einem etwas über seine europäische Identität Preis gibt. Auf sprachlicher Ebene arbeitet Wagner mit unterhaltenden Anekdoten und Neologismen, die sich auf leger-provokante Weise der Sprache des Alltagsjargons implementieren lassen. Nicht selten nimmt seine Sprache einen ironisch-kritischen Unterton an. Das ,Abendland‘ wird da zu ‚McAbendland‘, um die vorgebliche ,Amerikanisierung‘ Europas und die zunehmende Indifferenz der abendländischen Kultur zum Ausdruck zu bringen, die gleichzeitig ihren Verfall bedeutet.

Themen wie Globalisierung, Links- und Rechtsextremismus, Integration, Fundamentalismus, Kultur und Bildung werden in „Es reicht“ verhandelt. Seine politischen Ansichten bringt Wagner zum Teil schon mittels der Kapitelüberschriften zum Ausdruck (so beispielsweise: „Warum Russland nicht demokratisierbar ist“).

Wie Herta Müller wurde auch Richard Wagner 1952 im rumänischen Banat geboren. Nach seinem Studium der Germanistik und Rumänistik war er jahrelang als Deutschlehrer und Journalist tätig. Nebenher veröffentlichte er deutsche Lyrik und Prosa. Seit 1987 – infolge eines Arbeits- und Publikationsverbots – lebt der Schriftsteller in Berlin. Im Jahre 2008 wurde der Autor für sein Gesamtwerk mit dem Georg-Dehio-Buchpreis ausgezeichnet. Der Gattung des Essays widmet er sich seit 1992. Bereits in seinem letzten Essayband „Der deutsche Horizont“ (2006) beschäftigte sich der Berliner mit den Themen Kultur und Wertezerfall, allerdings noch auf nationaler Ebene. Sein aktuelles Buch „Es reicht“ ließe sich daher auch als eine Fortsetzung im Sinne einer Ausweitung auf Europa lesen.

„Es reicht“ eignet sich nicht nur für Akademiker. Der Autor richtet sich zunächst an europainteressierte Leser, aber auch an diejenigen, die sich bisher nur wenig mit der Europathematik auseinandergesetzt haben. Wagner versucht, die Frage nach einer europäischen Identität neu zu perspektivieren, indem er sich direkt an das Individuum richtet und ihm seine Verantwortung für dessen Aufrechterhaltung ins Gedächtnis ruft.

Titelbild

Richard Wagner: Es reicht. Gegen den Ausverkauf unserer Werte.
Aufbau Verlag, Berlin 2008.
163 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783351026738

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