Familienaas und feuchte Wildnis

Warum Günter Herburgers „Der Kuss“ das Zeug zum Lyrikklassiker hat

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

Vielen scheint gerade dies das telos ‚guter‘ Kunst zu sein: die Verfremdung des Alltäglichen und der damit verbundene Versuch, scheinbar längst Bekanntem neue und ungewöhnliche Seiten abzugewinnen. Folgt man dieser Annahme, so handelt es sich bei Herburgers Band „Der Kuss“ zweifellos um ‚gute‘ Kunst, stellt der Lyriker doch gerade jene vermeintlich unscheinbaren Begebenheiten, die man im Alltag längst schon nicht mehr bemerkt, in den Mittelpunkt vieler seiner Gedichte.

So widmet er sich etwa in „Das Paradies“ dem Leben und Weben der von Literaten bislang (zu unrecht) vernachlässigten Weberknechte: „Der Garten bebt / beim Tanz der Weberknechte, / zwischen den Bäumen steht / eine Wanne, die Tropfenfalle. // Sie umarmen sich, / werden zu Familienaas, / ausstülpend hellblaue / Fruchtkugeln, Diamanten. // Geschleudert auf einen Parkplatz, / wo sie verenden sollen, / hüpfen sie zurück / in die feuchte Wildnis. […]“

In „Der Griff zur Tür“ wiederum wird die Monotonie des Lebens einer alten Frau auf ebenso eindringliche wie subtile Weise geschildert: „Sie lässt das Elektrowägelchen sich bewegen, / dann trinkt sie Schnaps, / schleckt an einem kleinen, schmutzigen Kristall, / der ein wenig säuerlich riecht. / Sie verknotet die Henkel einer Plastiktüte / vor dem Hals, als sei sie der Elefantenmensch, / während ihr Kopf sich bereits neigt, / und nur noch leise zu hören sind die immer / schneller werdenden Atemzüge der Angst.“ Doch belässt es Herburger nicht bei der Darstellung solcher Situationen – im Gegenteil: In die scheinbare Normalität brechen mit geradezu surrealer Wucht immer wieder – und zunächst völlig unerwartet – befremdliche Elemente, wie etwa in „Der Mantel“: „Die Tanklastwagenfahrer / essen Nudeln mit Spinat/ bei jeder Station / … / bevor sie, / Pralinen im Mund, / wieder auf Strecke gehen, / gestampft aus Schotter und Eis, / darin Finger von Straßenarbeiterinnen.“

Seine Vorliebe für den Kontrast von Alltäglichem mit grotesk-surrealen Elementen wird in einem der zahlreichen intertextuellen Verweise des Bandes besonders deutlich: In „Solaris“ bezieht sich Herburger auf Stanisław Lems gleichnamigen Science-Fiction-Klassiker, wobei sich der Sinn des Gedichts mit seiner Schilderung der besonderen parapsychologischen Phänomene, denen die Crewmitglieder einer Raumstation ausgesetzt sind, ohne eine zumindest globale Kenntnis des Prätextes kaum erschließen dürfte: „Er säuberte zu Hause seine Arme/ mit warmer Seifenlauge. / Hätte er den Gast im Meer / seines Gehirns nicht umgebracht, / wäre er gestorben.“

Als „notwendige Träume“ sehe Herburger seine Gedichte, so zitiert ihn der Klappentext, doch hält in die von ihm entworfenen lyrischen ‚Traumwelten‘ bald auch das schonungslos Hässliche und Brutale Einzug, so dass jegliche Hoffnung auf eine potentielle poetische Tröstung durch einen vermeintlich ‚besseren’ literarischen Gegenentwurf zur Realität zunehmend schwindet: „Sie hing mit gespreizten Armen, / die Hände an Stricken, / von einem Balken, den Bauch vom Brustbein/ bis zur Scham aufgeschnitten, / daraus leuchtete Gedärm.“ („Die Garage“)

So wie Herburger viele seiner sprachlichen Bilder dem „Wörterbuch vergangener Sprachen“ („Gäste der Welt“) entlehnt zu haben scheint, erstreckt sich sein archäologisches Interesse offenbar nicht nur auf das ‚Ausgraben‘ ungewöhnlicher Metaphern, sondern auch auf das Bloßlegen der Abgründe der menschlichen Psyche. Das Resultat sind Gedichte von bizarrer Schönheit und Faszination, die man, selbst wenn sie sich einem rationalen Zugriff zuweilen erfolgreich entziehen, wieder und wieder lesen möchte.

Titelbild

Günter Herburger: Der Kuss. Gedichte.
A1 Verlag, München 2008.
112 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-13: 9783940666024

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