Ein Durchschnittsheld mit Scharfblick

Über Charles Chadwicks Roman „Ein unauffälliger Mann“

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

Wahrlich ein Spätberufener war der britische Autor Charles Chadwick, als er mit 72 Jahren seinen ersten Roman „Ein unauffälliger Mann“ herausbrachte. Und der Debütant ließ die Kritiker staunen: Denn die fiktive Biografie des Angestellten Tom Ripple, die er darin auf gut 900 Seiten in Ich-Form erzählt, gehört zu den Erstlingswerken, die zutiefst beeindrucken und auf weitere Werke hoffen lassen.

Tom Ripple ist ein ganz normaler Durchschnittsbürger, jemand, den man „als letzten in einer Menge bemerken würde“. Auch er selbst findet sein Leben keineswegs großartig oder irgendwie bemerkenswert, alles daran scheint klein und unbedeutend: „Wir haben ein kleines Haus, einen kleinen Garten, ein kleines Auto (alles Folge meines kleinen Jobs), zwei völlig zufrieden stellende Kinder, und wir machen jedes Jahr Urlaub irgendwo am Wasser. […] Es gibt nichts auch nur annähernd Interessantes oder Wichtiges, was ich meinem Sohn über meine Arbeit erzählen könnte, ohne zu lügen. […]“.

Dennoch setzt er sich eines Tages hin und bringt über drei Jahrzehnte hinweg sein Leben zu Papier. Von den 1970ern bis ins Jahr 2000 lässt er den Leser teilhaben an einem Leben als Familienvater in einem typischen Londoner Vorort, dann als Geschiedener an der Küste Suffolks, später wieder zurück in London und schließlich als alter Mann an der englischen Südküste.

Und so wird das Schreiben, das er zunächst nur aus Langeweile beginnt, nach und nach zu einem der wichtigsten Bestandteile ebendieses Lebens. Aus den kleinen Notizen des „Normalos“ Ripple werden immer genauere Beobachtungen nicht nur seiner eigenen Befindlichkeiten und der Menschen in seiner Umgebung, sondern der gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihn umgeben. Mit pointierter Scharfzüngigkeit und genauem Blick entfaltet er so ein Sittengemälde der britischen Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts.

Wir Leser begleiten ihn auf seinem Lebensweg durch ein wenig spektakuläres Berufsleben in einer Import-Export-Firma, bei dem er trotz mangelndem Ehrgeiz letztendlich einen relativen Aufstieg erlebt. Wir lernen Nachbarn und Kollegen kennen, die beiden Kinder und seine Ehefrau, eine selbstgerechte Sozialarbeiterin, die nach 17 unspektakulären Ehejahren eine ebenso undramatische Trennung vollzieht. Im Gegensatz zu seiner Frau, die später wieder heiratet und Witwe wird, bleibt Ripple letztendlich allein, auch wenn er immer wieder versucht, neue Beziehungen aufzubauen. Doch weder dies noch der Verlust seiner Stelle lassen ihn in Depressionen verfallen. Finanziell abgefunden, begibt er sich aufs Altenteil und schreibt weiter auf, was er beobachtet und was ihn bewegt. Trotz immer wieder aufblitzenden Momenten der Trauer und des Schmerzes – gerade auch nachdem er unfreiwillig erfährt, was andere wirklich von ihm denken – verfällt er nicht in Schwermut. Ripple findet sich ab, fügt sich und führt mit leiser Melancholie sein stilles, zufriedenes Leben als Beobachter und Chronist weiter, an dessen Ende er feststellt: „Alles ist jetzt gut“.

„It’s All Right Now“ heißt auch der englische Originaltitel des Werks, in das der Autor Charles Chadwick tatsächlich mehr als dreißig Jahre akribische Arbeit gesteckt hat. Bis auf wenige Gedichte hatte er bis zum Erscheinen des Romans 2005 nichts veröffentlicht. Vielmehr arbeitete er bis 1992 im Dienst des British Council, was ihn in verschiedene afrikanische Staaten, nach Südamerika, Kanada und Polen führte. Währenddessen arbeitete er – ebenso unauffällig und konsequent wie sein Protagonist – unermüdlich an seinem Roman, der trotz seines voluminösen Umfangs nie langweilig wird. Vielmehr besticht er durch eine präzise Sprache, spröden Witz und eine empathische Beobachtungsgabe für das Leben jenseits des großen Weltgeschehens, wie sie nur wenigen herausragenden Autoren zu eigen ist.

Titelbild

Charles Chadwick: Ein unauffälliger Mann.
Übersetzt aus dem Englischen von Klaus Berr.
Luchterhand Literaturverlag, München 2007.
926 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783630872117

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch